Warum die Künstlersozialkasse für Kunst und Kultur auch nach 40 Jahren so wichtig ist

Kürzlich gab es in Berlin einen „großen Bahnhof“, wie es so schön heißt, wenn aus gegebenem Anlass viele Leute und einiges an Prominenz auflaufen. Es gab das 40-jährige Bestehen der Künstlersozialkasse zu feiern, ausgerechnet in der „Bar jeder Vernunft“. Gerade diese Tugend der Aufklärung kann man jedoch der KSK, wie sie verkürzt gerne genannt wird, nicht absprechen. Denn sie betreibt ein kompliziertes Versicherungsgebilde mit einer Renten-, einer Kranken- und einer Pflegeversicherung für selbstständige Künstlerinnen und Publizisten, und das mit einem hohen Maß an Sachverstand und Korrektheit. Und so bescheinigte der Bühnenlyriker Bas Böttcher zur Erheiterung des Geburstatgs-Publikums der Künstlersozialkasse „Bei all dem sich ständig mit Künstlern befassen, hast du dich nie verrückt machen lassen. Glanz und Pomp sind dir nie zu Kopfe gestiegen, du bist immer korrekt und nüchtern geblieben. Auch wenn die Klienten noch so krass fett rocken, du bleibst solide, sachlich und trocken.“

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Die 40-Jahr-Feier

Die anwesenden Politiker von Hubertus Heil über Claudia Roth bis zu Carsten Brosda ließen dann auch in ihren Statements an der Bedeutung der Künstlersozialkasse nicht den geringsten Zweifel und unterstützten damit Monika Heinzelmann, eine KSK-Mitarbeiterin der ersten Stunde. Sie wusste in Berlin anschaulich über die Anlaufschwierigkeiten der KSK zu berichten. Vor allem die seinerzeitige Software habe zuweilen Anlass zur Heiterkeit gegeben, wenn etwa versehentlich Rückzahlungsbescheide an Künstler über einen einzelnen Pfennig verschickt worden seien und diese dann in bar oder durch Übersendung einer Briefmarke beglichen wurden. „Es ist ein spezieller Personenkreis und es lohnt sich jeglicher Einsatz dafür. Das war das, was uns immer bewegt hat, uns motiviert hat“. Mit diesen Sätzen vermittelte Monika Heinzelmann den Zuhörern ihr immer noch vorhandenes Engagement. Wer so über sein langes Berufsleben am Ende spricht, hat nicht nur die richtige Wahl getroffen, sondern sich auch um eine unverzichtbare Sache verdient gemacht. Das ist ermutigend für alle, die heute für die Künstlersozialkasse arbeiten.

Wie unverzichtbar die KSK ist, lies Klaus Staeck, der seit Jahrzehnten die Zeitläufte dieser Republik begleitende und kommentierende Künstler, lange Präsident der Akademie der Künste, erkennen. Er mache sich Sorge, so sagte er in Berlin, über den heute zerrissenen Zustand der Gesellschaft, um unsere Demokratie, um die zunehmende Polarisierung und nicht zuletzt um die eine Gesellschaft tragende, unverzichtbare Solidarität. Die Künstlersozialkasse ist ein Teil dieser Solidarität. Um so erstaunlicher ist es, dass sie immer wieder in Frage gestellt wurde, zum Teil aus dem Kreis der Unternehmen, die mit der Künstlersozialabgabe wesentlich zur Finanzierung der Künstlersozialkasse beitragen, zum Teil aus bestimmten politischen Gruppierungen, die sich bemüßigt fühlten, den Anliegen dieser Unternehmen nachzukommen. Verständlich war das alles nicht.

Die Künstlersozialkasse und die Freiheit der Kunst

Die Freiheit der Kunst ist wie die Freiheit von Presse und Rundfunk unverzichtbarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Diese Freiheiten gibt es aber nicht, ohne dass es Künstlerinnen und Journalisten, Schauspieler, Musikerinnen, Tänzer, Sängerinnen oder Rezensenten, Moderatorinnen oder Korrespondenten, Grafikerinnen oder Designer gibt. Wenn niemand mehr diese Berufe ergreift, ist einfach Schluss mit freier Presse oder freiem künstlerischem Schaffen. Deshalb müssen diese Berufe, die oft nicht in arbeitsrechtlich abgesicherte Verhältnisse münden, weiterhin auch dann attraktiv bleiben, wenn sie in sehr wechselhaft verlaufender Selbstständigkeit ausgeübt werden. Dazu leistet die KSK mit ihren Versicherungen einen wesentlichen Beitrag. 

Da die Einnahmen, die bei Ausübung künstlerischer sowie publizistischer Berufe erzielt werden, oft überschaubar sind, lassen sich die Versicherungsleistungen jedoch nicht alleine aus hälftig von den Versicherten gezahlten Beiträgen finanzieren. Deshalb hilft dankenswerterweise der Bund mit einem hohen finanziellen Betrag, die Finanzierung der Künstlersozialkasse sicherzustellen. Das kommt nicht nur den in der KSK (pflicht-)versicherten Künstlern und Publizistinnen zugute, sondern auch all den Unternehmen, die die Künstlersozialabgabe zahlen, den sogenannten Abgabepflichtigen. Sie wird mit einem Prozentsatz von meist rund fünf Prozent auf die an selbstständige Künstler und Publizisten gezahlten Honorare erhoben. Vergleicht man sie mit dem Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung von etwa 20 Prozent ist das ein harmloser, eben durch den Bund subventionierter Betrag. Da sollte man eigentlich die Füße stillhalten. Alle sitzen in einem Boot. Ich bin in meiner Zeit als langjähriger für abgabepflichtigen Unternehmen gewählter Vorsitzender des Beirats nicht müde geworden, die Kolleginnen und Kollegen Beiratsmitglieder auf meiner Seite genau daran zu erinnern und mit dem damaligen Vorsitzenden für die Versicherten, Gerd Pfennig, für einen Ausgleich zwischen den Interessen beider Seiten Sorge zu tragen.

Dieser ist umso erforderlicher, als viele Unternehmen, die auf die von ihnen gezahlten Honorare die Künstlersozialabgabe zahlen, zumachen könnten, wenn es keine Künstlerinnen oder Publizisten gäbe. Niemand würde dann mit Theater, mit Konzerten, mit Galerien, mit Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, mit Filmen, mit Werbeagenturen, Modehäusern, mit Hörfunk und Fernsehen und vielem mehr irgendwelche Einnahmen erzielen oder eine öffentliche Finanzierung erhalten. Die Künstler und Publizisten sind für alle diese Unternehmen das Kapital, ohne dass gar nichts geht. Klar, man kann sie alle anstellen, aber dann fallen halt die hohen Sozialabgaben an. Dagegen ist die Künstlersozialkasse doch eher eine Spardose. Die meisten Kultureirichtungen zahlen die Künstlersozialabgabe deshalb anstandslos. 

Wie es weiter geht

Corona sitzt vielen selbstständigen Künstlern und Publizistinnen gewaltig in den Knochen. Von heute auf morgen verloren sie ihre Beschäftigung. Ihre Einnahmen stürzten in den Keller. In bewundernswerter Weise hat die Künstlersozialkasse, teils mit Unterstützung aus der Politik, das schlimmste, nämlich den durch Einnahmeausfall bedingten Verlust des Versicherungsschutzes verhindert. Doch schmerzlich gespürt hat die Szene, dass es an einer Arbeitslosenversicherung für selbstständige Künstler und Publizisten fehlt. Sie zu entwickeln, ist alles andere als einfach (https://stadtpunkt-kultur.de/2021/01/wohin-die-reise-fuehrt-ueber-die-zukunft-der-theater-und-die-soziale-lage-der-kuenstler/). Ob die Künstlersozialkasse die richtige Adresse dafür ist, wäre zu überlegen. Auf die lange Bank schieben sollte man das Thema ebenso wenig wie die längst überfällige Frage nach einer ausreichenden Altersversorgung für die selbstständigen Künstlerinnen und Publizistinnen. Denn was jetzt am Ende deren Berufslebens über die aus der Künstlersozialversicherung gezahlt wird, ist alles andere als ausreichend; dafür sind die Lebenseinkommen der Versicherten zu gering und oft zu volatil. Dass eine stärkere Beteiligung der Kreativen an den Einnahmen der großen Internetkonzerne hier weiterhelfen könnten, wie die Politikerinnen und Politiker auf der Feier in Berlin anmahnten, ist zweifelsohne zutreffend. Es gibt also viel zu tun, packen wir es an, bevor die Legislaturperiode vorbei ist. Wahlen kommen, im Gegensatz zu Weihnachten, immerhin weniger plötzlich. Die nächste Bundestagswahl ist, so wie es aussieht, im Herbst 2025, also in zwei Jahren. Und im Januar 2025 beginnt der Wahlkampf, vor allem unter den streitlustigen kleineren Partnern der jetzigen Koalition. Dann wird sich niemand mehr auf grundsätzlich Neues verständigen wollen. Es ist also fast fünf vor zwölf.

Sommerbespielung oder Sommerloch? Sollen die Theater im Sommer öffnen?

Ganz so einfach hat es die Kultur mit dem Sommerloch nicht. Wie immer gibt es zwar mal mehr mal weniger spektakuläre Inszenierungen in Salzburg oder Bayreuth, in Avignon und Aix en Provence. In Locarno werden die Filmfestspiele eröffnet und beim Piano-Festival in Roque d´Antheron reiht sich ein gut besuchtes Spitzenkonzert an das nächste. Auch sonst ist sommerlich einiges los hierzulande, von der Bachwoche in Ansbach über die Ruhrtriennale bis zum Musik Festival Schleswig-Holstein. Aber ein Ereignis wie die Documenta, die zuletzt den kulturpolitischen Erregungspegel auf dem Höhepunkt hielt? Fehlanzeige! Da nun fällt es dem Deutschen Kulturrat auf, dass es in Berlin gerade mal kein Theater gibt. Es sind Sommerferien. Nichts scheint da näher zu liegen, als zu fordern, die Schauspieler, Sängerinnen, Tänzer, Musikerinnen und wer sonst noch so im Theater beschäftigt ist, mögen doch mal raus aus der sommerlichen Hängematte. Damit endlich mal auch in der Hauptstadt etwas los ist. Deswegen soll Schluss sein in Zukunft mit den Sommerferien der Theater, nicht nur in Berlin, gleich in ganz Deutschland. Und schon gibt es im teils regnerischen, teils überhitzten August eine kleine Debatte.

