Über die Kritik und ihr Publikum

Die Aufregung war zurecht groß, als kürzlich der Hannoveraner Ballettdirektor Marco Goecke die Ballettkritikerin der Frankfurter Allgemeine mit Hundekot körperlich attackierte. Eindeutig handelte es sich bei dieser Attacke um eine schwere Verletzung seiner gegenüber dem Staatstheater Hannover bestehenden Verpflichtungen. An der Auflösung des Arbeitsvertrags, ob einvernehmlich oder durch außerordentliche Kündigung mag dahinstehen, führte kein Weg vorbei. Daran ändert keine der Kritiken etwas, die Goecke in der FAZ über seine Arbeit hat lesen müssen. Sie sind, wie immer sie formuliert wurden, als Entschuldigung der Tat ungeeignet. Nun aber der Staatsoper Hannover vorzuwerfen, man versuche mit der Kritik an der Theaterkritik eine Rechtfertigung für Goeckes Attacke aus dem Hut zu zaubern, ist abwegig. Da greift die öffentliche Debatte doch etwas kurz.

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Es trifft zweifelsohne zu, dass, wie es in den letzten Tagen nachzulesen war, alle, die sich in die Öffentlichkeit begeben, Kritik an ihrer Arbeit und an ihrem Handeln hinnehmen müssen. Die Pressefreiheit steht nicht auf dem Prüfstand. Sie ist wie die Freiheit der Kunst ein in unserer Verfassung geschütztes Rechtsgut. Künstlerinnen und Journalisten dürfen in den Grenzen der Rechtsordnung bei Ausübung ihrer Profession alles tun und schreiben, was ihnen beliebt. Aber auch die Autoren und Kommentatorinnen von Presse und Rundfunk begeben sich in die Öffentlichkeit und müssen selbstverständlich mit der Kritik an ihrer Arbeit leben. Sakrosankt ist da niemand. Und deshalb müssen sich die Damen und Herren Journalisten schon die eine oder andere Bemerkung gefallen lassen, ohne dass das gleich unter den Generalverdacht unlauterer Absichten (etwa der Rechtfertigung Goeckes) gestellt wird.

Der Kampf um die Meinungshoheit

Es ist nämlich im öffentlichen Diskurs eine zunehmende, oft kaum noch zu ertragende Einseitigkeit oder gar Zuspitzung zu registrieren. Viel zu oft wird zudem die saubere Trennung zwischen Berichterstattung und Kommentierung verlassen. Die Theaterkritik muss man für diese Feststellungen gar nicht erst bemühen, zumal es dort schon immer etwas heftiger zugegangen ist. Es reicht ein Blick in den alltäglichen Kampf um die Meinungshoheit in Presse und Rundfunk, sei es zur Corona-Pandemie, zur documenta oder zur Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine. So wurde tagelang behauptet, der Bundeskanzler sei in der Europäischen Union angesichts seiner besonnenen Zurückhaltung beim Thema Panzerlieferung „völlig isoliert“, obwohl nur wenige Nato-Länder zu einer solchen Lieferung bereit waren. Nun, nachdem seine Entscheidung pro Leopard gefallen ist, wird erkennbar, dass die Neigung oder auch nur Möglichkeit zur Lieferung von schwerem Gerät innerhalb Europas tatsächlich sehr begrenzt, wenn überhaupt vorhanden ist. Doch ist von denen, die in dieser Angelegenheit die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben, eine späte Einsicht zu hören? Keineswegs! Vielmehr wird dem Kanzler plötzlich vorgeworfen, er habe seine Leopard-Entscheidung nicht ausreichend mit seinen Nato-Partnern abgestimmt. Mit sachlicher Berichterstattung hat das alles wenig zu tun.

Das Gute am Verriss

Dagegen ist eine FAZ-Kritik an einem Goecke-Abend harmlos. Angesichts der dort nachzulesenden verallgemeinernden Feststellung, das Publikum werde bei seinem neuen Ballettabend mit dem Nederlands Dans Theater in Den Haag „abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht“ hätte den Leser oder die Leserin natürlich interessiert, wie das irre oder tote Publikum nun am Ende der Veranstaltung reagiert hat. Mit müdem Beifall oder enthusiastischer Begeisterung?  Nichts dergleichen wird berichtet. Ist ja offenkundig nicht wichtig, um die Zuschauer scheint es nicht zu gehen, sondern nur um die verallgemeinernde Übertragung des eigenen Eindrucks der Rezensentin auf den ganzen Saal. Solche Übertreibungen werden offenkundig für angemessen gehalten im deutschen Großfeuilleton. Macht nichts! Denn der einzige echte Reflex, den sie zumindest bei mir und vielleicht nicht nur bei mir auslösen, ist der dringende Anreiz, sich die Sache anzusehen, frei nach dem Motto: Ist es wirklich so schlimm? So habe ich, als seinerzeit Reich-Ranicki den Grass Roman „Ein weites Feld“ im Spiegel auseinandernahm, das Buch sofort gekauft, gelesen und als äußerst lesenswert empfunden. Es gab Zeiten, da war es im Schauspiel ein Qualitätsbeweis, im Feuilleton der FAZ verrissen worden zu sein. Für Selbstmitleid der Kulturbranche, gar Larmoyanz wegen irgendwelcher Verrisse besteht also kein Anlass, auch wenn man manches an Veröffentlichungen zuweilen verletzend findet; man kann ja heute leicht widersprechen, wenn es unbedingt notwendig ist. Es haben deshalb alle die recht, die betonen, dass ein Verriss immer noch besser ist als gar keine Presse, weil er zumindest Aufmerksamkeit erzeugt. Und man darf hinzufügen: Eine sachlich argumentativ die mal nicht gelungene Theaterproduktion negativ beschreibende Darstellung in der Zeitung zu lesen, ist ein viel größeres Problem. Denn sie wird vom Publikum respektiert und führt tatsächlich zu der Entscheidung, nicht hinzugehen.

Doch eines müssen sich alle Rezensenten und Berichterstatterinnen, Kommentatorinnen und Meinungsmacher in Presse und Rundfunk klar machen: Weder das Theaterpublikum noch die Radiohörer und Fernsehzuschauerinnen, noch die Leserschaft von Zeitungen haben ein Brett vor dem Kopf. Früher oder später wird schon deutlich, wer in seinem veröffentlichten Urteil eher neben der Sache liegt, vor allem im Bereich der Kultur, wo sich große Teile des Publikums ziemlich gut auskennen. Auch die schreibende und sendende Zunft hat also einen Ruf zu verlieren. Wer ständig Ansichten von sich gibt, die von mehr oder weniger aufmerksamen und aufgeklärten Zeitgenossen nicht geteilt werden, wird langfristig nicht mehr ernst genommen. Ob das dauerhaft der Auflage oder der Zuschauerquote dient, darf einmal mehr infrage gestellt werden.

Über die Medien muss es eine Debatte geben

So bleibt am Schluss die Frage, warum Tag für Tag in den hergebrachten Medien so viel zu lesen, zu hören und zu sehen ist, an dem Zweifel und Kritik angebracht sind. Ist es der Druck der Auflage oder der Quote? Ist es die Konkurrenz zu den sozialen Medien? Oder haben die immer größer werdenden Zentrifugalkräfte in dieser Gesellschaft mittlerweile Teile des Journalismus derart erreicht, dass er nur noch im Für und Wider denken kann? Vielleicht geht es nur schlicht um Machtansprüche der veröffentlichten Meinung, das übliche Rauf- und Runterschreiben? Oder droht dem Feuilleton bei mangelnder Zuspitzung tatsächlich die Abschaffung? Das wäre ungeheuerlich! Wie dem auch sei, über den Umgang der Medien mit der Welt darf es, muss es im Sinne der Demokratie eine Debatte geben. Wenn die Medien versuchen sollten, sie zu unterdrücken, schaden sie sich langfristig selbst. Da ginge es ihnen nicht anders als Theatern, falls sie den Diskurs über ihre Arbeit nicht auszuhalten vermögen oder nur noch Affirmatives über sich lesen wollen. Dass das der Fall ist, ist deshalb eher auszuschließen.

Das Bundesarbeitsgericht verpflichtet auch die Kulturbetrieb zur Arbeitszeiterfassung, einfach ist das nicht

Am 13. September des vergangenen Jahres hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) unter dem Aktenzeichen – 1 ABR 22/21 – ein bemerkenswertes Urteil zur Arbeitszeit verkündet. Es geht in dem Beschluss um die Frage, ob die Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu erfassen, gegebenenfalls durch Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung, also einer Stechuhr. Die Antwort des BAG darauf lautet: Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ja, zur Stechuhr nein. Es genüge eine Aufzeichnung in Papierform, die der Arbeitgeber gegebenenfalls sogar an die Arbeitnehmer delegieren kann. Diese müssen Ihre Aufzeichnungen dann dem Arbeitsgeber zuleiten, damit er diese in welcher Form auch immer abschließend erfassen kann, auch wenn dies nur durch Aktenablage der schriftlichen Mitteilung geschieht. So weit, so gut. Doch eines lässt das Urteil offen: Was ist oder zählt denn zur Arbeitszeit? Leicht ist das nicht zu beantworten, schon gar nicht in so komplizierten Kultureinrichtungen wie Theatern und Orchestern.

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Das Homeoffice und die Arbeitszeiterfassung

In vielen Betrieben war die Arbeitszeit früher schlicht an die Präsenz des Arbeitnehmers oder der Mitarbeiterin im Betrieb des Arbeitgebers gebunden. Nichts machte das deutlicher als die Stechuhr. Zwar gab es schon immer einige Probleme, etwa die arbeitszeitrechtliche Berechnung von Bereitschaftsdienst im Betrieb, oder die Frage, was zur Arbeitszeit hinzugehörte: Der Weg vom Werkstor zum Arbeitsplatz eher nein, das vom Arbeitgeber vorgeschriebene Anlegen der seinerseits vorgegebenen Betriebskleidung am Arbeitsplatz in der Regel ja, sofern ein Tarifvertrag es nicht anders regelt. Arbeitsunterbrechungen wie der Kaffee mit kurzem Tratsch in der Büroküche unter 15 Minuten gelten als Arbeitszeit, Pausen von 15 Minuten und mehr nicht. Also war der Umgang mit der Arbeitszeit vergleichsweise leicht.

Das alles wurde schon durch die Tendenz zum Homeoffice reichlich durcheinandergewirbelt. Die Stechuhr hat jedenfalls im Bürosektor damit ausgedient. Ohne detaillierte Selbstaufzeichnung (inkl. Pausen) seitens der Arbeitnehmer geht fast nichts mehr. In der Regel wird der Arbeitstag im Homeoffice wie ein normaler Arbeitstag berechnet, zum Beispiel bei einer Fünf-Tage-Arbeitswoche und 40 Stunden Wochenarbeitszeit mit acht Stunden. Zu Überstunden im Homeoffice sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nur berechtigt, wenn diese vom Arbeitgeber angeordnet waren. Weniger arbeiten geht auch nicht; ergibt sich dennoch ein Minus bei der Arbeitszeit aus der Homeoffice-Aufzeichnung des Arbeitnehmers, muss nachgearbeitet werden. Und Nachtarbeit? Ist ohne Zustimmung des Arbeitgebers im Homeoffice ohnehin nicht erlaubt, da ansonsten die Nachtruhezeiten völlig unkontrollierbar würden und außerdem noch Zeitzuschläge anfielen.

Wie es in der Kunst geregelt ist und was tatsächlich passiert

Doch die Theater und Orchester sind in vielerlei Hinsicht eine andere Welt, auch mit Blick auf die Arbeitszeit vor allem von künstlerisch Beschäftigten. Für Einzeldarsteller wie Schauspielrinnen oder Sängersolisten legt der einschlägige Tarifvertrag, der Normalvertrag (NV) Bühne, nur Ruhezeiten fest, in der Regel elf Stunden in der Nacht und vier Stunden vor Vorstellungen. Erstmalig wurde 2022 für diesen Personenkreis mit 44 Stunden eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit tarifvertraglich im NV Bühne beziffert, allerdings nicht verbindlich, sondern nur als Berechnungsgrundlage für die  monatliche Mindestgage von zurzeit 2.715 Euro brutto. Vor allem für Chor, Tanzensemble und Orchester werden außerdem die Länge von Proben vorgegeben, wobei im Orchester pro Vorstellung und Probe, von einigen Ausnahmen abgesehen, ein Dienst gerechnet wird. 183 Dienste muss ein Musiker oder eine Musikerin in einem 24 Wochen-Zeitraum leisten, natürlich können noch zusätzliche Arbeiten ohne Dienstezählung angeordnet werden, soweit der Tarifvertrag für Musiker in Konzert- und Theaterorchestern (TVK) das nicht ausdrücklich ausschließt. Für die anderen künstlerischen Berufe, etwa die Dramaturginnen und Inspizienten, gilt nur die Nachtruhezeit von 11 Stunden und wie für alle anderen selbstverständlich die durch das Arbeitszeitgesetz verfügte zeitliche Begrenzung von in der Regel acht (höchstens zehn) Stunden am Tag sowie der wöchentlichen Arbeitszeit auf durchschnittlich 48 Stunden pro Woche. Auch künstlerisch Beschäftigte haben darüber hinaus einen Tag pro Woche frei. Was das alles hinsichtlich des Umfangs der Arbeitszeit für den einzelnen Arbeitnehmer, die einzelne Arbeitnehmerin heißt, lässt sich zwar genau erfassen. Das geschieht aber in vielen Theater- und Orchester-Betrieben, mit Blick auf die Freiheit des künstlerischen Schaffens, noch nicht. Schon insofern stellt das oben genannte Urteil die Theater und Orchester vor einige Herausforderungen.

Doch das Proben und das Aufführen im Betrieb ist nicht alles. Musiker üben zu Hause, sie beschäftigen sich mit den aufzuführenden Werken, Schauspielerinnen lernen Texte, Sängerinnen ihre Rolle. Dramaturgen lesen, ohne dazu besonders vom Theater aufgefordert zu sein, Stücke, beschäftigen sich mit gesellschaftlichen und politischen Fragen. Regieassistenten oder Dramaturginnen bleiben mit dem Regisseur und den Darstellern nach der Probe in der Kantine und bereden den Stand der Dinge, auch wenn sie die Theaterleitung dazu gar nicht aufgefordert hat. Tänzerinnen und Tänzer tun jenseits ihres Trainings alles, um beweglich und bei Kondition zu bleiben und befassen sich auf unterschiedliche Weise mit tänzerischen Ausdrucksformen.