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Warum es in den Theatern die Sommerpause gibt

Es war in früheren Zeiten mal üblich, sich die Frage zu stellen, warum etwas so ist, wie es ist, bevor man vorschlug, es zu ändern. Das ist nicht mehr so ganz in Mode, macht aber trotzdem Sinn. Die Erklärung für den sommerlichen Mangel an Theatererlebnissen in den Städten dieser Republik ist einfach: Die Menschen fahren in die Sommerferien. Ganz so leicht wie sonst ist es also nicht, die Säle etwa in Oberhausen, Kaiserslautern oder Magdeburg zu füllen. Das gelingt in den Jahreszeiten Herbst, Winter und Frühjahr schon etwas besser, falls nicht gerade Corona sein Unwesen treibt. Und was liegt da näher, auch die geplagten Mitarbeiter sowie -innen ebenfalls in den Urlaub zu schicken. Oder Ihnen zu ermöglichen, da mal an Vorstellungen mitzuwirken, wo gerade die Leute sind, siehe oben. Das Bayreuther Festspielorchester und der dortige Opernchor bestehen nahezu ausschließlich aus Sängerinnen und Musikern, die im deutschen Stadt- und Staatstheater dank des Ensemble- und Repertoirebetriebs feste Engagements haben. Manche Schauspielerin steht im idyllischen Salzburg auf der Bühne, was natürlich für das offenkundig zu Hause gebliebene nord-östliche Großstadt-Milieu in Berlin, bei aller Attraktivität, bedauerlich ist.

Klimaaktivisten in Salzburg

Klimaaktivisten kleben sich auf Straßen und Rollbahnen fest, haben es zwecks Erzielen von Aufmerksamkeit aber auch auf die Kultur abgesehen. Sie kleben sich an Kunstwerken berühmter Künstler fest, was natürlich schon, von der berechtigten Zielsetzung des Klimaschutzes abgesehen, reichlich daneben ist. Neulich haben einige Aktivisten in der Premiere des Salzburger „Jedermann“ ihren Protest herausgeschrien. Zunächst haben offenkundig viele Besucher gedacht, das gehöre zur Inszenierung, was zeigt, wie schön Theater ist. Man schwebt als Zuschauer eine Zeit lang zwischen Spiel und Realität. Wo wird einem das sonst geboten? Aber darum geht es hier nicht. Es wird zuweilen die Frage aufgeworfen, warum es für Klimaaktivisten so interessant ist, Kunst und Kultur ins Visier zu nehmen. Nun, ein Teil des Klimaproblems liegt im Tourismus. Die Menschen verreisen nicht nur, um in der Sonne der Adria zu brutzeln und auf Berge zu klettern (oder gar zu radeln), sondern auch, um sich die Kunstschätze dieser Welt anzusehen oder die einschlägigen Theater- und Musikfestivals zu besuchen. Wer schauen will, was das heißt, möge mal im Sommer nach Venedig, Florenz oder Siena reisen. Deshalb ist es nicht überraschend, dass sich Klimaschützer an der Kultur festbeißen, zumal das Ankleben an einer Bretterbude am Strand von Mallorca oder an den Schweizer Gipfeln von Eiger, Mönch und Jungfrau entweder ad eins weniger spektakulär oder ad zwei ziemlich aufwendig wäre. Jetzt zu fordern, aus Tourismus-Gründen die Theater sommerlich zu öffnen, ist angesichts dessen vielleicht eher kontraproduktiv. Es verkennt zudem, dass gerade die deutsche Stadttheaterkultur schon per se zum Klimaschutz beiträgt. Wer nämlich in seinem Leben in Sachen Musik und Theater etwas zu sehen und zu hören bekommen möchte, muss von Gelsenkirchen oder Memmingen, von Gera oder Aalen nicht nach Berlin, München oder Leipzig reisen, sondern kann mit dem Fahrrad ins Theater fahren. Kultur in der Stadt ist eben vor allem Kultur für die Stadt und angesichts der Klimakrise mehr denn je.

Betriebsferien und Tarifverträge

Es ist eine Binsenweisheit: Theater produzieren ist ein kollektiver Prozess. Zahlreiche Menschen arbeiten dabei Hand in Hand, künstlerisch, technisch und organisatorisch. Aus diesen Prozessen kann man nicht einfach „Bausteine“ herauslösen. Individuelle Ferien einzelner Arbeitnehmer finden also im Theater regelmäßig nicht statt. Schon die Bewältigung der alltäglichen Erkrankungen und der immer wieder von Künstlerinnen und Künstlern gewünschten Gastierurlaube für Film und Fernsehen stellen viele Theater vor große Herausforderungen. Also geht Urlaubsgewährung nur mit Betriebsferien. 45 Kalendertage (!) sehen die einschlägigen Künstler-Tarifverträge Normalvertrag Bühne (NV Bühne) und Tarifvertrag für Musiker in Konzert- und Theaterorchestern (TVK) dafür vor. Um Mitarbeiterinnen, die Kinder haben, die Möglichkeit zu geben, mit diesen den Sommerurlaub zu verbringen, sollen zwei Drittel dieser Tage in den jeweiligen Theater- und Konzertferien genommen werden, die sich an den örtlichen Schul-Sommerferien orientieren. Das andere Drittel kann dann zu einer anderen Jahreszeit stattfinden. Also gibt es tarifvertraglich die Möglichkeit der, wenn auch eingeschränkten, Sommerbespielung, und sie wird genutzt, etwa bei den Domstufen-Festspielen der Oper in Erfurt.

Die Theaterferien ließen sich fraglos verlegen. Will man aber an dem sozialpolitischen Ziel des Familienurlaubs festhalten, stünden andere Schulferien mit notwendiger Länge (30 Kalendertage) gar nicht zur Verfügung. Zudem finden die längeren Ferien an Ostern und über den Jahreswechsel statt, in der Regel für die Theater angesichts der Besucherfrequenz sehr einnahmeträchtige Zeiten, in den großen Standorte selbst unter touristischen Aspekten. Und vielleicht tut ja auch den Theaterbesuchern in Berlin mal eine Sommerpause gut, weil sie lieber an den Wannsee fahren und abends irgendwo auf der Terrasse sitzen.

Ensemble und Repertoire

Man solle sich ein Beispiel am Broadway nehmen, hieß es in einem Debattenbeitrag. Dort seien die Theater nicht öffentlich finanziert und könnten sich deswegen gar nicht leisten, im Sommer zu schließen. Das klingt plausibel, ist aber unsinnig. Der Broadway arbeitet ensuite, es wird also über Wochen, manchmal Monate, zuweilen Jahre das gleiche Stück gespielt. Nur abends ist der ganze Betrieb und seine Mitarbeiter gefordert, tagsüber kaum. Es gibt für die künstlerisch und nichtkünstlerisch an den Produktionen Beteiligte weder mehrere Produktionen gleichzeitig noch einen parallelen Probenbetrieb, wie er im Stadttheater geprägt von Ensemble und Repertoire üblich ist. Viele Rollen sind am Broadway von vornherein doppelt besetzt oder ihre Besetzungen können kurzfristig ersetzt werden. Zudem hat New York 17 Millionen Einwohner, ist also hinsichtlich des Zuschauerpotentials selbst mit München oder Berlin nicht vergleichbar. Und Ferien müssen bei längeren Engagements dort auch gewährt werden, die Frage ist nur wann und wieviel. Da steht Deutschland mit seinen 45 Kalendertagen doch vergleichsweise künstlerfreundlich da, zumal hierzulande viele Künstlerinnen und Künstler nicht nur, wie oft in den USA, Engagements über einige Monate haben, sondern über eine ganze Spielzeit, meist über mehrere Spielzeiten, die Musiker sogar unbefristete Arbeitsverträge. Die Quintessenz: Der Vergleich von Äpfeln und Birnen führt wie immer in die Irre.

Die Kulturinstitution und ihre kaufmännische Geschäftsführung

Im Februar 2023 wurde der Abschlussbericht zur documenta 15 veröffentlicht, den das Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung dieser Ausstellung erstellt hatte. Mit Rücksicht auf die heftigen Antisemitismusvorwürfe gegen die Kasseler Veranstaltung war dieser mit Spannung erwartet worden und wurde dementsprechend auch ausführlich kommentiert. Man sah sich in den Antisemitismusvorwürfen hinsichtlich einzelner Ausstellungsstücke weitgehend bestätigt, betonte aber auch das Bemühen des Berichts, das kuratorische Konzept der künstlerischen Leitung nachzuvollziehen sowie das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Freiheit und deren Grenzen aufzuzeigen. Eines blieb jedoch weitgehend unbeachtet: Das den Abschlussbericht verfassende Gremium hatte sich ausgiebig mit der Rolle der Generaldirektorin der Documenta gGmbH befasst. Es war dabei zu allgemeinen Erkenntnissen über die Aufgaben der kaufmännischen Leitung einer öffentlich getragenen Kulturinstitution gekommen. Diese Feststellungen lohnen ein genaues Hinsehen.

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Die Doppelspitze

Kultureinrichtungen werden heute meist durch eine Doppelspitze geleitet. Es gibt stets einen künstlerisch und einen kaufmännisch Verantwortlichen. So war es auch bei der documenta 15, mit der Besonderheit, dass die künstlerische Verantwortung einem Kollektiv, der indonesischen Künstlergruppe ruangrupa,übertragen wurde. Die kaufmännisch verantwortlichen Leitungs-Personen tragen oft den Titel Kaufmännischer Direktor, Geschäftsführende Direktorin oder Verwaltungsdirektor. Bei der documenta 15 war es die als Geschäftsführerin der gemeinnützigen Documenta gGmbH agierende (und später zurückgetretene) Generaldirektorin, die die kaufmännische Verantwortung trug. Die Documenta gGmbH wird öffentlich getragen von den Gesellschaftern Stadt Kassel und Land Hessen, ist also praktisch eine öffentlich getragene Kultureinrichtung in privater Rechtsform.

Eine „staatliche Stelle“ in der Kultureinrichtung

Unmissverständlich erkennt der Abschlussbericht an, „dass Personen, die eine künstlerische Aufgabe erfüllen, die der Staat geschaffen hat, indem Orchester und Theater gegründet oder Ausstellungen organisiert wurden, sich, obwohl diese Personen mehr oder minder intensiv in einer staatlichen Organisation aufgehoben sind, auf die Kunstfreiheit berufen können“ (S. 109 des Abschlussberichts). Damit sei ihr „Handeln auch im Rahmen dieses staatlichen Auftrags von der Kunstfreiheit geschützt“. Das aber „gelte ebenso deutlich aber nicht für die Geschäftsführung der Documenta gGmbH“ (S. 110). Diese sei als Organ der öffentlich getragenen Gesellschaft eine „staatliche Stelle“, die „besonderen Pflichten unterworfen“ sei (S. 113). „Die Linie zwischen grundrechtlicher Freiheit einerseits, staatlicher Verantwortung … andererseits verläuft damit durch die Organisation der Documenta gGmbH hindurch“, heißt es weiter (S. 110).  Zudem sei die direkt für die künstlerische Leitung arbeitende künstlerische Abteilung der documenta 15 (Artistic Team) „der Geschäftsführung weisungunterworfen“ (S. 110), offenkundig nach Auffassung der Autoren und Autorinnen des Abschlussberichts auch dort, wo durch solche Weisungen in künstlerische Prozesse und Entscheidungen eingegriffen wird. Keinesfalls dürfe sich die Geschäftsführung als staatlicher Teil der Organisation „einfach mit der künstlerischen Leitung identifizieren“. Die Geschäftsführung genieße keine Kunstfreiheit und sei „an die … verfassungsrechtlichen und politischen Vorgaben gebunden“. Diese müsse sie „auch gegenüber der künstlerischen Leitung vertreten“ (S. 114). „Umso mehr ist sie dazu verpflichtet, wenn sie von anderen Organen der Gesellschaft (z. B. der Aufsichtsrat, der Verf.) dazu aufgefordert wird“ (S. 114/115). Eine Relativierung aller dieser Standpunkte erfolgt dann lediglich mit dem Hinweis, „die Pflichten der Geschäftsführung gegenüber der künstlerischen Seite (könnten) nicht einfach durchgesetzt werden.“ Die Durchsetzung unterliege „dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit“ (S. 115).

Das Verhältnis zwischen kaufmännischer und künstlerischer Leitung nicht überspannen

Einem derartigen staatstragenden Verständnis der administrativen Leitung einer öffentlichen Kultureinrichtung ist mit aller Deutlichkeit entgegenzutreten. Dass die Beziehung zwischen der künstlerischen Leitung einer öffentlich getragenen Kulturinstitution einerseits und deren Administration andererseits gewisse Gegensätzlichkeiten aufweist, liegt in der Natur der Sache. Geht es der einen Seite um die möglichst grenzenlose Verwirklichung ihrer künstlerischen Ideen, kommt der anderen die Aufgabe zu, die Gelder zusammenzuhalten, Organisationsmaßstäbe durchzusetzen und rechtliche Rahmenbedingungen einzuhalten. Das alles ist schwierig genug. Gerade deshalb ist davon abzusehen, die kaufmännische Leitung als langen Arm des Staates in der Kultureinrichtung zu begreifen. Es ist kontraproduktiv und überspannt die Anforderungen an die kaufmännische Geschäftsführung erheblich. Erst recht gilt dies, wenn die öffentlich getragene Kulturinstitution in privater Rechtsform organisiert ist. Dann nämlich ist auch der kaufmännische Geschäftsführer bei der privaten Gesellschaft (nicht beim Träger, also beim Staat bzw. der Kommune) angestellt und ausschließlich dieser Gesellschaft sowie deren Aufgaben und Zielsetzungen verpflichtet.

Zudem ist der Staat gehalten, auch öffentlich getragene Kulturbetriebe so zu organisieren, dass sie mit der notwendigen künstlerischen Freiheit agieren können. Dies ist dann nicht mehr gewährleistet, wenn etwa die kaufmännische Geschäftsführung jenseits ihrer ökonomischen, organisatorischen und rechtlichen Verantwortung in künstlerische Prozesse und Entscheidungen, etwa durch Weisungsrechte, eingreifen kann. Das versucht jede gute Geschäftsordnung einer Kultureinrichtung durch klare Abgrenzung von Kompetenzen zu vermeiden. Denn es geht auch darum, Friktionen zwischen der künstlerischen und kaufmännischen Leitung des Betriebs möglichst auszuschließen. Dazu gehört ein Selbstverständnis der kaufmännischen Leitung, die künstlerische Arbeit selbst dort, wo sie an Grenzen stößt, zu ermöglichen und gegen Kräfte von außen zu verteidigen, soweit das unter Einhaltung der Rahmenbedingungen möglich ist. Dieses Selbstverständnis sollte der öffentliche Träger nicht unterminieren. Es ist zwar richtig, dass, wie der Abschlussbericht zur documenta 15 feststellt, die kaufmännische Geschäftsführung sich nicht auf die Kunstfreiheit berufen kann, da sie nicht künstlerisch tätig ist. Es ist aber ihre Pflicht, sich in Fragen der Kunstfreiheit vor die künstlerische Leitung zu stellen und diese Freiheit zu verteidigen. Alles andere ist sinnlos. 

Dass es in diesem Kräfteverhältnis die Aufgabe der administrativen Leitung ist, etwa in einem Theater, zwischen der Politik und der Kunst zu vermitteln, steht außer Frage. Es ist die kaufmännische Direktorin, die bei der Intendanz für die berechtigten Interessen der Politik werben muss. Ebenso muss sie versuchen, den politischen Vertretern des Kulturbetriebs (Bürgermeister, Ministerin, Dezernenten, Abgeordnete) die künstlerische Arbeit nahe zu bringen. Administration eines Kulturbetriebs bleibt also eine Gratwanderung zwischen der Freiheit der Kunst und den politischen wie ökonomischen Sachzwängen. Das sollte jeder wissen, der sich für ein solches die Kunst verwaltendes Amt bewirbt.

Erst, wenn es zu Gesetzesverstößen kommen könnte, haben alle Verantwortlichen des Kulturbetriebs (die Betonung liegt auf alle) alles zu tun, um diese zu vermeiden. Gelingt dies innerhalb der Kulturinstitution nicht, stellen sich für die außerhalb stehenden öffentlichen Stellen Fragen der Rechtsaufsicht. Auch die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren kommt in Betracht, welche im Übrigen die Staatsanwaltschaft Kassel hinsichtlich der documenta 15 schließlich im April dieses Jahres in einem umfangreichen Beschluss ablehnte.

Information und Transformation

Es wird in letzter Zeit viel über die Innovation und Transformation von öffentlichen Kulturbetrieben diskutiert. Dabei fehlt es zuweilen nicht an leeren Phrasen. Nimmt man das Anliegen ernst, dann geht es vor allem um die Modernisierung mancher Kulturbetriebe, die vielleicht auf zu eingefahrenen Gleisen unterwegs sind. Im Sinne einer solchen Modernisierung ist es nicht, die künstlerische Freiheit zurückzudrängen und wieder mehr auf staatliche Kontrolle zu setzen. Es war und ist für die öffentlich getragenen Kultureinrichtung ein Segen, dass man sich daraus in den letzten Jahrzehnten weitgehend verabschiedet hat, indem man den Einrichtungen unnötige Verwaltungszwängen ersparte. Auf diesem Weg muss bei aller Notwendigkeit öffentlicher Mitverantwortung und Finanzierung für Kunst und Kultur weitergegangen werden. Der Reinstallation der Verwaltungsdirektors alter Schule, der sich als verlängerte Stadt- oder Staatsverwaltung verstand, wäre ein Rückschritt.

Was zu beachten wäre. Ein Beitrag zur Reform von ARD und ZDF

Tom Buhrow hat kürzlich eine Rede gehalten. Darin ging es um die Reform von ARD und ZDF. Er sprach zwar nicht als WDR-Intendant und zurzeit amtierender ARD-Vorsitzender, wie er ausdrücklich betonte. So einfach ist es leider nicht. Man kann ja Ämter, die einem übertragen werden, nicht nach Bedarf einfach an- und ablegen wie einen Jägerhut. Oder sich mit einem Amt ausgestattet die Tarnkappe des Privaten überziehen, um bei öffentlicher Rede nicht aufzufallen. Nein, ein Intendant ist ein Intendant. Umso ernster muss man die Worte Buhrows und das, was er als Reformbedarf ausmachte, nehmen. Das gilt umso mehr, als es ziemlich wenig mit dem zu tun hat, was dem aufmerksamen Zuschauer im täglichen Umgang mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auffällt, um nicht zu sagen aufstößt.

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ARD und ZDF zusammenlegen? Orchester, Chöre und Hörfunkwellen abschaffen?

Es war zum einen die Rede von einer Zusammenlegung der beiden großen Systeme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das suggeriert, es gebe vielleicht zu viel davon. Selbst wer einen gewissen Überdruss über die tägliche Programmgestaltung von ARD und ZDF verspürt, dem treibt die Vorstellung, zur täglichen Berieselung der privaten Rundfunkveranstalter gebe es nur noch eine einzige Alternative, eher den kalten Schweiß über den Rücken. Auf ein System (welches?) verzichten, ist keine Lösung. Denn es ist nicht zu leugnen: Immer noch tragen ARD und ZDF mit guten Sendungen im Fernsehen zur allgemeinen Bewusstseinsbildung, zur Aufklärung, zur Kultur in diesem Lande Wesentliches bei.

Das gilt natürlich ebenso für die Radioprogramme in ihrer ganzen regionalen Vielfalt und für die von den ARD-Anstalten getragenen Klangkörper. Auch sie sollen laut Buhrow ja auf den Prüfstand. Warum eigentlich? Machen die Orchester oder die Rundfunkchöre schlechte Musik? Keineswegs, sie gehören ausnahmslos zum Besten, was die Republik musikalisch zu bieten hat. Stören sie mit ihrer herausragenden Qualität das Image etwa des WDR? Das behauptet nicht einmal Tom Buhrow. Oder haben die fünf Hörfunkprogramme des WDR keine Zuhörer? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Findet jemand diese Programme dennoch so schlecht, dass sie eigentlich abgeschafft gehören? Da gibt es zwar den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag (z.B. in den Unterhaltungswellen mehr Inhalt, weniger belanglose Plauderei), aber abschaffen? Nein.