Das Dilemma

Mit diesem tatsächlichen Befund entsteht das Dilemma der vom Bundesarbeitsgericht verordneten Arbeitszeiterfassung. Darin unterscheidet sich die künstlerische Beschäftigung im Theater oder Orchester nicht von vielen anderen kreativen Berufen. Journalisten oder Redakteurinnen, politische Mitarbeiter von Gewerkschaften oder politischen Parteien etwa lesen morgens beim Frühstück schon die Zeitung oder sehen am Abend die Fernsehnachrichten, um auf das Tagesgeschäft vorbereitet zu sein. Juristen und Ärzte studieren zu Hause Fachzeitschriften. Manches in der Freizeit gelesene Buch dient eher der notwendigen Vorbildung für den Beruf als dem persönlichen Interesse. Oft aber vermischt sich das. Wissenschaftlich Tätige wollen und müssen in ihrem Fach immer auf der Höhe der Zeit sein, ohne dass sie das, was sie dazu lesen oder untersuchen, grundsätzlich nur in ihrer eigentlichen Arbeitszeit erledigen.

Bisher war das alles ein wenig egal, man kümmerte sich in der Regel um solche beruflichen Begleittätigkeiten, die in der Freizeit stattfanden, eher nicht. Die Arbeitgeber lehnten es ab, diese Tätigkeiten tarifvertraglich oder in einem Arbeitsvertrag der Arbeitszeit hinzuzurechnen. Nun aber ist das anders. Wird der Arbeitnehmer verpflichtet, selbst aufzuzeichnen, was für ihn Arbeitszeit ist und was nicht, kommt er nicht umhin, diesbezüglich vor allem bei häuslichen Tätigkeiten eine Abgrenzung vorzunehmen.

Und im Theater? Da gibt es, anders als im Orchester im Übrigen, hinsichtlich der gesetzlich zulässigen, wöchentlichen durchschnittlichen Arbeitszeit von 48 Stunden in manchen Berufen oder bei manchen Spielplänen das Problem, dass diese im Betrieb für einige Mitarbeiter schon überschritten wird. Da ist überhaupt kein Spielraum mehr für irgendwelche der Arbeitszeit hinzuzurechnenden häuslichen Tätigkeiten, wie etwa die inhaltliche Vorbereitung auf den bevorstehenden Probentag. Wenn diese dann dennoch stattfinden und Teil der Arbeitszeit sind, dann wird dadurch die gesetzlich zulässige Arbeitszeit überschritten und man befindet sich zumindest juristisch gesehen im Niemandsland oder besser gesagt jenseits des Zulässigen.

Lösung in Sicht?

Angesichts des neuen BAG-Urteils kommt man also nicht umhin, zu definieren, was der Arbeitszeit zumindest nicht hinzuzurechnen ist. Es handelt sich dabei um die Tätigkeiten, die erforderlich sind, um die beruflichen Fähigkeiten zu erhalten und weiter zu entwickeln und um die konkret arbeitsvertraglich vereinbarten Aufgaben überhaupt erledigen zu können. Die Abgrenzung ist im Einzelfall schwierig. Orientierungspunkt mag das sein, was regelmäßig erforderlich ist, um überhaupt an der jeweiligen beruflichen Ausbildung teilnehmen zu können. Das ist z.B. für den Dramaturgen das Lesen von Stücken und Literatur im Allgemeinen, für die Journalistin das Lesen von Zeitungen, für den Juristen die Beobachtung der rechtlichen Entwicklung in Judikative und Legislative, für den Dirigenten das Studium von Partituren, für die Musiker und Musikerinnen das Üben des Instruments und für die Sängerin oder den Schauspieler das Studium einzelner Rollen. Das alles ist in der Regel keine Arbeitszeit, sondern so etwas wie Ertüchtigung der eigenen Leistungsfähigkeit.

Natürlich ist es dem Arbeitgeber unbenommen, von vorneherein die Arbeitszeit mit Rücksicht auf die häusliche Vorbereitung zu reduzieren (wie etwa bei den Orchestermusikern im TVK). Man kann auch vertraglich oder tarifvertraglich (wie mit dem tariflich vorgesehenen Training im Tanz) pauschal ein begrenztes Kontingent solcher Vorbereitungszeit in das Gesamtbudget der Arbeitszeit einbeziehen. Hier werden sich die Tarifparteien noch ein paar Gedanken machen müssen. Alles was an diesen Tätigkeiten jenseits des vereinbarten Kontingents liegt, gehört dann nicht mehr zur Arbeitszeit und muss auch nicht als solche vom Arbeitnehmer aufgezeichnet werden. Und natürlich bleibt dem Arbeitnehmer, der Arbeitnehmerin immer die Möglichkeit, bestimmte Tätigkeiten einfach nicht als Arbeitszeit aufzufassen und aufzuschreiben. Die Freiheit dazu muss bleiben, nicht nur in der Kunst. Unabhängig davon sollte sich die Arbeitsgerichtsbarkeit jedoch einmal fragen, wie detailliert sie in die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen weiter eingreifen will. Bürokratieabbau sieht anders aus. Und ganz ohne Absurdität ist das, was jetzt an arbeitszeitrechtlichem Aufzeichnungsaufwand, zumindest im Theater, notwendig ist, auch nicht.

Was zu beachten wäre. Ein Beitrag zur Reform von ARD und ZDF

Tom Buhrow hat kürzlich eine Rede gehalten. Darin ging es um die Reform von ARD und ZDF. Er sprach zwar nicht als WDR-Intendant und zurzeit amtierender ARD-Vorsitzender, wie er ausdrücklich betonte. So einfach ist es leider nicht. Man kann ja Ämter, die einem übertragen werden, nicht nach Bedarf einfach an- und ablegen wie einen Jägerhut. Oder sich mit einem Amt ausgestattet die Tarnkappe des Privaten überziehen, um bei öffentlicher Rede nicht aufzufallen. Nein, ein Intendant ist ein Intendant. Umso ernster muss man die Worte Buhrows und das, was er als Reformbedarf ausmachte, nehmen. Das gilt umso mehr, als es ziemlich wenig mit dem zu tun hat, was dem aufmerksamen Zuschauer im täglichen Umgang mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auffällt, um nicht zu sagen aufstößt.

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ARD und ZDF zusammenlegen? Orchester, Chöre und Hörfunkwellen abschaffen?

Es war zum einen die Rede von einer Zusammenlegung der beiden großen Systeme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das suggeriert, es gebe vielleicht zu viel davon. Selbst wer einen gewissen Überdruss über die tägliche Programmgestaltung von ARD und ZDF verspürt, dem treibt die Vorstellung, zur täglichen Berieselung der privaten Rundfunkveranstalter gebe es nur noch eine einzige Alternative, eher den kalten Schweiß über den Rücken. Auf ein System (welches?) verzichten, ist keine Lösung. Denn es ist nicht zu leugnen: Immer noch tragen ARD und ZDF mit guten Sendungen im Fernsehen zur allgemeinen Bewusstseinsbildung, zur Aufklärung, zur Kultur in diesem Lande Wesentliches bei.

Das gilt natürlich ebenso für die Radioprogramme in ihrer ganzen regionalen Vielfalt und für die von den ARD-Anstalten getragenen Klangkörper. Auch sie sollen laut Buhrow ja auf den Prüfstand. Warum eigentlich? Machen die Orchester oder die Rundfunkchöre schlechte Musik? Keineswegs, sie gehören ausnahmslos zum Besten, was die Republik musikalisch zu bieten hat. Stören sie mit ihrer herausragenden Qualität das Image etwa des WDR? Das behauptet nicht einmal Tom Buhrow. Oder haben die fünf Hörfunkprogramme des WDR keine Zuhörer? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Findet jemand diese Programme dennoch so schlecht, dass sie eigentlich abgeschafft gehören? Da gibt es zwar den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag (z.B. in den Unterhaltungswellen mehr Inhalt, weniger belanglose Plauderei), aber abschaffen? Nein.

Ablenkung von unangenehmen Debatten oder zeigen wie schlimm es wird

Also was treibt den WDR-Intendanten um? Die Antwort ist einfach: Das Geld. Denn alle diese Vorschläge haben nur ein Ziel, das der Kostensenkung. Ob dieses Sparen Sinn macht, spielt keine Rolle. Und warum das Ganze? Weil es in diesem Lande Kräfte gibt, die sich tagtäglich an der Existenz der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten abarbeiten. Teils ist es Konkurrenzdenken, was sie umtreibt, teils Populismus mit Blick auf diejenigen, denen die aufklärerische Attitüde von ARD und ZDF nicht in den Kram passt und die gerne die Rundfunkgebühr als Zwangsgebühr bezeichnen. Solchen fragwürdigen, meist eher rechtslastigen Tendenzen muss niemand nachgeben. Sicher wollte das Tom Buhrow auch gar nicht. Vielleicht wollte er einfach nur ablenken von der unangenehmen Debatte über Massagesitze in Dienstwagen, Ausstattung von Büros oder den Bau millionenschwerer Funkhäuser. Oder es ging ihm darum, aufzuzeigen, wo das von bestimmten politischen Kreisen geforderte konsequente Einsparen endet: In einem erheblichen Verlust von öffentlich-rechtlichen Programm- und Kulturangeboten. Eine solche Absicht wäre wenigstens von gewisser Raffinesse, wenn auch ein Spiel mit dem Feuer.

Die wirklichen Themen?

Deshalb ist es besser, sich einigen tatsächlichen nicht zu leugnenden Problemen zuzuwenden. Das sind nicht, wie in der öffentlichen Debatte gerne behauptet wird, die Intendantengehälter oder die Pensionsregelungen. Die kann man sich zwar mal in Ruhe anschauen und prüfen, was besser zu machen wäre (z.B. Verzicht auf Boni für leitende Mitarbeiter). Die wirklichen Themen liegen im Programmbereich, in dem, was die Zuschauer und Zuhörer jeden Tag wahrnehmen können. Da gibt es einiges zu tun, will man mit der von Ingo Zamperoni allabendlich gewünschten Zuversicht in die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schauen. Die Lage ist komplex. Hier kann es nur um ein paar Fragen und Thesen gehen, die nicht mehr und nicht weniger als ein Anstoß zur weiteren Debatte sein sollen.

Und weiter: Fragen über Fragen

  1. Wieso spielen die Einschaltquoten nach wie vor so eine entscheidende Rolle? Es ist ja klar, keinem durch eine öffentliche Gebühr finanziertes Rundfunkinstitut kann es egal sein, wie viele Menschen etwas hören oder sehen. Dennoch darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk genauso wenig wie jedes öffentlich geförderte Theater oder Museum der vollständigen Nivellierung mancher Programminhalte anheimfallen, nur um möglichst viel Publikum zu erreichen und dann noch die Einschaltquote zum entscheidenden Maßstab des Erfolgs zu machen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat doch einen öffentlichen Auftrag: Bildung, Kultur, Information, ja auch Unterhaltung (bitte nicht unter einem gewissen Niveau). Was in diesem Sinne gut ist, hat oft nicht die beste Quote. Gerade deshalb gibt es die Rundfunkgebühr. Es soll gerade nicht der Markt die Richtschnur sein.
  2. Wie werden die Einschaltquoten überhaupt ermittelt? Klar, das Prinzip (ca. 5.000 Haushalte mit Messgeräten) ist bekannt. Aber wie repräsentativ sind die ausgewählten Personen? Wie sehr beeinflusst es sie, dass sie wissen, dass bei Ihnen die Einschaltquote gemessen wird? Wie oft wird der Personenkreis gewechselt? Sind bestimmte Vorlieben Kriterium für die Auswahl? Was sind überhaupt die Kriterien dafür und sind sie richtig?
  3. Braucht es eigentlich mehrere ganztägige Fernsehkanäle, die weitgehend auch nichts anderes als das Hauptprogramm bieten, teils sogar nur Wiederholungskanäle sind? Wohlgemerkt ich rede nicht von 3sat und Phoenix oder gar Arte. Ich rede vor allem von ZDF neo und ARD one oder tagesschau 24. Muss man nicht erst einmal neu definieren, was man mit dem Hauptprogramm vor allem am Abend will? Oft sehr teuren Fußball bis hin zu zweitrangigen Pokalspielen? Mehrstündige Quizshows? Ein Krimi nach dem anderen? Die ständige Quasselei in Talkshows mit fast immer den gleichen Gesprächspartnern? Talkformate, die vorrangig im Fokus der Werbestrategie von Agenturen stehen, um dort das neuste Buch einer Autorin, den neusten Film eines Regisseurs oder die anstehende Tournee eines Musikers oder einer Sängerin zu bewerben? Ständiges Hin- und Herschieben der Nachrichtensendungen, wie es insbesondere in der ARD mit den Tagesthemen geschieht, bis hin zum vollständigen Ausfall? Überzeugend ist das alles nicht.
  4. Wann wird endlich die Werbung abgeschafft? Nicht, dass ich im Prinzip etwas dagegen habe. Ich kann schon nachvollziehen, dass man das Geld, das mit der Werbung eingenommen wird, gut gebrauchen kann. Aber macht es einen modernen, fortschrittlichen Eindruck, wenn vor der Tagesschau vor allem mit Medikamenten etc. geworben wird? Und ist es ökologisch zeitgemäß, wenn die Werbung im Hörfunk mal wieder das Billigfleisch im Discounter anpreist? Das Image fördert so etwas nicht. Man sollte einfach die Rundfunkgebühr ein wenig erhöhen und die Werbung den Privaten überlassen. Dann lässt deren Kritik an der Rundfunkgebühr vielleicht nach.
  5. Müssen in manchen Radioprogrammen (wohlgemerkt nicht in den Kulturwellen) dauernd die gleichen Musiktitel gespielt werden? Das nur, um die Klangfarbe im Sinne der Erkennbarkeit sicherzustellen? Manchmal beschleicht Hörerinnen und Hörer der Eindruck, die eine oder andere Größe der Popmusik habe nur einen einzigen erfolgreichen Song kreiert. Merkt das niemand? Ist das egal? Oder unterliegt man bei der Gestaltung der Musikfarbe ebenfalls zu sehr dem Einfluss der Werbestrategie von Musikverlagen und Künstler-Agenten?
  6. Wieso fällt trotz all dieser Fragen manchem Intendanten vor allem ein, dass in der Kultur gespart werden muss? Neulich war wieder zu lesen, dass der Intendant des SWR der Auffassung sei, die einzelnen ARD-Anstalten würden sich in Zukunft kaum noch eine ganztägige Kulturwelle leisten können? Was kostet sie denn im Vergleich zu allem anderen? Wie sind solche Überlegungen mit dem Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (s.o.) zu vereinbaren? Wieso steht die Kultur bei den Intendanten und Intendantinnen immer ganz unten auf der Prioritätenliste? Solche Fragen werden einfach vorsichtshalber gar nicht erst beantwortet.
  7. Natürlich kann man überlegen, ob es der Föderalismus wirklich erfordert, dass wir mehrere ARD-Anstalten haben. In Großbritannien gibt es nur die eine BBC. Aber sollten wir nicht besser den Rundfunk-Föderalismus als ein hohes Gut verteidigen? Er stellt eine große, auch politische Vielfalt sicher. Er ist eine Art Bollwerk gegen den Zentralstaat, der zurecht nach den historischen Erfahrungen hierzulande stets von Skepsis begleitet wird. Alles, was in Berlin beim Bund geschieht, wird durch die regional angebundenen ARD-Anstalten unter dem Blickwinkel der unterschiedlichen Länder gespiegelt. Zudem sind die Anstalten Teil der Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Region, tragen in einer globalisierten Welt zu ihrem Heimatgefühl wesentlich bei. Man will doch als Bayer wissen, was so in Bayern los ist und interessiert sich nicht für Wuppertal, allenfalls wenn schon für das dortige immer noch weltberühmte Tanztheater oder die Schwebebahn. Und im Übrigen gibt es ja ohnehin für die bundesweite Hörfunkversorgung den unverzichtbaren Deutschlandfunk, vom ZDF beim Fernsehen mal ganz zu schweigen.