Ablenkung von unangenehmen Debatten oder zeigen wie schlimm es wird

Also was treibt den WDR-Intendanten um? Die Antwort ist einfach: Das Geld. Denn alle diese Vorschläge haben nur ein Ziel, das der Kostensenkung. Ob dieses Sparen Sinn macht, spielt keine Rolle. Und warum das Ganze? Weil es in diesem Lande Kräfte gibt, die sich tagtäglich an der Existenz der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten abarbeiten. Teils ist es Konkurrenzdenken, was sie umtreibt, teils Populismus mit Blick auf diejenigen, denen die aufklärerische Attitüde von ARD und ZDF nicht in den Kram passt und die gerne die Rundfunkgebühr als Zwangsgebühr bezeichnen. Solchen fragwürdigen, meist eher rechtslastigen Tendenzen muss niemand nachgeben. Sicher wollte das Tom Buhrow auch gar nicht. Vielleicht wollte er einfach nur ablenken von der unangenehmen Debatte über Massagesitze in Dienstwagen, Ausstattung von Büros oder den Bau millionenschwerer Funkhäuser. Oder es ging ihm darum, aufzuzeigen, wo das von bestimmten politischen Kreisen geforderte konsequente Einsparen endet: In einem erheblichen Verlust von öffentlich-rechtlichen Programm- und Kulturangeboten. Eine solche Absicht wäre wenigstens von gewisser Raffinesse, wenn auch ein Spiel mit dem Feuer.

Die wirklichen Themen?

Deshalb ist es besser, sich einigen tatsächlichen nicht zu leugnenden Problemen zuzuwenden. Das sind nicht, wie in der öffentlichen Debatte gerne behauptet wird, die Intendantengehälter oder die Pensionsregelungen. Die kann man sich zwar mal in Ruhe anschauen und prüfen, was besser zu machen wäre (z.B. Verzicht auf Boni für leitende Mitarbeiter). Die wirklichen Themen liegen im Programmbereich, in dem, was die Zuschauer und Zuhörer jeden Tag wahrnehmen können. Da gibt es einiges zu tun, will man mit der von Ingo Zamperoni allabendlich gewünschten Zuversicht in die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schauen. Die Lage ist komplex. Hier kann es nur um ein paar Fragen und Thesen gehen, die nicht mehr und nicht weniger als ein Anstoß zur weiteren Debatte sein sollen.

Und weiter: Fragen über Fragen

  1. Wieso spielen die Einschaltquoten nach wie vor so eine entscheidende Rolle? Es ist ja klar, keinem durch eine öffentliche Gebühr finanziertes Rundfunkinstitut kann es egal sein, wie viele Menschen etwas hören oder sehen. Dennoch darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk genauso wenig wie jedes öffentlich geförderte Theater oder Museum der vollständigen Nivellierung mancher Programminhalte anheimfallen, nur um möglichst viel Publikum zu erreichen und dann noch die Einschaltquote zum entscheidenden Maßstab des Erfolgs zu machen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat doch einen öffentlichen Auftrag: Bildung, Kultur, Information, ja auch Unterhaltung (bitte nicht unter einem gewissen Niveau). Was in diesem Sinne gut ist, hat oft nicht die beste Quote. Gerade deshalb gibt es die Rundfunkgebühr. Es soll gerade nicht der Markt die Richtschnur sein.
  2. Wie werden die Einschaltquoten überhaupt ermittelt? Klar, das Prinzip (ca. 5.000 Haushalte mit Messgeräten) ist bekannt. Aber wie repräsentativ sind die ausgewählten Personen? Wie sehr beeinflusst es sie, dass sie wissen, dass bei Ihnen die Einschaltquote gemessen wird? Wie oft wird der Personenkreis gewechselt? Sind bestimmte Vorlieben Kriterium für die Auswahl? Was sind überhaupt die Kriterien dafür und sind sie richtig?
  3. Braucht es eigentlich mehrere ganztägige Fernsehkanäle, die weitgehend auch nichts anderes als das Hauptprogramm bieten, teils sogar nur Wiederholungskanäle sind? Wohlgemerkt ich rede nicht von 3sat und Phoenix oder gar Arte. Ich rede vor allem von ZDF neo und ARD one oder tagesschau 24. Muss man nicht erst einmal neu definieren, was man mit dem Hauptprogramm vor allem am Abend will? Oft sehr teuren Fußball bis hin zu zweitrangigen Pokalspielen? Mehrstündige Quizshows? Ein Krimi nach dem anderen? Die ständige Quasselei in Talkshows mit fast immer den gleichen Gesprächspartnern? Talkformate, die vorrangig im Fokus der Werbestrategie von Agenturen stehen, um dort das neuste Buch einer Autorin, den neusten Film eines Regisseurs oder die anstehende Tournee eines Musikers oder einer Sängerin zu bewerben? Ständiges Hin- und Herschieben der Nachrichtensendungen, wie es insbesondere in der ARD mit den Tagesthemen geschieht, bis hin zum vollständigen Ausfall? Überzeugend ist das alles nicht.
  4. Wann wird endlich die Werbung abgeschafft? Nicht, dass ich im Prinzip etwas dagegen habe. Ich kann schon nachvollziehen, dass man das Geld, das mit der Werbung eingenommen wird, gut gebrauchen kann. Aber macht es einen modernen, fortschrittlichen Eindruck, wenn vor der Tagesschau vor allem mit Medikamenten etc. geworben wird? Und ist es ökologisch zeitgemäß, wenn die Werbung im Hörfunk mal wieder das Billigfleisch im Discounter anpreist? Das Image fördert so etwas nicht. Man sollte einfach die Rundfunkgebühr ein wenig erhöhen und die Werbung den Privaten überlassen. Dann lässt deren Kritik an der Rundfunkgebühr vielleicht nach.
  5. Müssen in manchen Radioprogrammen (wohlgemerkt nicht in den Kulturwellen) dauernd die gleichen Musiktitel gespielt werden? Das nur, um die Klangfarbe im Sinne der Erkennbarkeit sicherzustellen? Manchmal beschleicht Hörerinnen und Hörer der Eindruck, die eine oder andere Größe der Popmusik habe nur einen einzigen erfolgreichen Song kreiert. Merkt das niemand? Ist das egal? Oder unterliegt man bei der Gestaltung der Musikfarbe ebenfalls zu sehr dem Einfluss der Werbestrategie von Musikverlagen und Künstler-Agenten?
  6. Wieso fällt trotz all dieser Fragen manchem Intendanten vor allem ein, dass in der Kultur gespart werden muss? Neulich war wieder zu lesen, dass der Intendant des SWR der Auffassung sei, die einzelnen ARD-Anstalten würden sich in Zukunft kaum noch eine ganztägige Kulturwelle leisten können? Was kostet sie denn im Vergleich zu allem anderen? Wie sind solche Überlegungen mit dem Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (s.o.) zu vereinbaren? Wieso steht die Kultur bei den Intendanten und Intendantinnen immer ganz unten auf der Prioritätenliste? Solche Fragen werden einfach vorsichtshalber gar nicht erst beantwortet.
  7. Natürlich kann man überlegen, ob es der Föderalismus wirklich erfordert, dass wir mehrere ARD-Anstalten haben. In Großbritannien gibt es nur die eine BBC. Aber sollten wir nicht besser den Rundfunk-Föderalismus als ein hohes Gut verteidigen? Er stellt eine große, auch politische Vielfalt sicher. Er ist eine Art Bollwerk gegen den Zentralstaat, der zurecht nach den historischen Erfahrungen hierzulande stets von Skepsis begleitet wird. Alles, was in Berlin beim Bund geschieht, wird durch die regional angebundenen ARD-Anstalten unter dem Blickwinkel der unterschiedlichen Länder gespiegelt. Zudem sind die Anstalten Teil der Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Region, tragen in einer globalisierten Welt zu ihrem Heimatgefühl wesentlich bei. Man will doch als Bayer wissen, was so in Bayern los ist und interessiert sich nicht für Wuppertal, allenfalls wenn schon für das dortige immer noch weltberühmte Tanztheater oder die Schwebebahn. Und im Übrigen gibt es ja ohnehin für die bundesweite Hörfunkversorgung den unverzichtbaren Deutschlandfunk, vom ZDF beim Fernsehen mal ganz zu schweigen.

Am Schluss

Es könnte noch munter so weiter gehen, vielleicht aber ist das vorerst Gesprächsstoff genug. Um der Kritik vorzubeugen: Ja ich weiß, auch das hier ist ein selektiver Blick. Vielleicht reicht er jedoch ein wenig über die bisherige Debatte hinaus. Eines ist er jedenfalls nicht: Lobbyismus, den leider Tom Buhrow in seiner Rede allen, die sich für bestimmte Ziele einsetzen, leichtfertig unterstellt hat. Wer mehr Kultur, mehr sachliche Information, ein höheres Unterhaltungsniveau im öffentlich-rechtlichen Rundfunk fordert, ist nicht frei von lobbyistischen Interessen. Wer ist das schon? Aber er oder sie scheren sich vor allem um das gesellschaftliche Klima in diesem Lande, um die Debatten-Kultur und um das Bildungs- und Erkenntnisinteresse der Menschen. Und da können und müssen ARD und ZDF ihren spezifischen Beitrag leisten. Tun sie das nicht oder nicht ausreichend, riskieren sie ihre Existenzberechtigung. Das kann niemand wollen, der sich über die Zukunft hierzulande ein paar ernste Gedanken macht.

„Die Humanisierung der Organisation“ und was sie für Kultureinrichtungen bedeutet – eine Buchbesprechung

Es ließ die Kulturszene schon aufhorchen, als der Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, Peter Laudenbach, zusammen mit dem Wirtschaftsethiker Kai Matthiesen und der Soziologin Judith Muster ein Buch mit dem Titel „Die Humanisierung der Organisation“ vorlegte. Denn kaum ein Titel hätte sich besser einfügen können in die allgemeine vor allem in Theatern und Orchestern geführte Debatte über Machtmissbrauch und Machtkontrolle, geht es doch in dieser Debatte vor allem um den Schutz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor der sooft bemühten (eher eingeschränkten) Alleinherrschaft (einzelner) egomaner Intendanten und Intendantinnen. Bei genauem Hinsehen mögen jedoch manchem schon Zweifel am Nutzen des Buches gekommen sein, wenn es im Untertitel heißt: „Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert“. Das liegt so gar nicht auf der Linie interner, oft sehr emotional geführten Auseinandersetzungen über die Struktur eines Kulturbetriebs. Umso mehr drängt es den interessierten Kulturbeobachter zu erfahren, was hinter der 250 Seiten starken Publikation steckt.

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Wer wissen will, was das Anliegen dieses Buches ist, liest am besten sein letztes Kapitel „(Kein)Ende“ (S. 245 ff). Es gehe nicht darum, so heißt es dort, dass die Organisation „in ihren Programmen und Strukturen auf die Menschen und ihre Bedürfnisse Rücksicht“ nehme. Humanisierung wird hier nicht „als Kompromiss zwischen Erfordernissen der Organisation und den … von außen an sie herangetragenen Wünschen nach Beachtung der Menschenwürde“ gesehen. Vielmehr liege die Humanisierung allein im „Effekt guten, über sich selbst aufgeklärten Organisierens“ (S. 248). Im übertragenen Sinne heißt das, je besser der Betrieb organisiert ist, umso mehr ist ein humaner Umgang des Betriebes mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sichergestellt.

Das ist eine kühne These, vor allem mit Blick auf einen Betrieb, der wie etwa das Theater von der Phantasie und den künstlerischen Impulsen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebt, der zuweilen gerade aus einem gewissen Maß an Unorganisiertheit, aus seiner Spontanität und seinem Improvisationsgeist seine Inspiration erfährt. Und doch muss man sich schon dieser These stellen, um zu erfahren, was in einem Kulturbetrieb tatsächlich besser zu machen ist, um eben die Gefahr der oft beklagten Übergriffigkeit des Betriebes und einzelner Leitungspersonen einzudämmen.

Die Organisation und ihre Mitglieder

Laudenbach, Matthiesen und Muster gehen von der Annahme aus, der ganze Mensch gehe die Organisation, in der sie arbeiten, nichts an. Der Zugriff auf die ganze Person habe im normalen Arbeitsleben nichts verloren (S. 13). Insoweit sei die Annahme, „Kern und Kernproblem einer Organisation seien die Menschen, die in ihr arbeiten“ (S. 10) grundsätzlich falsch. Sie mache Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anfällig für die Personalisierung von Organisationsproblemen und anderen Grenzüberschreitungen“ (S. 10). „Statt den Menschen für den Quell allen Organisationsübels zu halten und entsprechend zu bearbeiten“, plädiere man für die „Konzentration auf die Organisation und ihre Struktur“ (S. 15). Man müsse zwischen Menschen und Organisationsmitgliedern unterscheiden (S. 28). „Management-Methoden, die darauf zielen, die Barrieren zwischen Mensch und Organisation einzureißen,“ seien „nichts anderes als Anleitungen zur Übergriffigkeit“ (S. 30). In Organisationen wie den Unternehmen der Kreativwirtschaft, lerne man schnell, die eingeforderte Authentizität zu simulieren und die entsprechende Selbstdarstellungs-Performance zu zeigen“ (S. 32). Man könne „das als Unehrlichkeit beklagen, aber die Selbstdarstellungs-Performance“ antworte „lediglich klug auf die Verhaltenszumutung der Organisation“ (S. 32/33).

Das, so muss man entgegenhalten, ist von der Realität eines Kulturbetriebes deutlich entfernt. Das Selbstverständnis der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen etwa eines Theaters ist vielfach eine starke Identifikation mit den Zielen des Betriebes. Das ist sogar bei vielen Menschen der Grund für die Entscheidung, in einem künstlerischen Betrieb zu arbeiten. Vor allem Künstlerinnen und Künstler erwarten in einem Kulturbetrieb ein geringeres Maß an Entfremdung als in anderen Arbeitszusammenhängen. Ob sie damit immer richtig liegen, darf zwar bezweifelt werden. Doch praktisch zu postulieren, die Identifikation mit der Arbeit, das Herzblut und das Brennen für seine Tätigkeit herunterzufahren in die Rolle des Organisationsmitglieds mit „Selbstdarstellungs-Performance“ erscheint vielleicht ein wenig weltfremd, zumindest – im Interesse aller Beteiligten – vielleicht nicht unbedingt wünschenswert. Das gilt für den gesamten Berufsalltag, nicht nur in der Kreativwirtschaft. Will man in dieser Distanzhaltung zu seiner Arbeit wirklich sein ganzes Berufsleben überstehen? Und sucht man nicht nach Kooperationsbereitschaft, Solidarität und menschlichem Umgang im Büro, in der Werkstatt oder wo auch immer? 

Organisationsmängel und Personalisierung

Zurecht hingegen, wenden sich die Autorin und Autoren des Buches jedoch gegen die Personalisierung der Organisationsmängel (S. 35 ff). Es kann in der Tat nicht darum gehen, „Persönlichkeiten umzubauen, um Organisationsdefizite zu kompensieren“ (S. 40). Insofern ist es richtig, Coachings nicht zu überschätzen, ja sie sogar „als Machtinstrument“ zu sehen, das gezielt „sei es zur Belohnung, sei es als Sanktionsmaßnahme“, ja sogar als „Demütigungs-Ritual“ (S. 42) eingesetzt werde. 

Was dabei bis zu einem gewissen Grad ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass die Organisationsmitglieder eben Menschen mit ihren Stärken und Schwächen sind. Gelegentlich wird das eingeräumt, wenn auch, mit Verlaub, ein wenig im Schwarz-Weiß-Muster. So heißt es über die Vorgesetzten auf S. 64: „Der Grund für Verhaltensauffälligkeiten muss nicht zwangsläufig bei den jeweiligen Persönlichkeiten liegen. Ausnahmen sind Exzentriker und Irrläufer in Machtpositionen.“ Und auf S. 107/108: „Müssen Vorgesetzte ständig ihre Autorität und Verfügungsgewalt über die Untergebenen betonen, signalisiert das eine problematische Struktur (oder einen problematischen Charakter der oder des Vorgesetzten).“ Dass es unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, gerade im Theaterbetrieb, Exzentriker und Irrläufer gibt oder solche mit einem problematischen Charakter, scheint aus Sicht der Autorin und Autoren eher unwahrscheinlich zu sein und ist im Zweifelsfall offenkundig durch organisatorische Maßnahmen auszugleichen. Ganz so einfach dürfte es wohl nicht sein und die Verfasser des Buches wissen das. Denn nicht umsonst heißt es im Sinne der Durchsetzung von Organisationsanliegen, um nicht zu sagen Arbeitgeberinteressen auf S. 237: „Die Möglichkeit der Entlassung diszipliniert die Mitglieder.“ Da wird man sicher nicht nur an betriebsbedingte Kündigungen gedacht haben, sondern auch an die vielen Fälle der personenbedingten und vor allem verhaltensbedingten Kündigungen der Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber, vom Nichtverlängerungsrecht im deutschen Stadttheater ganz zu schweigen (https://stadtpunkt-kultur.de/2020/12/wie-sozial-sind-der-befristete-arbeitsvertrag-und-das-nichtverlaengerungsrecht-im-deutschen-theater/).

Die Bedeutung der verbindlichen Regelung

„Weil die gegenseitige Bindung auf Zeit rein funktional ist, sind die formalen Mitgliedschaftsregeln das entscheidende Steuerungsinstrument, mit dem die Organisation ihre Verhaltenserwartungen gegenüber den Mitgliedern definiert. … Jede Organisation schreibt sich ihre eigene Verfassung.“ heißt es auf S. 91/92. Das genau ist der wesentliche Punkt, egal wie das Verhältnis der Organisation zu ihren Mitgliedern nun konkret ausgestaltet sein mag. Denn will man die Machtbefugnisse vor allem von Leitungspersonen einer gewissen Kontrolle unterziehen, bedarf es der genauen Regelung von Befugnissen, Entscheidungsfindung und Kommunikationsverpflichtungen. Statuten wie Satzungen, Geschäftsordnungen  sind dafür die geeigneten Mittel, ebenso Stellenbeschreibungen, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, auf die sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berufen können. Da gibt es in vielen Kulturbetrieben schon noch Nachholbedarf.

Ebenso entscheidend ist jedoch die Feststellung, dass formale Regeln Verhältnisse benötigen, in denen man diese Regeln einhalten kann (S. 104). Die besten Regeln nützen nichts, wenn der Betrieb etwa infolge von Überbeanspruchung oder Personalmangel überfordert ist. „Kluges Organisieren heißt, eine formale Ordnung zu schaffen, in der die richtigen Leute in Führung gehen können, und ihnen die dafür notwendigen Mittel geben“ (S. 188). Oder anders ausgedrückt: „Gegen marode Anlagen und unzumutbare Arbeitsbedingungen hilft kein Handbuch“ (S. 99). Genau an dieser Verfügbarkeit von „Mitteln“, besser Personal hapert es gerade in vielen Kulturbetrieben. Kürzungen von öffentlichen Zuwendungen in den letzten Jahrzehnten haben dazu ihren verhängnisvollen Beitrag geleistet. Erst in letzte Zeit nimmt im politischen Raum das Bewusstsein dafür und die damit gekoppelte Verbesserungsbereitschaft zu. Ob das angesichts der vorhandenen und bevorstehenden wirtschaftlichen Krisen und den daraus folgenden Verknappungen der öffentlichen Haushalte auch in Zukunft so sein wird, bleibt abzuwarten. Angesichts dessen wird sich die Frage nach der Produktionsintensität stellen, die etwa in den deutschen Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen erheblich ausgeweitet wurde. Dies erhöhte die Verteilungskämpfe und die daraus resultierenden Konflikte, „die unteren Ebenen der Hierarchie wurden in den organisierten Nahkampf gezwungen“ (S. 156). Das dauerhaft zu ignorieren, wird nicht helfen, im Zweifel muss die Angebotspallette im Verhältnis zu den verfügbaren Produktionsmitteln auf den Prüfstand. „Satt die aus dem Überangebot neuer Dienste erwachsenden Spannungen zu ignorieren,“ ist „eine Konsolidierung des zu breiten Angebots notwendig“ (S. 157).