Am Schluss

Es könnte noch munter so weiter gehen, vielleicht aber ist das vorerst Gesprächsstoff genug. Um der Kritik vorzubeugen: Ja ich weiß, auch das hier ist ein selektiver Blick. Vielleicht reicht er jedoch ein wenig über die bisherige Debatte hinaus. Eines ist er jedenfalls nicht: Lobbyismus, den leider Tom Buhrow in seiner Rede allen, die sich für bestimmte Ziele einsetzen, leichtfertig unterstellt hat. Wer mehr Kultur, mehr sachliche Information, ein höheres Unterhaltungsniveau im öffentlich-rechtlichen Rundfunk fordert, ist nicht frei von lobbyistischen Interessen. Wer ist das schon? Aber er oder sie scheren sich vor allem um das gesellschaftliche Klima in diesem Lande, um die Debatten-Kultur und um das Bildungs- und Erkenntnisinteresse der Menschen. Und da können und müssen ARD und ZDF ihren spezifischen Beitrag leisten. Tun sie das nicht oder nicht ausreichend, riskieren sie ihre Existenzberechtigung. Das kann niemand wollen, der sich über die Zukunft hierzulande ein paar ernste Gedanken macht.

„Die Humanisierung der Organisation“ und was sie für Kultureinrichtungen bedeutet – eine Buchbesprechung

Es ließ die Kulturszene schon aufhorchen, als der Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, Peter Laudenbach, zusammen mit dem Wirtschaftsethiker Kai Matthiesen und der Soziologin Judith Muster ein Buch mit dem Titel „Die Humanisierung der Organisation“ vorlegte. Denn kaum ein Titel hätte sich besser einfügen können in die allgemeine vor allem in Theatern und Orchestern geführte Debatte über Machtmissbrauch und Machtkontrolle, geht es doch in dieser Debatte vor allem um den Schutz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor der sooft bemühten (eher eingeschränkten) Alleinherrschaft (einzelner) egomaner Intendanten und Intendantinnen. Bei genauem Hinsehen mögen jedoch manchem schon Zweifel am Nutzen des Buches gekommen sein, wenn es im Untertitel heißt: „Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert“. Das liegt so gar nicht auf der Linie interner, oft sehr emotional geführten Auseinandersetzungen über die Struktur eines Kulturbetriebs. Umso mehr drängt es den interessierten Kulturbeobachter zu erfahren, was hinter der 250 Seiten starken Publikation steckt.

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Wer wissen will, was das Anliegen dieses Buches ist, liest am besten sein letztes Kapitel „(Kein)Ende“ (S. 245 ff). Es gehe nicht darum, so heißt es dort, dass die Organisation „in ihren Programmen und Strukturen auf die Menschen und ihre Bedürfnisse Rücksicht“ nehme. Humanisierung wird hier nicht „als Kompromiss zwischen Erfordernissen der Organisation und den … von außen an sie herangetragenen Wünschen nach Beachtung der Menschenwürde“ gesehen. Vielmehr liege die Humanisierung allein im „Effekt guten, über sich selbst aufgeklärten Organisierens“ (S. 248). Im übertragenen Sinne heißt das, je besser der Betrieb organisiert ist, umso mehr ist ein humaner Umgang des Betriebes mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sichergestellt.

Das ist eine kühne These, vor allem mit Blick auf einen Betrieb, der wie etwa das Theater von der Phantasie und den künstlerischen Impulsen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebt, der zuweilen gerade aus einem gewissen Maß an Unorganisiertheit, aus seiner Spontanität und seinem Improvisationsgeist seine Inspiration erfährt. Und doch muss man sich schon dieser These stellen, um zu erfahren, was in einem Kulturbetrieb tatsächlich besser zu machen ist, um eben die Gefahr der oft beklagten Übergriffigkeit des Betriebes und einzelner Leitungspersonen einzudämmen.

Die Organisation und ihre Mitglieder

Laudenbach, Matthiesen und Muster gehen von der Annahme aus, der ganze Mensch gehe die Organisation, in der sie arbeiten, nichts an. Der Zugriff auf die ganze Person habe im normalen Arbeitsleben nichts verloren (S. 13). Insoweit sei die Annahme, „Kern und Kernproblem einer Organisation seien die Menschen, die in ihr arbeiten“ (S. 10) grundsätzlich falsch. Sie mache Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anfällig für die Personalisierung von Organisationsproblemen und anderen Grenzüberschreitungen“ (S. 10). „Statt den Menschen für den Quell allen Organisationsübels zu halten und entsprechend zu bearbeiten“, plädiere man für die „Konzentration auf die Organisation und ihre Struktur“ (S. 15). Man müsse zwischen Menschen und Organisationsmitgliedern unterscheiden (S. 28). „Management-Methoden, die darauf zielen, die Barrieren zwischen Mensch und Organisation einzureißen,“ seien „nichts anderes als Anleitungen zur Übergriffigkeit“ (S. 30). In Organisationen wie den Unternehmen der Kreativwirtschaft, lerne man schnell, die eingeforderte Authentizität zu simulieren und die entsprechende Selbstdarstellungs-Performance zu zeigen“ (S. 32). Man könne „das als Unehrlichkeit beklagen, aber die Selbstdarstellungs-Performance“ antworte „lediglich klug auf die Verhaltenszumutung der Organisation“ (S. 32/33).

Das, so muss man entgegenhalten, ist von der Realität eines Kulturbetriebes deutlich entfernt. Das Selbstverständnis der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen etwa eines Theaters ist vielfach eine starke Identifikation mit den Zielen des Betriebes. Das ist sogar bei vielen Menschen der Grund für die Entscheidung, in einem künstlerischen Betrieb zu arbeiten. Vor allem Künstlerinnen und Künstler erwarten in einem Kulturbetrieb ein geringeres Maß an Entfremdung als in anderen Arbeitszusammenhängen. Ob sie damit immer richtig liegen, darf zwar bezweifelt werden. Doch praktisch zu postulieren, die Identifikation mit der Arbeit, das Herzblut und das Brennen für seine Tätigkeit herunterzufahren in die Rolle des Organisationsmitglieds mit „Selbstdarstellungs-Performance“ erscheint vielleicht ein wenig weltfremd, zumindest – im Interesse aller Beteiligten – vielleicht nicht unbedingt wünschenswert. Das gilt für den gesamten Berufsalltag, nicht nur in der Kreativwirtschaft. Will man in dieser Distanzhaltung zu seiner Arbeit wirklich sein ganzes Berufsleben überstehen? Und sucht man nicht nach Kooperationsbereitschaft, Solidarität und menschlichem Umgang im Büro, in der Werkstatt oder wo auch immer? 

Organisationsmängel und Personalisierung

Zurecht hingegen, wenden sich die Autorin und Autoren des Buches jedoch gegen die Personalisierung der Organisationsmängel (S. 35 ff). Es kann in der Tat nicht darum gehen, „Persönlichkeiten umzubauen, um Organisationsdefizite zu kompensieren“ (S. 40). Insofern ist es richtig, Coachings nicht zu überschätzen, ja sie sogar „als Machtinstrument“ zu sehen, das gezielt „sei es zur Belohnung, sei es als Sanktionsmaßnahme“, ja sogar als „Demütigungs-Ritual“ (S. 42) eingesetzt werde. 

Was dabei bis zu einem gewissen Grad ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass die Organisationsmitglieder eben Menschen mit ihren Stärken und Schwächen sind. Gelegentlich wird das eingeräumt, wenn auch, mit Verlaub, ein wenig im Schwarz-Weiß-Muster. So heißt es über die Vorgesetzten auf S. 64: „Der Grund für Verhaltensauffälligkeiten muss nicht zwangsläufig bei den jeweiligen Persönlichkeiten liegen. Ausnahmen sind Exzentriker und Irrläufer in Machtpositionen.“ Und auf S. 107/108: „Müssen Vorgesetzte ständig ihre Autorität und Verfügungsgewalt über die Untergebenen betonen, signalisiert das eine problematische Struktur (oder einen problematischen Charakter der oder des Vorgesetzten).“ Dass es unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, gerade im Theaterbetrieb, Exzentriker und Irrläufer gibt oder solche mit einem problematischen Charakter, scheint aus Sicht der Autorin und Autoren eher unwahrscheinlich zu sein und ist im Zweifelsfall offenkundig durch organisatorische Maßnahmen auszugleichen. Ganz so einfach dürfte es wohl nicht sein und die Verfasser des Buches wissen das. Denn nicht umsonst heißt es im Sinne der Durchsetzung von Organisationsanliegen, um nicht zu sagen Arbeitgeberinteressen auf S. 237: „Die Möglichkeit der Entlassung diszipliniert die Mitglieder.“ Da wird man sicher nicht nur an betriebsbedingte Kündigungen gedacht haben, sondern auch an die vielen Fälle der personenbedingten und vor allem verhaltensbedingten Kündigungen der Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber, vom Nichtverlängerungsrecht im deutschen Stadttheater ganz zu schweigen (https://stadtpunkt-kultur.de/2020/12/wie-sozial-sind-der-befristete-arbeitsvertrag-und-das-nichtverlaengerungsrecht-im-deutschen-theater/).

Die Bedeutung der verbindlichen Regelung

„Weil die gegenseitige Bindung auf Zeit rein funktional ist, sind die formalen Mitgliedschaftsregeln das entscheidende Steuerungsinstrument, mit dem die Organisation ihre Verhaltenserwartungen gegenüber den Mitgliedern definiert. … Jede Organisation schreibt sich ihre eigene Verfassung.“ heißt es auf S. 91/92. Das genau ist der wesentliche Punkt, egal wie das Verhältnis der Organisation zu ihren Mitgliedern nun konkret ausgestaltet sein mag. Denn will man die Machtbefugnisse vor allem von Leitungspersonen einer gewissen Kontrolle unterziehen, bedarf es der genauen Regelung von Befugnissen, Entscheidungsfindung und Kommunikationsverpflichtungen. Statuten wie Satzungen, Geschäftsordnungen  sind dafür die geeigneten Mittel, ebenso Stellenbeschreibungen, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, auf die sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berufen können. Da gibt es in vielen Kulturbetrieben schon noch Nachholbedarf.

Ebenso entscheidend ist jedoch die Feststellung, dass formale Regeln Verhältnisse benötigen, in denen man diese Regeln einhalten kann (S. 104). Die besten Regeln nützen nichts, wenn der Betrieb etwa infolge von Überbeanspruchung oder Personalmangel überfordert ist. „Kluges Organisieren heißt, eine formale Ordnung zu schaffen, in der die richtigen Leute in Führung gehen können, und ihnen die dafür notwendigen Mittel geben“ (S. 188). Oder anders ausgedrückt: „Gegen marode Anlagen und unzumutbare Arbeitsbedingungen hilft kein Handbuch“ (S. 99). Genau an dieser Verfügbarkeit von „Mitteln“, besser Personal hapert es gerade in vielen Kulturbetrieben. Kürzungen von öffentlichen Zuwendungen in den letzten Jahrzehnten haben dazu ihren verhängnisvollen Beitrag geleistet. Erst in letzte Zeit nimmt im politischen Raum das Bewusstsein dafür und die damit gekoppelte Verbesserungsbereitschaft zu. Ob das angesichts der vorhandenen und bevorstehenden wirtschaftlichen Krisen und den daraus folgenden Verknappungen der öffentlichen Haushalte auch in Zukunft so sein wird, bleibt abzuwarten. Angesichts dessen wird sich die Frage nach der Produktionsintensität stellen, die etwa in den deutschen Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen erheblich ausgeweitet wurde. Dies erhöhte die Verteilungskämpfe und die daraus resultierenden Konflikte, „die unteren Ebenen der Hierarchie wurden in den organisierten Nahkampf gezwungen“ (S. 156). Das dauerhaft zu ignorieren, wird nicht helfen, im Zweifel muss die Angebotspallette im Verhältnis zu den verfügbaren Produktionsmitteln auf den Prüfstand. „Satt die aus dem Überangebot neuer Dienste erwachsenden Spannungen zu ignorieren,“ ist „eine Konsolidierung des zu breiten Angebots notwendig“ (S. 157).

Keine unorganisierte Kollektivleitung in Kulturbetrieben

Eine Absage erteilen die Verfasser von „Die Humanisierung der Organisation“, ohne das ernsthaft zu artikulieren, den verbreiteten Traumtänzereien der unorganisierten Kollektivleitung eines Kulturbetriebs nach dem Motto, wir sind und werden uns in allem einig (siehe dazu auch https://stadtpunkt-kultur.de/2022/09/ueber-kollektive-verantwortung-in-kultureinrichtungen/). Als Beispiel dient dem Buch ein von ein paar Freunden ins Leben gerufenes Start-up, aus dem am Ende schließlich im Erfolgsfall ein Unternehmen wird. Die Kennzeichen einer Start-up-Gründergruppe  werden beschrieben mit Begriffen wie „persönliche Nähe“, „diffuse Form der Mitgliedschaft“ sowie „Hierarchiefreiheit“ (S. 67). Das erinnert deutlich an jene oft beschworenen kollektiven Theaterleitungen „mit flachen Hierarchien“, wie es dann gerne heißt. Aber ein Theater ist (wie ein erfolgreiches Start-up-Unternehmen) eine Organisation, die eben doch Hierarchien, konkrete „ Zwecke, personenenunabhängige Verhaltenserwartungen, klar definierte Mitgliedschaftsbedingungen und Kommunikationskanäle“ (S. 67), also Statuten benötigt, soll die Organisation funktionieren (S. 69) und zwar möglichst konfliktfrei. Also bedürfen Formen der kollektiven Theaterleitungen klarer Strukturen. Je größer das Unternehmen nämlich ist, umso drängender werden die „Wünsche nach formalen Zuständigkeiten, geregelten Entscheidungsprozessen, und Kommunikationswegen“ (S. 70).

Auch die zunehmende Neigung, in Betrieben auf ungeregelte Interaktion zu setzen, also alles zu besprechen, wird realistisch als wenig hilfreich eingeschätzt. „Offene Workshop-Formate können zeitaufwendig sein, auch weil sie die ganze Last von Takt, Selbstdarstellungsbedürfnissen und elementaren Verhaltensweisen tragen“ (S. 198). „Für die Organisation … sind die Ergebnisse eines Workshops in ungeordneter Interaktion vor allem eines: unbrauchbar“ (S. 199). Umso wichtiger ist es, wie es etwa im Theatermodell Karlsruhe geschehen ist (https://stadtpunkt-kultur.de/2022/04/das-theatermodell-karlsruhe/), auf klare Gremienbefugnisse zu setzen und den Gremien über Entscheidungsstrukturen (Mehrheit) effektives Arbeiten zu ermöglichen. Denn „die Mitglieder in die bunte Welt der Handlungsfreiheit zu stoßen dient nicht der Humanisierung der Organisation, sondern der Durchsetzung des Zweckprogramms der Organisation zulasten der Personen. Ein gewisses Maß an Routineprogramm … ist notwendig, um der Gier der Organisation und ihrer Zweckprogramme Einhalt zu gebieten“ (S. 165).