Keine unorganisierte Kollektivleitung in Kulturbetrieben

Eine Absage erteilen die Verfasser von „Die Humanisierung der Organisation“, ohne das ernsthaft zu artikulieren, den verbreiteten Traumtänzereien der unorganisierten Kollektivleitung eines Kulturbetriebs nach dem Motto, wir sind und werden uns in allem einig (siehe dazu auch https://stadtpunkt-kultur.de/2022/09/ueber-kollektive-verantwortung-in-kultureinrichtungen/). Als Beispiel dient dem Buch ein von ein paar Freunden ins Leben gerufenes Start-up, aus dem am Ende schließlich im Erfolgsfall ein Unternehmen wird. Die Kennzeichen einer Start-up-Gründergruppe  werden beschrieben mit Begriffen wie „persönliche Nähe“, „diffuse Form der Mitgliedschaft“ sowie „Hierarchiefreiheit“ (S. 67). Das erinnert deutlich an jene oft beschworenen kollektiven Theaterleitungen „mit flachen Hierarchien“, wie es dann gerne heißt. Aber ein Theater ist (wie ein erfolgreiches Start-up-Unternehmen) eine Organisation, die eben doch Hierarchien, konkrete „ Zwecke, personenenunabhängige Verhaltenserwartungen, klar definierte Mitgliedschaftsbedingungen und Kommunikationskanäle“ (S. 67), also Statuten benötigt, soll die Organisation funktionieren (S. 69) und zwar möglichst konfliktfrei. Also bedürfen Formen der kollektiven Theaterleitungen klarer Strukturen. Je größer das Unternehmen nämlich ist, umso drängender werden die „Wünsche nach formalen Zuständigkeiten, geregelten Entscheidungsprozessen, und Kommunikationswegen“ (S. 70).

Auch die zunehmende Neigung, in Betrieben auf ungeregelte Interaktion zu setzen, also alles zu besprechen, wird realistisch als wenig hilfreich eingeschätzt. „Offene Workshop-Formate können zeitaufwendig sein, auch weil sie die ganze Last von Takt, Selbstdarstellungsbedürfnissen und elementaren Verhaltensweisen tragen“ (S. 198). „Für die Organisation … sind die Ergebnisse eines Workshops in ungeordneter Interaktion vor allem eines: unbrauchbar“ (S. 199). Umso wichtiger ist es, wie es etwa im Theatermodell Karlsruhe geschehen ist (https://stadtpunkt-kultur.de/2022/04/das-theatermodell-karlsruhe/), auf klare Gremienbefugnisse zu setzen und den Gremien über Entscheidungsstrukturen (Mehrheit) effektives Arbeiten zu ermöglichen. Denn „die Mitglieder in die bunte Welt der Handlungsfreiheit zu stoßen dient nicht der Humanisierung der Organisation, sondern der Durchsetzung des Zweckprogramms der Organisation zulasten der Personen. Ein gewisses Maß an Routineprogramm … ist notwendig, um der Gier der Organisation und ihrer Zweckprogramme Einhalt zu gebieten“ (S. 165).

Die Gefahr der Überregulierung

Die Autorin und Autoren warnen zugleich vor jeder Form der Überregulierung (S. 111 ff.). Eine vollkommene Absicherung von Entscheidungsprozessen kann zur vollständigen Blockade führen, die Regeleinhaltung wird zum Selbstzweck. Es dürfe nicht zu einer Überbordenden Bürokratisierung mit lähmenden Folgen kommen (S. 116). Compliance-Abteilungen müssten damit umzugehen verstehen, dass es Regelverletzungen gibt, ohne solche Verletzungen benötige ein Unternehmen keine Compliance-Abteilung. Es gebe sogar eine Art „brauchbare Illegalität“, um die Organisation funktionsfähig zu halten (S. 119 ff.). „Im Alltag sind es die Mitglieder der Organisation, die das Regelwerk brauchbar halten – am besten so, dass die Funktionsfähigkeit der Organisation so wenig Schaden nimmt wie die Würde ihrer Mitglieder“ (S. 118). 

Mit diesen Feststellungen sind alle die zur Raison zu rufen, die aus unterschiedlichen Gründen zu einer Durchregulierung der Betriebe neigen. Das sind zum einen die öffentlichen Träger, also die Städte und Länder, die mit überbordenden Vorschriften tief in die Kulturbetriebe hineinregeln (z.B.: https://stadtpunkt-kultur.de/2022/02/vergaberecht-und-kunst-ueber-die-unterschwelle-im-kulturbetrieb/). Das sind zum anderen auch Vertreter des Personals (Personal- und Betriebsräte) bzw. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die glauben, Machtmissbrauch sei am besten dadurch auszuschließen, das alles und nichts geregelt ist. Das aber lähmt den künstlerischen Betrieb. Vielmehr geht es darum, alle Regelungen so auszubalancieren, dass zwischen dem notwendigen künstlerischen Spielraum einerseits und dem sozialen Schutz andererseits ein Ausgleich gefunden wird. Denn „es ist darauf zu achten, dass Motivation nicht durch Missbrauch ausgelaugt wird“ (S. 49).

Fazit

Es zeigt sich, dass „Die Humanisierung der Organisation“ durchaus Ansätze liefert, die für die augenblickliche Diskussion über die Strukturen von Kulturbetrieben nutzbar gemacht werden können. Problematisch ist jedoch vor allem für Betriebe, die stark auf die Motivation, das Engagement und die Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen sind, die Trennung zwischen dem Menschen als Ganzes und seiner Rolle als Organisationsmitglied. Leider wurde das Kapitel  über die Organisation des Theaters (S. 201 ff.) nicht dazu genutzt, die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Wirtschaftsleben auf Kulturbetriebe zu prüfen. Vielmehr wird über das Verhältnis zwischen der Rolle von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in jeglichem Betrieb einerseits zur Bühnenrolle von darstellenden Künstlerinnen und Künstler andererseits – durchaus interessant – räsoniert. Der auch daraus abgeleitete, im ganzen Buch verwendete Begriff des „Theaters der Organisation“ überzeugt allerdings kaum, ist mindestens zu überspitzt. Denn es bleibt aus meiner Sicht ein Umstand, der nicht zu unterschätzen ist: Der Beruf ist mehr als das professionelle Spielen einer Rolle. 

(siehe zum gleichen Thema: https://stadtpunkt-kultur.de/2020/02/soziale-kompetenz-statt-neuer-theater-strukturdebatte/ sowie https://stadtpunkt-kultur.de/2020/07/ueber-die-macht-im-theater-und-anderswo/)

Über kollektive Verantwortung in Kultureinrichtungen

Es ist in den letzten Jahren über die Macht der Intendantinnen und Intendanten viel geschrieben worden. Strukturveränderungen wurden gefordert, um ihre Befugnisse einzuschränken, zumindest stärkerer Kontrolle zu unterwerfen. Auch auf dieser Seite war davon schon die Rede (siehe am Schluss des Beitrags). Zunehmend wurde die Übertragung von Leitungsfunktionen auf ein Kollektiv als Allheilmittel angesehen. Das änderte sich schlagartig, als die Debatte über die Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta fifteen hochkochte und sich die Frage nach der künstlerischen Verantwortung für die Ausstellung stellte. Die nämlich war dem indonesischen Künstler-Kollektiv ruangrupa übertragen worden, was es natürlich schwer machte, den einzelnen Kopf, der rollen sollte, zu finden. Am Ende traf es die Generaldirektorin Sabine Schormann, letztlich weniger, weil ihr für die inhaltliche Seite der Documenta tatsächlich die Verantwortung übertragen worden wäre (war wohl nicht), sondern mehr wegen ihres nicht unbedingt geschickten Umgangs mit dem Konflikt. Nun reden alle davon, man müsse die Documenta umstrukturieren, was sich natürlich immer gut anhört, aber noch lange nicht bedeutet, dass das Wie geklärt ist.

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Künstlerisches Arbeiten im Kollektiv

Worum geht es? Geht es um die Leitung eines Kulturinstituts oder um die Übertragung einer künstlerischen Arbeit? Das ist nämlich ein entscheidender Unterschied. Die Übertragung einer künstlerischen Arbeit auf ein Kollektiv findet beispielsweise statt bei der Beauftragung von Rimini Protokoll mit einer Projektentwicklung oder von La Fura dels Baus mit einer Regie. Bei einer solchen Beauftragung trägt die künstlerische Verantwortung das Kollektiv, also die, die zu diesem Kollektiv gehören. Ähnlich ist es, wenn ein Museum oder ein Veranstalter einem Kollektiv das Kuratieren einer Ausstellung überträgt. Ein Problem entsteht im Sinne künstlerischer Verantwortung erst einmal nicht. Kommt das Kollektiv nämlich mit seiner Aufgabe künstlerisch aus welchen Gründen auch immer nicht zurecht, muss es seine Arbeit niederlegen oder man muss sich auf den juristisch dafür vorgesehenen Wegen von ihm in seiner Gesamtheit trennen.

Steht bei kollektiven Arbeitsprozessen jedoch nicht die künstlerische, sondern die juristische Verantwortung (Strafbarkeit, Schadensersatz) in Frage, nehmen die Unsicherheiten deshalb schlagartig zu, weil diese juristische Verantwortung stets die Schuld, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit, der konkret zur Verantwortung gezogenen Person voraussetzt. Diese Schuld ist dann bezogen auf eine oder mehrere Personen nachzuweisen, was bei der Übertragung künstlerischer Aufgaben an ein Kollektiv deshalb schwierig ist, weil die im Kollektiv getroffene Entscheidungen kaum einzelnen Personen eindeutig zugerechnet werden können. Das bedeutet: Wer eine Person für das, was sie tut, juristisch haftbar machen möchte, muss die Aufgaben klar und unmissverständlich auf einzelne Personen verteilen. Das aber wird gerade bei kollektiver künstlerischer Arbeit wie zum Beispiel der Regie einer Theateraufführung oder dem Kuratieren einer Ausstellung kaum möglich sein.

Die Leitung

Zu einer eindeutigen Aufgabenverteilung kommt es hingegen in der Regel, wenn die Leitung eines Kulturinstituts bestellt werden soll. Diese besteht dann in einem Theater oder einem Museum etwa aus einer künstlerischen Leiterin und einem kaufmännischen Direktor. Sie ist dann zuständig für die Kunst, er für Geld und Organisation. Das kann man, wie es beispielsweise in vielen großen wirtschaftlichen Unternehmen der Fall ist, ausweiten zu einem richtigen Vorstand, der aus drei, vier oder gar mehreren Personen besteht. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten eines solchen (kollektiven) Vorstands eindeutig auf die beteiligten Personen verteilt und dass Entscheidungsprozesse genau in der Geschäftsordnung festgelegt werden, nicht zuletzt mit Blick auf eine/n gegebenenfalls bestellten Vorstandsvorsitzende/n (siehe erneut: https://stadtpunkt-kultur.de/2022/04/das-theatermodell-karlsruhe/). Am Ende ist jedenfalls klar, wer in der Leitung welche Verantwortung (auch juristisch) zu tragen hat. Darin unterscheidet sich das Leiten eines Betriebes von der künstlerischen Arbeit an einem Projekt, einer Ausstellung oder einem Konzert.

Der Fehler bei der Organisation der Documenta

Was nun ist eigentlich bei der Organisation der Documenta schief gelaufen? Schief gelaufen ist die Vermischung von künstlerischer Arbeit und der Leitung der Documenta. Das Kollektiv ruangrupa war zum einen ein Kuratoren-Team, gestaltete also die documenta fifteen. Zum anderen war ruangrupa aber die künstlerische Leitung dieser Austellung, was eigentlich über die rein künstlerische Tätigkeit hinausging. Ob das den Mitgliedern von ruangrupa wirklich bewusst war, darf bezweifelt werden. Das gilt umso mehr, als niemand sich im Aufsichtsrat offenkundig über die Verteilung von Verantwortung, wie sie in Leitungskollektiven notwendig ist (s.o.), Gedanken gemacht, geschweige denn sie in einer Geschäftsordnung ausreichend festgelegt hat. Man hat also ruangrupa eher in dem Glauben gelassen, sie seien die Kuratoren, juristisch verantwortlich sei jemand anderes. Den oder die Anderen gab es aber nicht; auch die Generaldirektorin war eben (soweit bekannt) fürs Künstlerische nicht zuständig. Dieser Mangel an klarer Verantwortungsregelung wuchs sich bei der documenta fifteen durch das von ruangrupa praktizierte Lumbung-Konzept noch zu einem besonderen Problem aus. 

Und nun?

Man mag zu der Debatte um die documenta fifteen stehen, wie man will (siehe auf dieser Seite https://stadtpunkt-kultur.de/2022/08/der-blick-auf-die-kunst-ein-documenta-besuch/ und https://stadtpunkt-kultur.de/2022/07/die-documenta-und-die-freiheit-der-kunst/), die Documenta wird um eine vernünftige Leitungsstruktur, in der jemand die künstlerische Verantwortung trägt, nicht herumkommen. Ein solcher künstlerischer Direktor bzw. eine solche künstlerische Direktorin darf dann aber nicht die Rolle des Kurators der Ausstellung, sondern „nur“ die einer Intendantin haben, die die kuratorische Arbeit (auch eines Kollektivs) erst ermöglicht und unterstützt. Eine solche künstlerische Direktion hätte ruangrupa in den hierzulande besonders schwierigen Antisemitismus-Fragen beratend zur Seite stehen, hätte für eine angemessene Kontextualisierung umstrittener Werke Sorge tragen können, hätte den notwendigen Dialog zwischen den Kuratoren und der Öffentlichkeit organisieren können. Das alles sind Aufgaben einer künstlerischen Direktion, einer Intendanz, nicht eines Kurators. Vielleicht hätte ein künstlerischer Direktor sogar im Vorfeld die politisch für die Dokumenta Verantwortlichen darauf aufmerksam gemacht, was da möglicherweise auf Kassel zukommt, statt die Politik einfach der Findungskommission auszuliefern. Dann hätte man sich im Aufsichtsrat überlegter so oder eben anders entschieden, jedenfalls aber in dem klaren Bewusstsein, wer hier aus welchem historischen und politischen Zusammenhang zu Gestaltung der Documenta eingeladen wird. Es wäre ruangrupa, die hier, das muss einmal betont werden, als Ausländer zu Gast sind, dann erspart geblieben, mit einer derartigen, weitgehend einseitigen, zuweilen unsachlich, jedenfalls emotional geführten deutschen Debatte konfrontiert zu werden. 

Wer will, dass die documenta sixteen einen geordneten Verlauf nimmt, der sollte endlich von der Vermischung der Kuratorenfunktion und der künstlerischen Leitung der Documenta Abstand nehmen und ein Direktorium mit geregelten Kompetenzen und Verantwortungsbereichen einsetzen, auch für den künstlerischen Bereich. Kuratieren mag dann die documenta sixteen, wer immer dafür als geeignet, aufregend, anregend und künstlerisch interessant genug empfunden wird. Es könnte dann sogar wieder ein Kollektiv sein.

(siehe auch https://stadtpunkt-kultur.de/2020/02/soziale-kompetenz-statt-neuer-theater-strukturdebatte/ und https://stadtpunkt-kultur.de/2020/07/ueber-die-macht-im-theater-und-anderswo/ sowie https://stadtpunkt-kultur.de/2022/04/das-theatermodell-karlsruhe/)

Die Documenta und die Freiheit der Kunst

Anlässlich der documenta fifteen wurde in jüngster Zeit so viel wie schon lange nicht mehr öffentlich über das Thema Kunstfreiheit debattiert. So sehr es dabei auch um Politisches ging, zunächst ist diese Thema wohl ein juristisches. Denn die Freiheit der Kunst ist in Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz verankert und hat in der Geschichte dieser unserer deutschen Verfassung zahlreiche, meist sehr kunstfreundliche Gerichtsurteile des Bundesverfassungsgerichts hervorgebracht. Nicht jedem, der sich an der öffentlichen Debatte über die documenta fifteen und das dort gezeigte Bild People´s Justice von Taring Padi sowie dessen antisemitische Elemente beteiligte, schien sich dessen bewusst zu sein. Viel zu leichtfertig wurden Statements zu den Grenzen der Kunstfreiheit geäußert. Statt aus politischen Gründen das Abhängen des Bildes zu verlangen, leuchteten Politiker und Medien die Grenzen der Kunstfreiheit schlagwortartig aus, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Damit wurde der Versuch gemacht, für die Grenzen der Kunstfreiheit öffentlich Maßstäbe zu setzen, was schon deswegen scheitern musste, weil es wie so oft in solchen öffentlichen Diskursen an der notwendigen Differenzierung fehlte.

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Wann geht es um die Kunstfreiheit?

Die Frage der Kunstfreiheit stellt sich vor allem, wenn eine natürliche oder juristische Person die Kunstfreiheit für sich in Anspruch nimmt und die staatliche Gewalt, insbesondere die Exekutive oder die Judikative, diese Person an der Verwirklichung der Kunstfreiheit hindert. Das aber hat im Zusammenhang mit dem Kunstwerk von Taring Padi bisher nicht stattgefunden. Keine staatliche Behörde, etwa das Ordnungsamt Kassel, hat das Abhängen des Kunstwerks angeordnet. Vielmehr hat die künstlerische Leitung der Documentaruangrupawenn auch unter gewissem politischen Druck, selbst entschieden, das Bild zunächst zu verhüllen und später ganz aus der Ausstellung zu entfernen. Sie wurde also in ihrer durch die Kunstfreiheit geschützten Entscheidungsbefugnis nicht beeinträchtigt. Die einzigen, die ihr Recht auf die Kunstfreiheit verletzt sehen könnten, wären die Künstlerinnen und Künstler des Kollektivs Taring Padi, weil ihr Bild auf der Documenta nicht mehr zu sehen ist. Das würde jedoch bedeuten, dass es einen Anspruch gegen die künstlerisch Verantwortlichen eines Museums oder einer Ausstellung auf das Ausstellen eines Kunstwerks gäbe, was natürlich nicht der Fall ist und was auch aus Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz nicht hergeleitet werden kann. 

Gibt es eine eindeutige Rechtslage?

Erst soeben hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wozu sie bei Eingang entsprechender Strafanzeigen ohnehin verpflichtet ist und dessen Ausgang abzuwarten bleibt. Unter anderem wird es um den § 130 Strafgesetzbuch (Volksverhetzung) gehen. Deshalb wird jetzt genau zu prüfen sein, ob das Zeigen des Kunstwerkes People´s Justice auf der Documenta von der Kunstfreiheit gedeckt ist oder nicht. Das ist juristisch nicht so leicht zu beantworten, zumindest wenn man versucht, sich an den allgemeinen Maßstäben zu orientieren, die nun einmal für die Kunstfreiheit gelten. Schließlich ist die Kunstfreiheit nicht irgendein unbedeutendes Rechtsgut und durch die Verfassung dadurch besonders geschützt, dass sie, anders als andere Grundrechte, nicht unter einem sogenannten Gesetzesvorbehalt steht, in sie also nicht einfach durch Gesetz eingegriffen werden darf. 

Es besteht kein Zweifel daran, dass Antisemitismus menschenfeindlich ist und gegen die Menschenwürde verstößt. Deshalb die Menschenwürde jedoch als selbstverständliche Grenze der Kunstfreiheit zu definieren, wie es in der öffentlichen Debatte geschehen ist, greift bei weitem zu kurz. Denn Verstöße gegen die Menschenwürde in der Welt gibt es reichlich, sie aufzugreifen, zu artikulieren, darzustellen, anzuprangern, war schon immer gerade die Aufgabe der Kunst. Und an entsprechenden Kunstwerken jeglicher Art, die das tun, mangelt es bekanntlich nicht.  