Die Gefahr der Überregulierung

Die Autorin und Autoren warnen zugleich vor jeder Form der Überregulierung (S. 111 ff.). Eine vollkommene Absicherung von Entscheidungsprozessen kann zur vollständigen Blockade führen, die Regeleinhaltung wird zum Selbstzweck. Es dürfe nicht zu einer Überbordenden Bürokratisierung mit lähmenden Folgen kommen (S. 116). Compliance-Abteilungen müssten damit umzugehen verstehen, dass es Regelverletzungen gibt, ohne solche Verletzungen benötige ein Unternehmen keine Compliance-Abteilung. Es gebe sogar eine Art „brauchbare Illegalität“, um die Organisation funktionsfähig zu halten (S. 119 ff.). „Im Alltag sind es die Mitglieder der Organisation, die das Regelwerk brauchbar halten – am besten so, dass die Funktionsfähigkeit der Organisation so wenig Schaden nimmt wie die Würde ihrer Mitglieder“ (S. 118). 

Mit diesen Feststellungen sind alle die zur Raison zu rufen, die aus unterschiedlichen Gründen zu einer Durchregulierung der Betriebe neigen. Das sind zum einen die öffentlichen Träger, also die Städte und Länder, die mit überbordenden Vorschriften tief in die Kulturbetriebe hineinregeln (z.B.: https://stadtpunkt-kultur.de/2022/02/vergaberecht-und-kunst-ueber-die-unterschwelle-im-kulturbetrieb/). Das sind zum anderen auch Vertreter des Personals (Personal- und Betriebsräte) bzw. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die glauben, Machtmissbrauch sei am besten dadurch auszuschließen, das alles und nichts geregelt ist. Das aber lähmt den künstlerischen Betrieb. Vielmehr geht es darum, alle Regelungen so auszubalancieren, dass zwischen dem notwendigen künstlerischen Spielraum einerseits und dem sozialen Schutz andererseits ein Ausgleich gefunden wird. Denn „es ist darauf zu achten, dass Motivation nicht durch Missbrauch ausgelaugt wird“ (S. 49).

Fazit

Es zeigt sich, dass „Die Humanisierung der Organisation“ durchaus Ansätze liefert, die für die augenblickliche Diskussion über die Strukturen von Kulturbetrieben nutzbar gemacht werden können. Problematisch ist jedoch vor allem für Betriebe, die stark auf die Motivation, das Engagement und die Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen sind, die Trennung zwischen dem Menschen als Ganzes und seiner Rolle als Organisationsmitglied. Leider wurde das Kapitel  über die Organisation des Theaters (S. 201 ff.) nicht dazu genutzt, die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Wirtschaftsleben auf Kulturbetriebe zu prüfen. Vielmehr wird über das Verhältnis zwischen der Rolle von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in jeglichem Betrieb einerseits zur Bühnenrolle von darstellenden Künstlerinnen und Künstler andererseits – durchaus interessant – räsoniert. Der auch daraus abgeleitete, im ganzen Buch verwendete Begriff des „Theaters der Organisation“ überzeugt allerdings kaum, ist mindestens zu überspitzt. Denn es bleibt aus meiner Sicht ein Umstand, der nicht zu unterschätzen ist: Der Beruf ist mehr als das professionelle Spielen einer Rolle. 

(siehe zum gleichen Thema: https://stadtpunkt-kultur.de/2020/02/soziale-kompetenz-statt-neuer-theater-strukturdebatte/ sowie https://stadtpunkt-kultur.de/2020/07/ueber-die-macht-im-theater-und-anderswo/)

Musik im Schauspiel, im modernen Tanztheater und die Rolle der GEMA

Wer im Schauspiel nur gesprochenen Text erwartet, war lange nicht mehr im Theater. Wurde Musik bei Aufführungen des Sprechtheaters früher vor allem zur Überbrückung zuweilen auch langwieriger Umbaupausen eingesetzt, muss das Publikum heute zunehmend damit rechnen, dass ihm Klangwelten auf sehr unterschiedliche Weise entgegentreten. Das macht zuweilen Sinn, zuweilen auch nicht. Hat sich der Regisseur oder die Produzentin eines Schauspielabends in den Kopf gesetzt, dass es ohne Musik, warum auch immer, nicht geht, tauchen jedenfalls am juristischen Horizont ein paar Fragen auf, die neulich wieder einmal den Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigt haben. Und dabei sind einige Feststellungen getroffen worden, die von großem Interesse sind (Urteil vom 7. April 2022 – I ZR 107/21 -). Anhand dieser soll hier ein vereinfachter aber pragmatischer Versuch unternommen werden, den Theatern den juristischen Umgang mit Musik im Schauspiel (und im zeitgenössischen Tanztheater) etwas zu erleichtern.

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Großes und Kleines Recht

Ausgangspunkt der Entscheidung des BGH war eine mit dem Staatsschauspiel Dresden koproduzierte Aufführung des Schauspielhauses Düsseldorf („Der Idiot“). Für die war eigens Musik komponiert worden. In dem zwischen dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Komponisten des Werks geführten Rechtsstreit geht es darum, ob die Rechte an der Musik von der GEMA eingeräumt werden konnten oder nur von ihm, dem Komponisten persönlich. Die GEMA wäre am Zuge, wenn es sich um sogenanntes Kleines Recht, der Komponist, wenn es sich um sogenanntes Großes Recht handeln würde. Vom Großen Recht spricht man im Urheberrecht bei bühnenmäßigen, also durch darstellende Künstlerinnen und Künstler gestaltete  Aufführungen, vom Kleinen Recht bei rein musikalisch, also instrumental oder gesanglich, in Aufführungen dargebotener Musik; für Letzteres ist das beste Beispiel die Darbietung jeglicher Konzertmusik. Beide Begriffe (Kleines und Großes Recht) tauchen jedoch im Urheberrechtsgesetze (UrhG) nicht auf, was den Umgang mit ihnen nicht gerade erleichtert.

Denn so eindeutig, wie sich die juristische Abgrenzung darstellt, ist das praktische Leben im Theater eben nicht. Das gilt vor allem für das stets nach innovativen Formen strebende Schauspiel. Versucht man, die immer neuen künstlerischen Einfälle in das oben beschriebene Schema einzuordnen und bemüht dazu die herrschende Rechtsprechung, dann entpuppt sich als maßgebendes Merkmal der Unterscheidung zwischen Großem und Kleinem Recht die Frage, inwieweit die Musik integrierender (nicht integrierter), organischer Bestandteil des Bühnengeschehens ist. Zwischen Musik und Spielgeschehen muss ein engerer innerer Zusammenhang bestehen, um davon ausgehen zu können, dass es sich bei der Verwendung von Musik um die Nutzung des Großen Rechts handelt. 

Die Abgrenzungskriterien

Wann nun die Musik in einer Schauspielaufführung diese Voraussetzungen erfüllt, lässt sich nur an Hand einiger Abgrenzungskriterien feststellen. Dazu hat das oben genannte BGH-Urteil nun einiges an Klarstellung beigetragen:

  1. Die Tatsache, dass das bewegte Spiel auf der Bühne von Musik begleitet wird, reicht alleine nicht aus, um Großes Recht anzuwenden. Ein enger innerer Zusammenhang zwischen Text und Musik besteht, so der BGH unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung, wenn beispielsweise „einzelne Lieder, die zu einem Spielgeschehen vorgetragen werden, aufgrund ihres Textes aus der jeweiligen Situation der Bühnenhandlung zu begreifen sind und die gesprochenen Dialoge in gesungener Form fortsetzen“. Die Musik, müsse „der Fortsetzung der dramatischen Handlung des Bühnenstücks“ dienen. Das knüpft einerseits an die hergebrachte Form des dramatischen Textes an und ist in neuen, eher performativ ausgerichteten Produktionen kaum verwertbar. Es zeigt aber andererseits, wie hoch die Anforderungen des BGH an die Annahme des Großen Rechtes sind. In der Quintessenz bedeutet das: Je mehr sich eine Aufführung von der typischen dramatischen Form eines Textes entfernt, desto weniger ist die Annahme des Großen Rechts bei der Einspielung begleitender Musik wahrscheinlich.
  2. Ebenso ist es kein Kriterium für das Große Recht, dass die Musik ausschließlich für die Inszenierung des Bühnenstücks geschrieben worden ist. Das gilt selbst dann, wenn die komponierte Musik auf die spezielle Inszenierung abgestimmt wurde. Solange sie Untermalung des Spielgeschehens bleibe, komme das Kleine Recht zur Anwendung. Gibt die Musik also bestimmte auf der Bühne dargestellte Stimmungen wieder, unterstützt diese oder trägt sogar wesentlich zu ihrem Entstehen bei, führt das nicht dazu, dass sie Teil des Spielgeschehens wird. Betet also ein Schauspieler auf der Bühne in einer Kathedrale und ergibt sich seine innere Stimmung aus einer dabei laufenden eigens für die Inszenierung komponierte Bühnenkirchenmusik, bleibt es hinsichtlich der Musik bei der Nutzung des Kleinen Rechts. Erst wenn der Schauspieler selbst einen Text zu dieser Musik singt, der auf die Handlung des Stückes Bezug nimmt, kommt der Sprung vom Kleinen ins Große Recht in Betracht.
  3. Der BGH weist last but not least darauf hin, auch die Tatsache, dass die Musik nicht allein, also ohne schauspielerische Darstellung verwendbar sei, könne ebenfalls als Abgrenzungskriterium für die Unterscheidung zwischen Großem und Kleinem Recht nicht herhalten. Denn in beiden Fällen kann diese Verwendbarkeit vorliegen oder nicht. Selbstverständlich ist die „Moritat von Mackie Messer“ („Und der Haifisch…“) eigenständig verwendbar und dennoch als Teil eines Bühnenwerks („Die Dreigroschenoper“) Großes Recht, ein Popsong aber, der zur Begleitung einer Szene eingesetzt wird, bleibt Kleines Recht, solange er eben nicht ernsthaft Teil des Spielgeschehen wird, ist aber ebenfalls eigenständig zu verwenden.

Auch angesichts dieser bemerkenswerten Klarstellungen bleibt die Abgrenzung zwischen Großem und Kleinem Recht schwierig. Dies gilt umso mehr, als der BGH das zulasten des Schauspielhauses Düsseldorf gehende Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) aufgehoben, aber zugleich den Rechtstreit an das OLG zurückverwiesen hat. Dort soll der Einsatz der Bühnenmusik in der Produktion „Der Idiot“ noch einmal unter Beachtung der vom BGH gesetzten Kriterien einer Prüfung unterzogen werden. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein.

Wie immer das ausgehen mag, die Frage bleibt, wie das Theater in Zweifelsfällen am besten vorgeht. Solange nicht sicher ein Fall des Großen Rechts vorliegt, also Kleines Recht in Betracht kommt, sollte die im Schauspiel eingesetzte Musik bei der GEMA angemeldet werden. Wird sie von dort lizensiert, kann aufgeführt werden, solange sich kein Komponist, Textautor oder Verlag mit entgegengesetzten Rechtsstandpunkten meldet. Ohne Risiken ist das natürlich nicht. Wer auf Nummer sicher gehen will, kann nur jeden Einzelfall mit den beteiligten Urhebern bzw. deren Verlagen klären.

Die Compilation-Show und Revue 

Diese Vorgehensweise entspricht der Praxis, die die GEMA selbst bei ihrem Tarif U-Büh anwendet. Der Tarif U-Büh gilt unter anderem für Revuen und Compilation-Shows, in denen vorbestehende Werke Kleinen Rechts, also Werke, die nicht kompositorischer Bestandteil von Bühnenstücken sind und die also nicht ausdrücklich für die Produktion komponiert sind, wiedergegeben werden. Dazu gehören u.a. bereits existierende Schlager, Chansons oder Popsong. Auch bei solchen Veranstaltungen empfiehlt die GEMA, alle Musikstücke bei ihr rechtzeitig (möglichst drei Monate vor der ersten Aufführung) anzumelden, damit sie klären kann, wie hinsichtlich der Rechte verfahren werden muss, ob sie diese als Kleines Recht selbst einräumen kann oder z.B. ein Verlag wegen Großem Recht angefragt werden muss. 

Die interessante Frage ist nun, ob das neue Urteil des Bundesgerichtshofs Einfluss auf die Interpretation des U-Büh hat. Denn auch er ist in seiner ersten, teureren Alternative anzuwenden, wenn etwa in einer Compilation-Show mit Handlungsstrang vorbestehende Werke Kleinen Rechts im obigen Sinn wiedergegeben werden, die zwar integrierender Bestandteil des Bühnenwerks und somit nicht austauschbar sind, jedoch nicht in einem inneren dramaturgischen Zusammenhang zur Bühnenaufführung insgesamt stehen. Im Grunde lässt sich sagen, dass diese Erweiterung des Begriffs „integrierender Bestandteil“ der aufgeführten Compilation-Show mit Handlungsstrang auf den geforderten dramaturgischen Zusammenhang der Linie der neuen BGH-Entscheidung entspricht. Denn auch der BGH fordert, wie oben bereits ausgeführt, dass die Musik „der Fortsetzung der dramatischen Handlung des Bühnenstücks“ dienen muss. Ist das nicht der Fall, fehlt es an einer wesentlichen Voraussetzung für die Annahme des Großen Rechts in den Fällen, die dem Ausgangsfall der obigen BGH-Entscheidung entsprechen, wie für die Geltung der ersten Alternative des GEMA-Tarifs U-Büh. Zur Anwendung kommt dann beim U-Büh die finanziell deutlich günstigere zweite Alternative des Tarifs. Für manche ausschließlich performative Formen des Schauspiels ohne Handlungsstrang gilt das konsequenterweise nahezu uneingeschränkt.

Zu ergänzen ist, dass der U-Büh keine Anwendung findet auf vorbestehende Werke, die Bestandteile eines Bühnenwerkes sind (siehe oben die „Moritat von Mackie Messer“) und ebenfalls nicht, wie im U-Büh ausdrücklich klargestellt wird, auf vorbestehende „Konzertwerke ernster Musik“. Beim Einsatz solcher Werke z.B. in Compilation-Shows ist ausschließlich nach der Unterscheidung Großes oder Kleines Recht, wie sie in der BGH-Entscheidung vorgenommen wurde, zu verfahren.  

Und das moderne Tanztheater?

Ausdrücklich gilt der U-Büh auch für Aufführungen des modernen, also zeitgenössischen Tanztheaters, in denen oft auf bestehende Werke kleinen Rechts (s.o.) zurückgegriffen wird. Und ebenso stellen sich im zeitgenössischen Tanztheater die Fragen, mit denen sich der BGH in seiner oben besprochenen Entscheidung befasst hat. Im Tanztheater ist es aber nur außerordentlich schwer auszumachen, wann die Musik nur Untermalung der tänzerischen Darstellung ist, wann sie hingegen als integrierender Bestandteil der tänzerischen Performance gewertet werden muss. Letztlich ist hier allein auf die Frage abzustellen, ob der zeitgenössische Tanzabend eine erzählerische Handlung hat. Nur dann wird man vom Großen Recht oder beim U-Büh von der ersten Alternative des Tarifs ausgehen können. In allen anderen Fällen des Tanztheaters geht es um Kleines Rechts bzw. um die zweite Alternative des U-Büh-Tarifs.

Das Urheberpersönlichkeitsrecht

Bisher befasst sich dieser Beitrag nur mit dem Weg der Einräumung von Nutzungsrechten am Aufführungsrecht nach § 19 Abs 2 UrhG. Dabei bleibt die Frage, ob die Art der Nutzung das dem Urheber zustehende Urheberpersönlichkeitsrecht des § 14 UrhG verletzt, völlig außen vor. Diese Vorschrift schützt den Urheber vor einer Entstellung seines Werkes. Eine solche Entstellung kann beispielsweise darin liegen, dass das von der GEMA im Rahmen des Kleinen Rechts oder nach U-Büh ordnungsgemäß erworbene Recht für eine Aufführung in einem Zusammenhang genutzt wird, der im konträren Verhältnis zum Inhalt bzw. zur Intention etwa eines Pop-Songs oder Chansons steht. Gerade das Abspielen solcher vorbestehender Musikwerke etwa als Begleitung der Darstellung kriegerischer (in einem Video) oder auch persönlicher Gewaltanwendung auf der Bühne muss hier stets einer besonderen Prüfung durch das Theater unterzogen werden, da die GEMA bei der Einräumung der Nutzungsrechte keine entsprechende Prüfung vornimmt. Es kann also passieren, dass das Nutzungsrecht ordnungsgemäß von der GEMA erworben wurde, der Komponist und/oder die Textautorin des Musikwerks sich aber durch das Abspielen in einem konkreten Zusammenhang des Bühnengeschehens in ihren Urheberpersönlichkeitsrechten verletzt sehen und dagegen juristisch erfolgreich vorgehen (siehe auch: https://stadtpunkt-kultur.de/2018/05/koelner-band-die-hoehner-setzt-gegenueber-der-npd-ihr-urheberpersoenlichkeitsrecht-durch-ein-beschluss-des-bundesgerichtshofs/

Das Ergebnis

Die BGH-Entscheidung vom 7. April hat einiges an Klarheit gebracht. Dennoch bleibt auch in dieser Frage das Urheberrecht immer noch weit von der aus meiner Sicht notwendigen Idealausgestaltung entfernt: Erleichterung jeglicher Nutzung von Rechten bei garantierter Bezahlung der Rechteinhaber. Solange es zu solch einem radikalen Wandel des Urheberrechts nicht kommt, ist der Einsatz von Musik im Schauspiel und im zeitgenössischen Tanztheater nach wie vor ein vermintes Feld und bedarf stets einer sorgfältigen rechtlichen Prüfung durch das aufführende Theater. Vor allem, wenn die Rechtefrage mit höheren Risiken verbunden ist oder die Nutzungsrechte im Einzelfall gar nicht geklärt werden können, sollten Aufführungen möglichst so geplant werden, dass einzelne Musiktitel auch aus der Aufführung entfernt werden können, wenn sich die rechtlichen Risiken realisieren und durch einvernehmliche Regelungen mit dem Verlag oder den Urhebern /innen selbst nicht gelöst werden können.

Über kollektive Verantwortung in Kultureinrichtungen

Es ist in den letzten Jahren über die Macht der Intendantinnen und Intendanten viel geschrieben worden. Strukturveränderungen wurden gefordert, um ihre Befugnisse einzuschränken, zumindest stärkerer Kontrolle zu unterwerfen. Auch auf dieser Seite war davon schon die Rede (siehe am Schluss des Beitrags). Zunehmend wurde die Übertragung von Leitungsfunktionen auf ein Kollektiv als Allheilmittel angesehen. Das änderte sich schlagartig, als die Debatte über die Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta fifteen hochkochte und sich die Frage nach der künstlerischen Verantwortung für die Ausstellung stellte. Die nämlich war dem indonesischen Künstler-Kollektiv ruangrupa übertragen worden, was es natürlich schwer machte, den einzelnen Kopf, der rollen sollte, zu finden. Am Ende traf es die Generaldirektorin Sabine Schormann, letztlich weniger, weil ihr für die inhaltliche Seite der Documenta tatsächlich die Verantwortung übertragen worden wäre (war wohl nicht), sondern mehr wegen ihres nicht unbedingt geschickten Umgangs mit dem Konflikt. Nun reden alle davon, man müsse die Documenta umstrukturieren, was sich natürlich immer gut anhört, aber noch lange nicht bedeutet, dass das Wie geklärt ist.

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Künstlerisches Arbeiten im Kollektiv

Worum geht es? Geht es um die Leitung eines Kulturinstituts oder um die Übertragung einer künstlerischen Arbeit? Das ist nämlich ein entscheidender Unterschied. Die Übertragung einer künstlerischen Arbeit auf ein Kollektiv findet beispielsweise statt bei der Beauftragung von Rimini Protokoll mit einer Projektentwicklung oder von La Fura dels Baus mit einer Regie. Bei einer solchen Beauftragung trägt die künstlerische Verantwortung das Kollektiv, also die, die zu diesem Kollektiv gehören. Ähnlich ist es, wenn ein Museum oder ein Veranstalter einem Kollektiv das Kuratieren einer Ausstellung überträgt. Ein Problem entsteht im Sinne künstlerischer Verantwortung erst einmal nicht. Kommt das Kollektiv nämlich mit seiner Aufgabe künstlerisch aus welchen Gründen auch immer nicht zurecht, muss es seine Arbeit niederlegen oder man muss sich auf den juristisch dafür vorgesehenen Wegen von ihm in seiner Gesamtheit trennen.

Steht bei kollektiven Arbeitsprozessen jedoch nicht die künstlerische, sondern die juristische Verantwortung (Strafbarkeit, Schadensersatz) in Frage, nehmen die Unsicherheiten deshalb schlagartig zu, weil diese juristische Verantwortung stets die Schuld, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit, der konkret zur Verantwortung gezogenen Person voraussetzt. Diese Schuld ist dann bezogen auf eine oder mehrere Personen nachzuweisen, was bei der Übertragung künstlerischer Aufgaben an ein Kollektiv deshalb schwierig ist, weil die im Kollektiv getroffene Entscheidungen kaum einzelnen Personen eindeutig zugerechnet werden können. Das bedeutet: Wer eine Person für das, was sie tut, juristisch haftbar machen möchte, muss die Aufgaben klar und unmissverständlich auf einzelne Personen verteilen. Das aber wird gerade bei kollektiver künstlerischer Arbeit wie zum Beispiel der Regie einer Theateraufführung oder dem Kuratieren einer Ausstellung kaum möglich sein.

Die Leitung

Zu einer eindeutigen Aufgabenverteilung kommt es hingegen in der Regel, wenn die Leitung eines Kulturinstituts bestellt werden soll. Diese besteht dann in einem Theater oder einem Museum etwa aus einer künstlerischen Leiterin und einem kaufmännischen Direktor. Sie ist dann zuständig für die Kunst, er für Geld und Organisation. Das kann man, wie es beispielsweise in vielen großen wirtschaftlichen Unternehmen der Fall ist, ausweiten zu einem richtigen Vorstand, der aus drei, vier oder gar mehreren Personen besteht. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten eines solchen (kollektiven) Vorstands eindeutig auf die beteiligten Personen verteilt und dass Entscheidungsprozesse genau in der Geschäftsordnung festgelegt werden, nicht zuletzt mit Blick auf eine/n gegebenenfalls bestellten Vorstandsvorsitzende/n (siehe erneut: https://stadtpunkt-kultur.de/2022/04/das-theatermodell-karlsruhe/). Am Ende ist jedenfalls klar, wer in der Leitung welche Verantwortung (auch juristisch) zu tragen hat. Darin unterscheidet sich das Leiten eines Betriebes von der künstlerischen Arbeit an einem Projekt, einer Ausstellung oder einem Konzert.

Der Fehler bei der Organisation der Documenta

Was nun ist eigentlich bei der Organisation der Documenta schief gelaufen? Schief gelaufen ist die Vermischung von künstlerischer Arbeit und der Leitung der Documenta. Das Kollektiv ruangrupa war zum einen ein Kuratoren-Team, gestaltete also die documenta fifteen. Zum anderen war ruangrupa aber die künstlerische Leitung dieser Austellung, was eigentlich über die rein künstlerische Tätigkeit hinausging. Ob das den Mitgliedern von ruangrupa wirklich bewusst war, darf bezweifelt werden. Das gilt umso mehr, als niemand sich im Aufsichtsrat offenkundig über die Verteilung von Verantwortung, wie sie in Leitungskollektiven notwendig ist (s.o.), Gedanken gemacht, geschweige denn sie in einer Geschäftsordnung ausreichend festgelegt hat. Man hat also ruangrupa eher in dem Glauben gelassen, sie seien die Kuratoren, juristisch verantwortlich sei jemand anderes. Den oder die Anderen gab es aber nicht; auch die Generaldirektorin war eben (soweit bekannt) fürs Künstlerische nicht zuständig. Dieser Mangel an klarer Verantwortungsregelung wuchs sich bei der documenta fifteen durch das von ruangrupa praktizierte Lumbung-Konzept noch zu einem besonderen Problem aus. 

Und nun?

Man mag zu der Debatte um die documenta fifteen stehen, wie man will (siehe auf dieser Seite https://stadtpunkt-kultur.de/2022/08/der-blick-auf-die-kunst-ein-documenta-besuch/ und https://stadtpunkt-kultur.de/2022/07/die-documenta-und-die-freiheit-der-kunst/), die Documenta wird um eine vernünftige Leitungsstruktur, in der jemand die künstlerische Verantwortung trägt, nicht herumkommen. Ein solcher künstlerischer Direktor bzw. eine solche künstlerische Direktorin darf dann aber nicht die Rolle des Kurators der Ausstellung, sondern „nur“ die einer Intendantin haben, die die kuratorische Arbeit (auch eines Kollektivs) erst ermöglicht und unterstützt. Eine solche künstlerische Direktion hätte ruangrupa in den hierzulande besonders schwierigen Antisemitismus-Fragen beratend zur Seite stehen, hätte für eine angemessene Kontextualisierung umstrittener Werke Sorge tragen können, hätte den notwendigen Dialog zwischen den Kuratoren und der Öffentlichkeit organisieren können. Das alles sind Aufgaben einer künstlerischen Direktion, einer Intendanz, nicht eines Kurators. Vielleicht hätte ein künstlerischer Direktor sogar im Vorfeld die politisch für die Dokumenta Verantwortlichen darauf aufmerksam gemacht, was da möglicherweise auf Kassel zukommt, statt die Politik einfach der Findungskommission auszuliefern. Dann hätte man sich im Aufsichtsrat überlegter so oder eben anders entschieden, jedenfalls aber in dem klaren Bewusstsein, wer hier aus welchem historischen und politischen Zusammenhang zu Gestaltung der Documenta eingeladen wird. Es wäre ruangrupa, die hier, das muss einmal betont werden, als Ausländer zu Gast sind, dann erspart geblieben, mit einer derartigen, weitgehend einseitigen, zuweilen unsachlich, jedenfalls emotional geführten deutschen Debatte konfrontiert zu werden. 

Wer will, dass die documenta sixteen einen geordneten Verlauf nimmt, der sollte endlich von der Vermischung der Kuratorenfunktion und der künstlerischen Leitung der Documenta Abstand nehmen und ein Direktorium mit geregelten Kompetenzen und Verantwortungsbereichen einsetzen, auch für den künstlerischen Bereich. Kuratieren mag dann die documenta sixteen, wer immer dafür als geeignet, aufregend, anregend und künstlerisch interessant genug empfunden wird. Es könnte dann sogar wieder ein Kollektiv sein.

(siehe auch https://stadtpunkt-kultur.de/2020/02/soziale-kompetenz-statt-neuer-theater-strukturdebatte/ und https://stadtpunkt-kultur.de/2020/07/ueber-die-macht-im-theater-und-anderswo/ sowie https://stadtpunkt-kultur.de/2022/04/das-theatermodell-karlsruhe/)

Der Blick auf die Kunst: Ein Documenta-Besuchs

Seit Wochen begleitet die documenta fifteen eine nicht enden wollende Debatte. Geprägt ist diese Debatte – Diskurs mag man das nicht nennen – von Presseartikeln und politischen Statements, die den Eindruck entstehen lassen, es gehe in Kassel um eines sicher nicht, um die Kunst. Doch den Kuratoren der Documenta geht es schon um einiges, um nicht zu sagen um viel, und natürlich vor allem um das künstlerische Schaffen im globalen Süden. Wer sich mit offenen Augen durch die Ausstellung bewegt, sieht sich mit einem derart großen Reichtum an Ideen und Eindrücken konfrontiert, die schnell entlarven, was den Furor, mit dem einige versucht haben, die gesamte Veranstaltung in die Ecke des Antisemitismus zu stellen, zu eigen ist: eine gewisse Blindheit gegenüber dem Sinn und Zweck von Kunst. Umso mehr wundert es, dass sich kaum jemand so recht vor die Documenta gestellt hat, vor allem aus dem Kreis der einschlägigen Kultur- oder Künstlerverbände.

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Die Aufgaben der Kunst

Es ist keine Frage: Zu debattieren gibt es anlässlich der documenta fifteen eine Menge. Aber wieso auch nicht? Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, ihre Zuschauer affirmativ in Sicherheit zu wiegen. Nein, die Kunst ist immer dann am besten, wenn sie das Gehirn und die Sinne ihrer Betrachter in Gang setzt. Wenn sie unseren Widerspruch herausfordert. Wenn sie uns wachrüttelt. Wenn sie uns zumindest mal ein paar Fragen stellt. In diesem Sinne ist man bei der documenta fifteen bestens aufgeboben. Und vielleicht ist sie schon deshalb ein Erfolg, weil sie deutlich hat werden lassen, wie wenig wir mittlerweile hierzulande in der Lage sind, noch eine halbwegs sachliche Diskussion zu führen.

Nachdem alledem, was in den letzten Wochen die Feuilletons einiger deutscher Zeitungen in Sachen Documenta verbreitet haben, war ich in meinen zwei Tagen des Besuchs doch eher überrascht. Bei weit über 30 Grad bewegen sich Hunderte von hochgradig interessierten Besuchern durch den Parcours der zahlreichen Ausstellungsorte, sitzen in teils völlig überhitzen Videoräumen, lesen lange erläuternde Texte und lauschen aufmerksam den die Rundgänge anbietenden Kunstvermittlern. Nirgendwo Protest, nirgendwo Kopfschütteln, allenfalls mal ein wissbegieriges Nachfragen. Die Reaktionen des Publikums auf manche Opernaufführung sind dagegen die reine Revolte. Irgendwie klafft offenkundig eine gewaltige Lücke zwischen der von den sozialen Medien angeheizten Debatte des deutschen Feuilletons und der deutschen Politik über die Documenta einerseits sowie den die Kunst betrachtenden, gelassenen Besuchern andererseits. Schon das könnte einem reichlich zu denken geben. Wahrscheinlich hätten die meisten Besucher auch die zwei antisemitischen Bildelemente von hundert anderen nicht antisemitischen in „People´s Justice“, wäre das Werk hängen geblieben, unaufgeregt zur Kenntnis genommen und damit unter Beweis gestellt, dass Antisemitismus bei ihnen keine Chance hat. Dies gilt umso mehr, als sich die Bildelemente erklären lassen. Ihr Ursprung liegt im angespannten Verhältnis Indonesiens oder Algeriens zu Israel und sie sind eine subjektiv zuspitzende, sicher hochproblematische Darstellungen seitens der „People´s Justice“ schaffenden Künstlerinnen und Künstler. So intelligent, das einschätzen zu können, sind die Besucher in der Regel schon.

Das Hallenbad Ost und Taring Padi

Da nun Taring Padis „People´s Justice“ abgehängt wurde, war der diesem Künstlerkollektiv gewidmete Ausstellungsraum besonders gut besucht. Das im Bauhausstil erbaute und zum Veranstaltungsraum renovierte Hallenbad Ost ließ mit einem großen am Eingang angebrachten Banner sowie den für die Gruppe üblichen, farbigen Pappkarton-Puppen und -Plakaten gleich draußen erkennen, worum es geht: Um Provokation, Information und künstlerische Aktion oder, wie es auf der Website der documenta fifteen heißt, um organisieren, bilden und agitieren. Und so befasst sich beispielsweise die im Inneren des Hallenbads aufgebaute Installation „Stand On the Power of Food Self Sufficiency“ mit der Agrarstruktur und der angespannten Lebensmittelsituation in Indonesien, mit der Vielfalt der Natur, mit den sie zerstörenden Kräften und der Armut und dem Kampf gegen sie. Schon dieses Bild auch nur annähernd zu entschlüsseln, bräuchte man Stunden. 

Die Überforderung

Womit eine der Schwierigkeiten der documenta fifteen benannt ist. Die Ausstellung ist eine gewisse Überforderung. Diese aber hat ihre Ursache bei den Besuchern, denn eindeutig wird einem schnell klar: Über den globalen Süden, erst recht über das künstlerische Leben dort, wissen viele (auch ich) viel zu wenig, um der Ausstellung problemlos folgen zu können. So kommt man in Räume und braucht erst einmal einige Zeit, um festzustellen, um welches Land es gerade geht. Denn das kunsttrainierte europäische Auge versagt dann doch häufig bei der Betrachtung der kulturellen Andersartigkeit seinen Dienst. Erst recht, da es hier und da doch an einer gewissen Systematik fehlt. So befinden sich im großen Saal des Hübner Areals nicht nur die beindruckenden, geschnitzten Handpuppen der Fondation Festival sur le Niger neben Tonziegel-Installationen der indonesischen Jatiwangi art Factory. Direkt in einem kleinen Nachbarraum stößt man im Rahmen des Projekt „“Art Works auf Pappflugzeuge des deutschen Außenseiterkünstlers Hans-Jörg Georgi. Am Ende des Saals wird dann darauf hingewiesen, dass die Ausstellung noch weitergeht. Einige Schritte um die Ecke gelangt der Besucher in einen großen Kinoraum, in dem das Filmprojekt „Subversive Films Tokyo Reels“ zu sehen ist. Eine solche Ausstellungskonzeption, ein derartiger Zusammenschnitt von unterschiedlichen Welten vermittelt sich kaum. Das gilt umso mehr, als das Filmprojekt „Subversive Films Tokyo Reels“ zurecht einiger Kritik ausgesetzt ist.

Wegsperren oder ans Licht zerren?

Ich sehe in einem Ausschnitt diese Filmprojekts nur ein Interview mit einem offenkundig palästinensischen Arzt, der einen gemeinsamen Staat für Israel und Palästina fordert, was Israel sicher nicht akzeptieren kann und wird. Allein diese Aussage ist also in der Tat einseitig, genauso wie die im WH 22 anzuschauenden Bilder „Guernica Gaza“. Doch objektiv kann doch Kunst kaum sein. Hier wirkt sie doppelt provokativ, einmal wegen der Bezugnahme auf das in Madrids Museo Reina Sofia anzuschauende  Picasso-Gemälde „Guernica“, zum anderen wegen der Zitate von Motiven berühmter europäische Maler wie Chagall, Delacroix und van Gogh als Gegensatz zu den martialisch auftretenden israelischen Soldaten. Das alles fordert zum Widerspruch heraus, ohne Frage. Aber ist das ein Grund, die Kunst wegzusperren, sie nicht auszustellen? Muss man sie nicht ausstellen, zumal in einer Ausstellung, die von deutscher Seite gewollt so konzipiert ist, wie diese documenta fifteen? Ausstellen, um das alles ans Licht zu zerren, statt es zu verstecken und im Untergrund weiter vor sich hin gären zu lassen? Es gibt doch nach wie vor viel zu besprechen, wie gerade wieder zu sehen ist,  über das Vorgehen beider Seiten des uns nun seit Jahrzehnten politisch begleitenden Nahostkonflikt. Im Freispruch eines der Beteiligten wird das Gespräch nicht enden, daran ändert auch „Guernica Gaza“ nichts.

Die andere Sprache der documenta fifteen

Wendet man sich mal ein wenig ab von alledem, was die Gemüter erregte und erregt, spricht die documenta fifteen noch eine ganz andere Sprache. Es ist die Sprache von Armut, Verfolgung und Unterdrückung, von (nach wie vor kaum gezähmter) Ausbeutung der Dritten Welt. Es ist die Sprache von anderen Lebensweisen, anderen Ritualen von anderer Kunst als die, die wir gewöhnt sind. Es ist die Sprache der Gemeinsamkeit, der Solidarität und des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen. Das künstlerische Schaffen im Kollektiv ist als Gegensatz zum ungezähmten westlichen Individualismus zu erleben, als Gegensatz zur einsamen Auseinandersetzung des Künstlers hierzulande mit der Welt. Und es ist die Sprache von Minderheiten, sei es die der Aborigines dargestellt in den eindrucksvollen Werken von Richard Bell (Fridericianum 2. Stock) oder die der Roma in den Textil-Kollagen der polnischen Roma Malgorzata Migra-Tas (Fridericianum 1. Stock). Auch an ausgefallenen Ideen fehlt es nicht, etwa die Videoinstallation „Flashing Monuments“, in der Mitglieder von ruangrupa mit Monumenten in Jarkarta sprechen. Das wäre doch vielleicht auch etwas für die historischen und umstrittenen Monumente hierzulande, statt sie abzureißen führen junge Künstler einen Dialog mit ihnen.

Das Fazit aus alledem? Es gäbe so, wie es sich die Initiatoren der Einladung von ruangrupa wohl gedacht haben, für den reichen Westen Grund genug, sehr sorgfältig in den Spiegel zu schauen, den die documenta fifteen uns vorhält, und mehr zu besprechen, als das bisher geschehen ist. Noch ist Zeit, das nachzuholen.

Die Documenta und die Freiheit der Kunst

Anlässlich der documenta fifteen wurde in jüngster Zeit so viel wie schon lange nicht mehr öffentlich über das Thema Kunstfreiheit debattiert. So sehr es dabei auch um Politisches ging, zunächst ist diese Thema wohl ein juristisches. Denn die Freiheit der Kunst ist in Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz verankert und hat in der Geschichte dieser unserer deutschen Verfassung zahlreiche, meist sehr kunstfreundliche Gerichtsurteile des Bundesverfassungsgerichts hervorgebracht. Nicht jedem, der sich an der öffentlichen Debatte über die documenta fifteen und das dort gezeigte Bild People´s Justice von Taring Padi sowie dessen antisemitische Elemente beteiligte, schien sich dessen bewusst zu sein. Viel zu leichtfertig wurden Statements zu den Grenzen der Kunstfreiheit geäußert. Statt aus politischen Gründen das Abhängen des Bildes zu verlangen, leuchteten Politiker und Medien die Grenzen der Kunstfreiheit schlagwortartig aus, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Damit wurde der Versuch gemacht, für die Grenzen der Kunstfreiheit öffentlich Maßstäbe zu setzen, was schon deswegen scheitern musste, weil es wie so oft in solchen öffentlichen Diskursen an der notwendigen Differenzierung fehlte.

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Wann geht es um die Kunstfreiheit?

Die Frage der Kunstfreiheit stellt sich vor allem, wenn eine natürliche oder juristische Person die Kunstfreiheit für sich in Anspruch nimmt und die staatliche Gewalt, insbesondere die Exekutive oder die Judikative, diese Person an der Verwirklichung der Kunstfreiheit hindert. Das aber hat im Zusammenhang mit dem Kunstwerk von Taring Padi bisher nicht stattgefunden. Keine staatliche Behörde, etwa das Ordnungsamt Kassel, hat das Abhängen des Kunstwerks angeordnet. Vielmehr hat die künstlerische Leitung der Documentaruangrupawenn auch unter gewissem politischen Druck, selbst entschieden, das Bild zunächst zu verhüllen und später ganz aus der Ausstellung zu entfernen. Sie wurde also in ihrer durch die Kunstfreiheit geschützten Entscheidungsbefugnis nicht beeinträchtigt. Die einzigen, die ihr Recht auf die Kunstfreiheit verletzt sehen könnten, wären die Künstlerinnen und Künstler des Kollektivs Taring Padi, weil ihr Bild auf der Documenta nicht mehr zu sehen ist. Das würde jedoch bedeuten, dass es einen Anspruch gegen die künstlerisch Verantwortlichen eines Museums oder einer Ausstellung auf das Ausstellen eines Kunstwerks gäbe, was natürlich nicht der Fall ist und was auch aus Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz nicht hergeleitet werden kann. 

Gibt es eine eindeutige Rechtslage?

Erst soeben hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wozu sie bei Eingang entsprechender Strafanzeigen ohnehin verpflichtet ist und dessen Ausgang abzuwarten bleibt. Unter anderem wird es um den § 130 Strafgesetzbuch (Volksverhetzung) gehen. Deshalb wird jetzt genau zu prüfen sein, ob das Zeigen des Kunstwerkes People´s Justice auf der Documenta von der Kunstfreiheit gedeckt ist oder nicht. Das ist juristisch nicht so leicht zu beantworten, zumindest wenn man versucht, sich an den allgemeinen Maßstäben zu orientieren, die nun einmal für die Kunstfreiheit gelten. Schließlich ist die Kunstfreiheit nicht irgendein unbedeutendes Rechtsgut und durch die Verfassung dadurch besonders geschützt, dass sie, anders als andere Grundrechte, nicht unter einem sogenannten Gesetzesvorbehalt steht, in sie also nicht einfach durch Gesetz eingegriffen werden darf. 

Es besteht kein Zweifel daran, dass Antisemitismus menschenfeindlich ist und gegen die Menschenwürde verstößt. Deshalb die Menschenwürde jedoch als selbstverständliche Grenze der Kunstfreiheit zu definieren, wie es in der öffentlichen Debatte geschehen ist, greift bei weitem zu kurz. Denn Verstöße gegen die Menschenwürde in der Welt gibt es reichlich, sie aufzugreifen, zu artikulieren, darzustellen, anzuprangern, war schon immer gerade die Aufgabe der Kunst. Und an entsprechenden Kunstwerken jeglicher Art, die das tun, mangelt es bekanntlich nicht.  

Um es anhand eines weiteren Beispiels etwas deutlicher zu machen, worum es zumindest juristisch geht: Das öffentliche Zeigen des Hakenkreuzes erfüllt den Tatbestand des § 86 a Strafgesetzbuch (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen). Dennoch findet es in zahlreichen Filmen, Theaterstücken oder Werken der bildenden Kunst statt. Verwendet man das Hakenkreuz in solchen Kunstwerken, um sich etwa mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ist das öffentliche Zeigen zulässig. Gestaltet jemand mit künstlerisch-grafischem Anspruch ein Plakat und wird dieses Plakat genutzt, um für eine national-sozialistische Bewegung zu werben, tritt die Kunstfreiheit hinter den Schutzgütern des § 86a Strafgesetzbuch zurück. Diese Differenzierung wird in § 86a Strafgesetzbuch sogar durch Verweis auf § 86 Abs. 4 Strafgesetzbuch deutlich. Nach dieser Regelung ist die Verwendung von Nazisymbolen ausdrücklich erlaubt, wenn die Verwendung „der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“ Der Künstler Jonathan Meese wurde deshalb freigesprochen, als er im Vorfeld einer Documenta als künstlerische Protestaktion den Arm zum Hitlergruß gehoben hatte.

Der Berliner Anwalt Peter Raue hat in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe vom 24. Juni) die These aufgestellt, die antisemitischen Darstellungen im Bild von Taring Padi erfüllten den Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Strafgesetzbuch. Das ist auch nach meiner Auffassung zutreffend. Nicht zutreffend ist es, dass diese Darstellung sich schon wegen der Erfüllung des Tatbestands nicht auf die Kunstfreiheit berufen könne, wie Raue ausführt. Das entspricht insofern nicht der herrschenden Rechtslage, als bei Erfüllung des Tatbestandes erst im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung die Frage aufzuwerfen ist, ob die Tat durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt ist oder nicht. Ein Beispiel: Als Christoph Schlingensief im Rahmen einer künstlerischen Aktion am Wolfgangsee den Satz ausrief „Tötet Helmut Kohl“, erfüllte das eindeutig den Tatbestand des § 111 Strafgesetzbuch (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten). Die Tat war aber durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt und deshalb weder rechtswidrig noch strafbar. Nicht anders geht es einem Schauspieler, der in einem Spielfilm einen Nazi spielt und eine volksverhetzende Äußerung macht; der Tatbestand des § 130 Strafgesetzbuch ist erfüllt, die Tat ist aber wegen der Kunstfreiheit in der Regel (Ausnahme etwa Propagandafilm) nicht rechtswidrig. Außerdem fehlte es dem Schauspieler für eine strafbare Volksverhetzung am Vorsatz, der neben dem Erfüllen des Tatbestands und neben der Rechtswidrigkeit als drittes Element einer Straftat hinzukommen muss.

Auf einen anderen wichtigen Aspekt hat der Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede aufmerksam gemacht. Er hat nämlich eine in der öffentlichen Debatte weitgehend übersehene Differenzierung vorgenommen. Diese Differenzierung liegt in dem Satz: „Wer als Künstlerin oder Künstler in das Forum der Politik eintritt, muss sich nicht nur der ästhetischen, sondern auch der politischen Debatte und Kritik stellen.“, um dann zu ergänzen „Und dort gibt es Grenzen.“. Das heißt: Je mehr sich die Kunst auf das politische Statement reduziert, je mehr tritt die Frage nach der Kunstfreiheit in den Hintergrund. Gerade im Zusammenhang mit der konzeptionellen Ausrichtung der documenta fifteen als eine stark politische gestaltete Veranstaltung gewinnt dieser Satz eine nicht unerhebliche Bedeutung.

Die künstlerische Verantwortung trägt ruangrupa.

Damit ist man letztlich beim Kern des Problems angelangt, nämlich der Frage: Mit welcher Intention, warum also wurde das Kunstwerk von Taring Padi eigentlich durch die künstlerische Leitung der documenta fifteenausgestellt? Wusste die künstlerische Leitung von den antisemitischen Elementen des Kunstwerks? Hat man es aufgestellt, um genau die Diskussion zu  provozieren, die jetzt stattfindet? Dass das Bild versehentlich gezeigt wurde, glaube ich nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres. Öffentlich geäußert hat sich ruangrupa, soweit ich sehe, bis dato dazu nicht, es gibt nur die allseits bekannte Entschuldigung. Das reicht nicht. Gefragt sind Erklärungen, denen allerdings auch die Kritiker zuhören müssten, um sich mit den von ruangrupa vertretenen Positionen sachlich auseinanderzusetzen. Eine inhaltliche Erklärung von ruangrupa wäre zudem im Zusammenhang mit dem Thema Kunstfreiheit von großem Belang. Das gilt umso mehr, wenn es um Straftatbestände geht, die wie etwa die Volksverhetzung (s.o.) einer vorsätzlichen Begehung bedürfen. Sie, die Volksverhetzung, müsste also von ruangrupa gewollt gewesen sein, was bisher ja noch nicht einmal ernsthaft behauptet wurde. Jedenfalls trägt ruangrupa alleine die künstlerische Verantwortung für die documenta fifteen und deren Inhalt, selbst wenn im Rahmen des Lumbung-Konzeptes eine Delegation der Entscheidung über das Austeilen des Bildes People´s Justicestattgefunden haben sollte. Das zeigt: All das Gerede, es gebe in der documenta fifteenkeinen künstlerisch Verantwortlichen, ist gelinde gesagt unzutreffend.

Die politische Verantwortung liegt im Aufsichtsrat.

Um so mehr erstaunt es, wenn jetzt gefordert wird, dass der Documenta oder anderen vergleichbaren Veranstaltungen Beiräte oder ähnliche Kontrollgremien zur Seite gestellt werden. Das ist aus meiner Sicht gerade im Sinne der Kunstfreiheit hochgradig gefährlich. Nein, jede künstlerische Leitung einer Kulturinstitution (und niemand anderes) hat in all den täglichen Grenzfällen zu entscheiden, was sie veröffentlicht. Einer Überwachung welcher Art auch immer bedarf es nicht, schon gar nicht einer solchen mit Letztentscheidungskompetenz. Hingegen stellt sich die Frage, wer wen mit welchem Konzept zur künstlerischen Leitung von Institutionen beruft. Es bestehen Zweifel, dass darüber bei der Entscheidung für ruangrupa auch nur annähernd ausreichend nachgedacht wurde. Zu sehr war man geneigt, einer politischen Intention (Stichwort: Globaler Süden) zu folgen. Was das für die Präsentation von künstlerischen, vor allem politischen Positionen zur Folge haben würde und inwieweit das Politische das Künstlerische überlagern würde, hat offenkundig kaum einer bedacht. Leider ist dazu von den Verantwortlichen im Aufsichtsrat, vor allem denen der Stadt Kassel und des Landes Hessen wenig zu hören. 

Mehr Sachlichkeit täte der Debatte gut.

Im Übrigen hätte es der Debatte gut getan, wenn sie, trotz aller berechtigten Erregung, zuweilen mit etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit geführt worden wäre. Nicht nur die eingangs beschriebenen etwas fragwürdigen Formulierungen der Grenzen der Kunstfreiheit hat eine sachliche Diskussion, die so dingend notwendig wäre, erschwert. Zudem liegt in der  öffentlichen, meist auf die zwei antisemitischen Darstellungen beschränkten Verbreitung des Bildes People´s Justice eine gewisse, urheberrechtlich nicht unproblematische, Verkürzung des Kunstwerks. Was sonst warum auf dem Bild war, wurde kaum diskutiert. Am Ende (Süddeutsche Zeitung vom 28. Juni 2022) wurde es sogar als ein „monströses Panorama des Judenhasses“ bezeichnet. Da war es angenehm, dass sich Barrie Kosky, der scheidende Intendant der Komischen Oper Berlin, selbst Jude, in einem Interview aus Gründen der Kunstfreiheit uneingeschränkt auf die Seite von ruangrupa stellte, auch wenn er damit sicher nicht alles gutheißen will, was auf der Documenta zu sehen ist. Ebenso äußerte der an der Alice Salomon Hochschule in Berlin tätige Philosoph Arnd Pollmann am 2. Juli 2022 in der WDR 3-Sendung Mosaik gegenüber der Verhüllung und dem Abbaus von People´s Justice seine deutliche Skepsis. Erst durch solche Statements eröffnen wir die offene Debatte, die jetzt überall eingefordert wird und die bisher kaum stattfand. Die am 29. Juni 2022 von der Bildungsstätte Anne Frank, der Documenta und Museum Fridericianum veranstaltete Diskussion war immerhin in diesem Sinne ein erster Lichtblick. Sie kann im Netz nachgehört werden. Doch kaum war diese vorbei, flogen schon wieder öffentlich die Fetzen. Mit solchen Erregungszuständen werden wir in der Sache kaum voran kommen.

Publikumsschwund und andere Herausforderungen für die Kulturbetriebe

Der EMAA, wie es in Fachkreisen verkürzt heißt, der Executive Master in Arts Administration, angesiedelt an der Universität in Zürich (https://www.emaa.uzh.ch/de.html) ist immer noch der größte und umfassendste einen akademischen Abschluss ergänzende Studiengang vorrangig im Bereich der darstellenden Künste. Leider kostet so etwas in der Schweiz, aber deshalb kann sich der EMAA leisten, eine sehr umfassende Ausbildung anzubieten, die auch über den Tellerrand hinauszusehen in der Lage ist. Das kann ja in der Kultur nie schaden. Wer sich interessiert, kann sich zurzeit für den neuen Studiengang (ab Herbst 2022) noch bewerben. Fast 30 dreitägige Wochenendmodule bietet der Studiengang in jeweils vier Semestern an. So beschäftigte man sich Anfang Mai in einem Modul mit den Themen Kulturmangement in der Krise, Globalisierung, Diversität, Veränderungsprozesse bei Einsatz und Rekrutierung von Personal und eben den daraus folgenden Herausforderungen für den Kulturbetrieb.

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Zu diesen Herausforderungen zählen der soziale Schutz der künstlerischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Gendergerechtigkeit, Identität und Rollenbesetzung, Nachhaltigkeit, neue Leitungsstrukturen, Cancel Culture sowie die Digitalisierung. Die meisten dieser Themen waren oder sind in dem einen oder anderen Zusammenhang Gegenstand dieser Website (https://stadtpunkt-kultur.de/archiv/). Sie sind zunehmend Maßstäbe für den Kulturbetrieb, leider oft ohne den durch Kunstfreiheit, Geld und Rechtslage gesetzten Grenzen die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Welcher Regisseur einer Großbühne verzichtet schon aus Nachhaltigkeitsgründen ohne weiteres auf eine neues Bühnen- und Kostümbild und greift gerne auf den Fundus zurück? Wie sichert man künstlerisch notwendige tägliche Entscheidungen in einem kollektiven Leitungsmodell? Welche Grenzen setzt das Urheberrecht bei Rollenbesetzungen? Wie finanzieren die Theater die immer mehr geforderten Gagensteigerungen? Darf eine Sängerin, die sich nicht von Putin distanziert, die Donna Anna singen oder nicht? Wer will eigentlich die vielen digitalen Angebote, die weltweit miteinander konkurrieren, alle sehen? Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

Wo bleibt die Kunst?

Denn eigentlich geht es bei der Kultur vor allem um die Besucher, die Zuschauer und Zuhörer. Die größte Herausforderung für den Kulturbetrieb, vor allem für den Veranstaltungsbetrieb ist und bleibt also das Publikum. Christine Dössel hat für die Süddeutschen Zeitung dazu kürzlich einen interessanten und bemerkenswerten Text veröffentlicht (https://www.sueddeutsche.de/kultur/berliner-theatertreffen-besucherschwund-schauspielhaus-bochum-christopher-rueping-claudia-roth-1.5582166). In diesem Text wird unmissverständlich das artikuliert, was allen Theatern zurzeit unter den Nägeln brennt: Die Zuschauer kommen nicht so selbstverständlich zurück, wie alle das erwartet, zumindest sich erhofft haben. Und sie hat beschrieben, woran das liegen könnte: An den nicht mehr auszublendenden Corona-Ängsten, an veränderten Gewohnheiten der Zuschauerinnen und Zuschauer, an der Konkurrenz in Netflix, Amazon Prime, Apple-TV und ähnlichen Anbietern. Zuweilen auch, zumindest im Schauspiel, vielleicht am allzu selbstreferentiellen Programm? „Wo bleibt die Kunst?“ fragt Christine Dössel am Ende ihres Artikels, um dann mit folgendem Satz den Stand der Dinge zuzuspitzen: „Denn stell dir vor, das Theater löst alle Probleme – und keiner geht hin“.

Wie geht es eigentlich dem Zuschauer und der Zuschauerin?

Ob es legitim ist, als bis zu einem gewissen Grad sachverständiger Zuschauer den Schauspielhäusern programmatische Ratschläge zu geben, da habe ich vorsorglich meine Zweifel. Zumal, wer etwas weiter fortgeschrittenen Alters ist, muss sich da in Zurückhaltung üben. Aber es könnte doch hilfreich sein, dass der geschulte Kulturinteressent zur Förderung des Dialogs mit dem Publikum ohne Anspruch auf Verallgemeinerung die eigene Befindlichkeit beschreibt. Eigene Befindlichkeit ist ja gerade „in“ auf deutschen Bühnen und im öffentlichen Dialog ohnehin sehr gefragt.

Beginnen wir mit Corona. Die Epidemie ist brüllenden Menschenmengen in gefüllten Fußballstadien zum Trotz nicht vorbei. Viele spüren deshalb immer noch eine gewisse Scheu, sich maskenlos in eine Menschenmenge zu begeben. Andererseits ist und bleibt die Maske unangenehm und beim Glas Weißburgunder in der Pause im Übrigen eher hinderlich. Nun ist der Wein in den Theatern selten ein Anreiz für einen Theaterbesuch, hingegen der Pausenplausch mit diesem oder jedem für die kommunikativ veranlagte Mitbürgerin oder ihre Begleitung (m/w/d) schon. Auch wenn das in Theaterkreisen vielleicht kaum für möglich gehalten wird: Es soll Leute gegeben haben, die gingen ins Theater, um andere zu treffen. Ich schreibe das in der Vergangenheit, weil der an Kultur interessierte, vielleicht etwas aufgeklärtere Teil der Menschheit ein wenig auf dem Rückzug ins Private ist. Man ist nach zwei Jahren Pandemie ein wenig kommunikationsentwöhnt und sehnt sich nicht unbedingt nach jedem small talk zurück.

Verbrennungsmotor, Stau und verspätete Züge

In die Schieflage geraten sind zudem Reisen zum Zwecke der kulturellen Ertüchtigung. Galt es früher als Tugend, zu Bildungszwecken durch die Gegend zu fahren, hat sich auch hier die Beurteilungsscala deutlich verschoben. Die Fahrt mit dem verbrennungsmotorausgestatteten PKW gilt in gebildeten Kreisen mittlerweile eher als unangebracht, von der stauanfälligen Verkehrssituation auf deutschen Autobahnen mal ganz abgesehen. Der Zug ist oft keine Alternative, nicht nur wegen der Corona-Gefahr, sondern auch weil er gar nicht oder zumindest deutlich zu spät kommt. Und nachts auf deutschen Bahnhöfen herumzustehen, ist auch nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig. Ebenso hält sich mittlerweile die Neigung, Gesangstars durch die halbe Welt hinterherzujetten (Stichwort Flugscham) in Grenzen. Natürlich wird das alle gerne wieder über Bord geworfen, spielt schließlich doch keine Rolle, aber der Anlass dazu muss sich lohnen. Jeder und Jede überlegt einmal mehr als früher, was er bzw. sie denn zu sehen bekommt und ob es den Aufwand und das Risiko des Theater- oder Museumsbesuchs tatsächlich rechtfertigt.

Zudem hat sich die Erkenntnis breit gemacht, dass das Leben ohne Theater ein paar interessante Momente hat, die bei Bedarf der Intensivierung harren. Lesen ist eine relativ angenehme Beschäftigung, Flanieren ebenso, ein bisschen wie Theater, zudem coronamäßig weitgehend völlig gefahrlos und umweltfreundlich. Allerdings sind die schauspielerischen Leistungen, die einem in einer deutschen Fußgängerzone geboten werden, eher begrenzt. Deswegen regt sich irgendwann das Bedürfnis, doch mal wieder etwas live vorgespeilt zu bekommen, vorzugsweise ein ordentliches Stück Literatur. Das muss um Himmels willen nicht Shakespeare, Schiller, Goethe, Molière oder Tschechow sein, obwohl das meist gute Stücke sind, nein, gerne etwas Neues. Bei der Auswahl für den Spielplan sollte allerdings nicht unterschätzt werden, dass es ein gesundes Interesse der Menschen am Dramatischen gibt. Das ist ja im Leben auch so. Wie oft sitzt der Zuschauer im Theater und denkt sich, Spannung wäre eine prima Alternative. Und ein paar mitreißende Emotionen wie Empathie, Leidenschaft, Liebe und echter Weltschmerz können ebenfalls nicht schaden, der Alltag ist ja trostlos genug. An dieser Stelle gelangt die Theaterdebatte regelmäßig in die Zone ihres größten Totschlagarguments: Man rede der seichten Unterhaltung das Wort. Doch das ist erstens schlichter Unsinn, und man muss zweitens bei Erwähnung des Begriffs Unterhaltung, wie das in bestimmten Kreisen üblich ist, nicht immer gleich intellektuell zusammenzucken. 

Die Konkurrenz: Filme, Filme, Filme

Zweimal in meinem beruflichen Leben war ich Mitglied der Jury beim Fernsehfilm-Festival der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Man sieht als Jury-Mitglied dort eine Woche lang vier Fernsehfilme am Tag und muss unmittelbar nach der jeweiligen Sichtung des Films vor einem Fachpublikum eine Beurteilung zu jedem Film abgegeben. Schon in vielen Diskussionen habe ich später meinen Respekt darüber zum Ausdruck gebracht, wie oft es Fernsehfilmen gelingt, Probleme dieser Gesellschaft in einer spannend, zuweilen auch heiter erzählten Geschichte bewusst zu machen. Da könne sich mancher Theaterabend mal eine Scheibe von abschneiden. Weil das so ist,  landeten viele von uns Schauspielhungrigen nun in den Corona-Zeiten bei den Streaming-Diensten und erlebten angenehme Überraschungen.

Worin diese positiven Überraschungen liegen, will ich aber nicht beschreiben an Hand dort verbreiteter Serien (was ich könnte, etwa mit der türkischen Serie „Der Club“), sondern an Hand eines Spielfilms, den ich in den letzten Wochen gesehen habe. Es geht um Kenneth Branaghs „Belfast“, die kleine Geschichte einer Arbeiterfamilie in der Zeit des Nordirlandkonfliktes. Der Film ist schwarz-weiß gedreht, hervorragend gespielt mit einem Drehbuch, das gerade mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Er ist ein Schauspieler(natürlich auch -innen)film im besten Sinne. Geschockt von den Bildern des Bürgerkriegs, nachdenklich über die Härte des inhaltlichen, fundamentalistisch- religiösen Identitätskonflikts(!), überzeugt von der aufklärerischen Haltung, die diesem vom Vater entgegengesetzt wird, angerührt von Liebe und Zuneigung, die den ganzen Film über miterzählt wird (großartig Judy Dench und Ciarán Hinds als Großeltern), verlassen wir alle, die diesen Film gesehen haben, das Kino. Das Herz schlägt höher, der Verstand rotiert und die Überzeugung, dass Gewalt nie eine Lösung von Problemen sein kann, hat einmal mehr ihre Bestätigung gefunden. Großartiges Kino! Das muss man im Theater erst einmal hinkriegen.

Die digitalen Angebote der Theater

Jedes Theater muss sich also bewusst sein: Die Konkurrenz schläft nicht und das Bewusstsein der Zuschauerinnen und Zuschauer für sie ist größer geworden. Und doch habe ich mir in Corona-Zeiten das eine oder andere digitale Angebot der Theater angesehen. Die Male, die ich das getan habe, hielten sich zugestandenermaßen in Grenzen. Es hat mich nicht animiert. Ich nenne keine konkreten Beispiele, weil ich niemandem zu nahe treten möchte, aber manches hat mich in seiner künstlerischen Abgehobenheit erschrocken zurückgelassen. Neulich wurde ich gefragt, was von diesen Angeboten eigentlich in der Lage wäre, so wie eine Opernaufführung von welcher Großbühne auch immer einen ganzen Kinosaal auch nur halbwegs zu füllen, ohne dass dem Publikum gewisse Ambitionen zum Märtyrertum nachgesagt werden könnten. Spontan ist meine Antwort nicht gerade ausgefallen.

Zurück zum EMAA-Workshop an der Universität. Im Laufe der Debatte sagt ein Teilnehmer, alle diese Gender- und Rollenbesetzungfragen, die Themen Nachhaltigkeit, Cancel Culture und Digitalisierung, das seien doch Sekundärprobleme. Es gehe letztlich um Existenzfragen, vor allem um die Finanzierung der Kultureinrichtungen. Und eine andere Teilnehmerin fügt hinzu, vielleicht fehle es denn Theater durch die öffentliche Finanzierung an der notwendigen Herausforderung. Richtig, Not macht erfinderisch. Aber sie wird die Probleme eher vergrößern, vor allem in der sozialen Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern. Und Veränderungen kosten immer Geld. Vielleicht machte es jedoch Sinn, wenn sich die Schauspieltheater einmal fragten, ob sie alles das, was sie machen, auch machen würden, wenn von ihrem Programm ihre Existenz abhinge, wenn alles Geld am Boxoffice eingenommen werden müsste. Schaden könnte das nicht. Danach kann man dann künstlerisch machen, was man für richtig hält oder was die Zuschauer fasziniert oder am besten beides. Gerade für Letzteres gibt es ja auch gute Beispiele, vor allem im Musiktheater.

Das Theatermodell Karlsruhe

Über Transformation in Kultureinrichtungen wird augenblicklich viel gesprochen und geschrieben. Was ihr Ergebnis sein soll, steht dabei eher theoretisch fest: Mehr Partizipation, mehr Transparenz, kollektivere Entscheidungsprozesse, Einschränkung von Machtbefugnissen. Wie dieses Ergebnis aber konkret zu gestalten ist, war bisher kaum Gegenstand der Debatte. Jedenfalls sei die herrschende Klasse in den Theatern, Orchestern oder Museen dagegen, heißt es, denn sie wolle von ihren Machtansprüchen angeblich nicht lassen. Die Führungskräfte versuchten Strukturanpassungen zu vermeiden, „um ihre eigene Stelle im System nicht zu gefährden“ (so in einem Beitrag auf der Internet-Seite des Deutschen Kulturrats). Eine ganz andere Sprache sprechen nun die neusten Umstrukturierungen am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Dort hat kürzlich der Verwaltungsrat des Theaters nach einem langen und aufwendigen Entscheidungsprozess das „Theatermodell Karlsruhe“ im Einvernehmen mit der dortigen Theaterleitung verabschiedet. Beschlossen wurden keine großen Worte, beschlossen wurde das Ende der Generalintendanz zugunsten eines kollektiven Leitungsmodells.

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Das Verfahren

Eines war nach der Beendigung der Intendanz von Peter Spuhler klar: Was immer es an Fehlern in der Leitung und innerhalb des Theaters gegeben haben mag, strukturell konnte es wie bisher nicht mehr weitergehen. Das Badische Staatstheater war ein klassischer Generalintendanten-Betrieb, wie es ihn hierzulande kaum noch gibt. Der Generalintendant war mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, die mangels ausgleichendem Gegengewicht die Gefahr der Machtballung in einer Person befördert hatten, auch wenn es in einem solchen Theaterbetrieb verschiedene Kontrollmechanismen wie etwa den Personalrat, die Vorstände der Ensembles oder den Verwaltungsrat gab. Man hätte schnell den Betrieb in eine weitgehend übliche Doppelspitze bestehend aus einem Intendanten und einem Kaufmännischen Direktor umwandeln können. Doch das war angesichts der erheblichen Führungskrise, in der sich das Theater befand, den politisch Verantwortlichen am Ende zu einfach.

Also wurde kulturpolitisch insbesondere vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst ein aufwendiger Prozess in Gang gesetzt, um herauszufinden, was das beste Leitungsmodell für das Badische Staatstheater sein könnte. Zuvor hatte man seitens des Veraltungsrats einen neuen Übergangsintendanten für drei Jahre (bis Ende der Spielzeit 2023/24) bestellt und entschieden, dass in der Übergangsphase eine Dreier-Spitze bestehend aus dem neuen Intendanten (künstlerische Leitung), dem Geschäftsführenden Direktor (wirtschaftliche und administrative Leitung) und der künstlerischen Betriebsdirektorin (Umsetzung des Spielplans und Koordination der Sparten) das Theater leiten sollte. Das geltende Betriebsstatut wurde durch ein Übergangsstatut entsprechend umgestaltet, was die erste Weichenstellung für die endgültige Abschaffung der Generalintendanz war.

Doch damit war nur ein Anfang gemacht. Die Frage blieb, ob die Dreierspitze auch die dauerhafte Struktur sein sollte, wenn ja, wie diese konkret zu gestalten sei und ob die aus dem Betrieb geforderte große kollektive Lösung mit einem Direktorium unter Einbeziehung aller Spartenleiter und – leiterinnen sowie anderer Führungspersonen der bisher zweiten Ebene das bessere Modell sein könnte. Die Doppelspitze blieb ebenfalls als Zukunftsoption auf dem Tisch.

Um diese Frage zu beantworten, wurde eine Strukturkommission unter Beteiligung der Rechtsträger und des Verwaltungsrats gebildet. Auch ich habe beratend in dieser Kommission mitgewirkt. Diese Strukturkommission führte umfangreiche, mehrere Monate dauernde Beratungen und Anhörungen durch. Daran waren zahlreiche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Hause und die im Theater ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft Struktur ebenso beteiligt wie Experten anderer Theater, die Agentin des Badischen Staatstheaters für Diversität sowie der Personalrat des Badischen Staatstheaters. Schon dieser Diskurs ist besonders hervorzuheben. In alle den Jahren habe ich kaum erlebt, dass sich die Verantwortlichen der Kulturpolitik derartig eingehend um die strukturellen Problem eines Theaters gekümmert haben.

Worum es in den Anhörungen ging

So vielfältig wie die Gesprächspartner waren, so vielseitig waren die vertretenen Positionen. Forderten die einen klare Entscheidungsstrukturen und eine eindeutige Zuweisung von Befugnissen an einzelne Führungspersonen, konnte anderen die Anzahl von Gremien, die innerhalb des Hauses zu bilden und zu beteiligen seien, nicht groß genug sein. Kontrollieren statt Vertrauen war einerseits die Devise, anderseits wurde klargemacht, dass jeden Abend „der Lappen hochgehen“ müsse. Man könne sich nicht ergebnislos zu Tode diskutieren. Die Rolle des Intendanten war bei den einen die eines Moderators, Entscheidungen seien auf der zweiten Ebenen zu treffen, andere wünschten sich ihn oder sie als festen Ansprechpartner mit definitiven, wenn auch in den Betrieb stärker als bisher eingebundenen Entscheidungsbefugnissen. Ein Modell wie in Stuttgart oder Mannheim wurde eher nicht für übertragbar gehalten. Es stellte sich schnell heraus, dass die Strukturen eines integrierten Mehrspartenbetriebs wie der des Badischen Staatstheaters anders zu gestalten sind als die eines Theaters, das wie das Staatstheater Stuttgart über selbstständige Häuser für die zwei großen Sparten (Musiktheater und Schauspiel) verfügt. Im Karlsruher Mehrspartenbetrieb mit gemeinsamen Ressourcen sei es wichtig, dass nur Personen mit spartenübergreifenden Funktionen an der Theaterleitung beteiligt sind. Die im Hause weit verbreitete Vorstellung eines großen Leitungskollektivs wurde zudem dadurch in Frage gestellt, dass große Kollektive nur durch Mehrheitsentscheidungen handlungsfähig sind; solche Entscheidungen sind dem Prinzip der zufällig entstehenden Mehrheit unterworfen und damit für alle Beteiligten kaum kalkulierbar.

Mehrfach ging es in den Sitzungen darum, dass Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse ein untrennbares Paar sind. Die Notwendigkeit von Führungsqualifikation, Integrität und Fortbildung in der Leitungskompetenz wurden immer wieder betont. Begriffe wie Kommunikation, innere Führung, Transparenz, Information, Offenheit durchzogen die Debatte. Die künstlerische (und technische) Überforderung des Theaterbetriebs und die dadurch entstehenden Belastungen waren und bleiben ein Thema. Sie entstehe aus den teils durch die Öffentlichkeit formulierten, teils aber auch in der empfundenen Selbstverpflichtung liegenden immer größeren und differenzierteren Anforderungen, wurde hervorgehoben. Diese Anforderungen hätten durch die digitale Herausforderung noch erheblich zugenommen. Man könne dem Theaterbetrieb nicht laufend neue Aufgaben abverlangen, ohne die Kapazitätsfrage zu stellen.

Umstrukturierung und neue innere Verfassung des Theaters

Parallel zu diesem Anhörungsverfahren und unter Berücksichtigung der dort vertretenen Standpunkte wurde dann auf der Grundlage des bereits existierenden Übergangstatuts eine Übergangsgeschäftsordnung erarbeitet und schließlich von der bestehenden Theaterleitung beschlossen. Diese Übergangsgeschäftsordnung, die auf dem zuvor verabschiedeten Übergangsstatut aufbaut und der Zustimmung der beiden Theaterträger bedarf, ist praktisch der Kern des „Theatermodells Karlsruhe“. Denn sie legt für die aus den drei Personen bestehende Theaterleitung ein Beschlussverfahren fest und bindet sie im Sinne von check and balances mit rechtlich verbindlichen Vorgaben in den Betrieb ein.

So haben nun regelmäßige Sitzungen der dreiköpfigen Theaterleitung mit Abstimmungen in wesentlichen Fragen stattzufinden. Die Entscheidungen sind zwar einerseits Mehrheitsentscheidungen. In künstlerischen Fragen gibt es andererseits ein Vetorecht des Intendanten, in wirtschaftlichen Fragen ein solches des Geschäftsführenden Direktors. Es werden feste Zuständigkeiten für die einzelnen Geschäftsbereiche sowie Personalbefugnisse verbindlich bestimmten Personen zugewiesen. In regelmäßigen erweiterten Sitzungen der Theaterleitung findet ein Austausch mit den in der Verantwortung stehenden Personen der zweiten Ebene (Spartenleiter/innen, GMD/in, Technische/r Direktor/in, Leiter/innen von Maske und Kostüm, Chefdramaturg/in) statt. Getroffen werden in der Übergangsgeschäftsordnung konkrete Regelungen über die Einberufung von Sitzungen und deren Abwicklung sowie das Verfahren der Beschlussfassung und über die Stimmrechte der Theaterleitung. Die Spielplangestaltung wird durch den Intendanten an die Spartenleiter und -leiterinnen verbindlich delegiert, sie ist in den erweiterten Sitzungen der Theaterleitung zu erörtern, abweichende Entscheidungen durch die Theaterleitung unterliegen dem Begründungszwang. Auch im Bereich des Geschäftsführenden Direktors werden Aufgaben auf Personen der zweiten Ebene der Verwaltung delegiert. Die Vertretungs- und Zeichnungsbefugnisse werden detailliert geregelt.

Erstmalig wurde mit dem Übergangsstatut und der Übergangsgeschäftsordnung die innere Verfassung eines großen Dreispartenbetriebs im Sinne einer Corporate Gouvernance strukturiert, und zwar, das ist noch einmal hervorzuheben, rechtsverbindlich. Die Theaterleitung muss sich also an diese Vorschriften halten. Die Änderung der Vorschriften ist nicht ohne weiteres, sondern nur mit Zustimmung der Träger möglich. Unkontrollierte Einzelentscheidungen sind in wesentlichen Fragen durch die Übergangsgeschäftsordnung so weit wie möglich ausgeschlossen. Dies beschränkt die Machtbefugnisse aller an der Theaterleitung beteiligten Personen.

Wie es 2024 weitergeht

Übergangsstatut und Übergangsgeschäftsordnung werden durch die jetzige Theaterleitung einem mehr als zweijährigen Evaluierungsprozess unterzogen. Zugleich wird nun auf der Grundlage dieser neuen inneren Verfassung für die Zeit ab der Spielzeit 2024/25 der neue Intendant oder die neue Intendantin gesucht. Für diese Zeit sind unter Einbeziehung der bis dahin gewonnenen Erfahrungen sowie unter Berücksichtigung der Ansichten der neuen Intendanz die endgültigen Statuten für das Badische Staatstheater zu entwickeln. Wie immer diese dann aussehen wird, eines ist dabei sicherlich ausgeschlossen: Die Rückkehr zu einer Generalintendanz.