Um es anhand eines weiteren Beispiels etwas deutlicher zu machen, worum es zumindest juristisch geht: Das öffentliche Zeigen des Hakenkreuzes erfüllt den Tatbestand des § 86 a Strafgesetzbuch (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen). Dennoch findet es in zahlreichen Filmen, Theaterstücken oder Werken der bildenden Kunst statt. Verwendet man das Hakenkreuz in solchen Kunstwerken, um sich etwa mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ist das öffentliche Zeigen zulässig. Gestaltet jemand mit künstlerisch-grafischem Anspruch ein Plakat und wird dieses Plakat genutzt, um für eine national-sozialistische Bewegung zu werben, tritt die Kunstfreiheit hinter den Schutzgütern des § 86a Strafgesetzbuch zurück. Diese Differenzierung wird in § 86a Strafgesetzbuch sogar durch Verweis auf § 86 Abs. 4 Strafgesetzbuch deutlich. Nach dieser Regelung ist die Verwendung von Nazisymbolen ausdrücklich erlaubt, wenn die Verwendung „der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“ Der Künstler Jonathan Meese wurde deshalb freigesprochen, als er im Vorfeld einer Documenta als künstlerische Protestaktion den Arm zum Hitlergruß gehoben hatte.

Der Berliner Anwalt Peter Raue hat in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe vom 24. Juni) die These aufgestellt, die antisemitischen Darstellungen im Bild von Taring Padi erfüllten den Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Strafgesetzbuch. Das ist auch nach meiner Auffassung zutreffend. Nicht zutreffend ist es, dass diese Darstellung sich schon wegen der Erfüllung des Tatbestands nicht auf die Kunstfreiheit berufen könne, wie Raue ausführt. Das entspricht insofern nicht der herrschenden Rechtslage, als bei Erfüllung des Tatbestandes erst im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung die Frage aufzuwerfen ist, ob die Tat durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt ist oder nicht. Ein Beispiel: Als Christoph Schlingensief im Rahmen einer künstlerischen Aktion am Wolfgangsee den Satz ausrief „Tötet Helmut Kohl“, erfüllte das eindeutig den Tatbestand des § 111 Strafgesetzbuch (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten). Die Tat war aber durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt und deshalb weder rechtswidrig noch strafbar. Nicht anders geht es einem Schauspieler, der in einem Spielfilm einen Nazi spielt und eine volksverhetzende Äußerung macht; der Tatbestand des § 130 Strafgesetzbuch ist erfüllt, die Tat ist aber wegen der Kunstfreiheit in der Regel (Ausnahme etwa Propagandafilm) nicht rechtswidrig. Außerdem fehlte es dem Schauspieler für eine strafbare Volksverhetzung am Vorsatz, der neben dem Erfüllen des Tatbestands und neben der Rechtswidrigkeit als drittes Element einer Straftat hinzukommen muss.

Auf einen anderen wichtigen Aspekt hat der Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede aufmerksam gemacht. Er hat nämlich eine in der öffentlichen Debatte weitgehend übersehene Differenzierung vorgenommen. Diese Differenzierung liegt in dem Satz: „Wer als Künstlerin oder Künstler in das Forum der Politik eintritt, muss sich nicht nur der ästhetischen, sondern auch der politischen Debatte und Kritik stellen.“, um dann zu ergänzen „Und dort gibt es Grenzen.“. Das heißt: Je mehr sich die Kunst auf das politische Statement reduziert, je mehr tritt die Frage nach der Kunstfreiheit in den Hintergrund. Gerade im Zusammenhang mit der konzeptionellen Ausrichtung der documenta fifteen als eine stark politische gestaltete Veranstaltung gewinnt dieser Satz eine nicht unerhebliche Bedeutung.

Die künstlerische Verantwortung trägt ruangrupa.

Damit ist man letztlich beim Kern des Problems angelangt, nämlich der Frage: Mit welcher Intention, warum also wurde das Kunstwerk von Taring Padi eigentlich durch die künstlerische Leitung der documenta fifteenausgestellt? Wusste die künstlerische Leitung von den antisemitischen Elementen des Kunstwerks? Hat man es aufgestellt, um genau die Diskussion zu  provozieren, die jetzt stattfindet? Dass das Bild versehentlich gezeigt wurde, glaube ich nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres. Öffentlich geäußert hat sich ruangrupa, soweit ich sehe, bis dato dazu nicht, es gibt nur die allseits bekannte Entschuldigung. Das reicht nicht. Gefragt sind Erklärungen, denen allerdings auch die Kritiker zuhören müssten, um sich mit den von ruangrupa vertretenen Positionen sachlich auseinanderzusetzen. Eine inhaltliche Erklärung von ruangrupa wäre zudem im Zusammenhang mit dem Thema Kunstfreiheit von großem Belang. Das gilt umso mehr, wenn es um Straftatbestände geht, die wie etwa die Volksverhetzung (s.o.) einer vorsätzlichen Begehung bedürfen. Sie, die Volksverhetzung, müsste also von ruangrupa gewollt gewesen sein, was bisher ja noch nicht einmal ernsthaft behauptet wurde. Jedenfalls trägt ruangrupa alleine die künstlerische Verantwortung für die documenta fifteen und deren Inhalt, selbst wenn im Rahmen des Lumbung-Konzeptes eine Delegation der Entscheidung über das Austeilen des Bildes People´s Justicestattgefunden haben sollte. Das zeigt: All das Gerede, es gebe in der documenta fifteenkeinen künstlerisch Verantwortlichen, ist gelinde gesagt unzutreffend.

Die politische Verantwortung liegt im Aufsichtsrat.

Um so mehr erstaunt es, wenn jetzt gefordert wird, dass der Documenta oder anderen vergleichbaren Veranstaltungen Beiräte oder ähnliche Kontrollgremien zur Seite gestellt werden. Das ist aus meiner Sicht gerade im Sinne der Kunstfreiheit hochgradig gefährlich. Nein, jede künstlerische Leitung einer Kulturinstitution (und niemand anderes) hat in all den täglichen Grenzfällen zu entscheiden, was sie veröffentlicht. Einer Überwachung welcher Art auch immer bedarf es nicht, schon gar nicht einer solchen mit Letztentscheidungskompetenz. Hingegen stellt sich die Frage, wer wen mit welchem Konzept zur künstlerischen Leitung von Institutionen beruft. Es bestehen Zweifel, dass darüber bei der Entscheidung für ruangrupa auch nur annähernd ausreichend nachgedacht wurde. Zu sehr war man geneigt, einer politischen Intention (Stichwort: Globaler Süden) zu folgen. Was das für die Präsentation von künstlerischen, vor allem politischen Positionen zur Folge haben würde und inwieweit das Politische das Künstlerische überlagern würde, hat offenkundig kaum einer bedacht. Leider ist dazu von den Verantwortlichen im Aufsichtsrat, vor allem denen der Stadt Kassel und des Landes Hessen wenig zu hören. 

Mehr Sachlichkeit täte der Debatte gut.

Im Übrigen hätte es der Debatte gut getan, wenn sie, trotz aller berechtigten Erregung, zuweilen mit etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit geführt worden wäre. Nicht nur die eingangs beschriebenen etwas fragwürdigen Formulierungen der Grenzen der Kunstfreiheit hat eine sachliche Diskussion, die so dingend notwendig wäre, erschwert. Zudem liegt in der  öffentlichen, meist auf die zwei antisemitischen Darstellungen beschränkten Verbreitung des Bildes People´s Justice eine gewisse, urheberrechtlich nicht unproblematische, Verkürzung des Kunstwerks. Was sonst warum auf dem Bild war, wurde kaum diskutiert. Am Ende (Süddeutsche Zeitung vom 28. Juni 2022) wurde es sogar als ein „monströses Panorama des Judenhasses“ bezeichnet. Da war es angenehm, dass sich Barrie Kosky, der scheidende Intendant der Komischen Oper Berlin, selbst Jude, in einem Interview aus Gründen der Kunstfreiheit uneingeschränkt auf die Seite von ruangrupa stellte, auch wenn er damit sicher nicht alles gutheißen will, was auf der Documenta zu sehen ist. Ebenso äußerte der an der Alice Salomon Hochschule in Berlin tätige Philosoph Arnd Pollmann am 2. Juli 2022 in der WDR 3-Sendung Mosaik gegenüber der Verhüllung und dem Abbaus von People´s Justice seine deutliche Skepsis. Erst durch solche Statements eröffnen wir die offene Debatte, die jetzt überall eingefordert wird und die bisher kaum stattfand. Die am 29. Juni 2022 von der Bildungsstätte Anne Frank, der Documenta und Museum Fridericianum veranstaltete Diskussion war immerhin in diesem Sinne ein erster Lichtblick. Sie kann im Netz nachgehört werden. Doch kaum war diese vorbei, flogen schon wieder öffentlich die Fetzen. Mit solchen Erregungszuständen werden wir in der Sache kaum voran kommen.

Das Theatermodell Karlsruhe

Über Transformation in Kultureinrichtungen wird augenblicklich viel gesprochen und geschrieben. Was ihr Ergebnis sein soll, steht dabei eher theoretisch fest: Mehr Partizipation, mehr Transparenz, kollektivere Entscheidungsprozesse, Einschränkung von Machtbefugnissen. Wie dieses Ergebnis aber konkret zu gestalten ist, war bisher kaum Gegenstand der Debatte. Jedenfalls sei die herrschende Klasse in den Theatern, Orchestern oder Museen dagegen, heißt es, denn sie wolle von ihren Machtansprüchen angeblich nicht lassen. Die Führungskräfte versuchten Strukturanpassungen zu vermeiden, „um ihre eigene Stelle im System nicht zu gefährden“ (so in einem Beitrag auf der Internet-Seite des Deutschen Kulturrats). Eine ganz andere Sprache sprechen nun die neusten Umstrukturierungen am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Dort hat kürzlich der Verwaltungsrat des Theaters nach einem langen und aufwendigen Entscheidungsprozess das „Theatermodell Karlsruhe“ im Einvernehmen mit der dortigen Theaterleitung verabschiedet. Beschlossen wurden keine großen Worte, beschlossen wurde das Ende der Generalintendanz zugunsten eines kollektiven Leitungsmodells.

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Das Verfahren

Eines war nach der Beendigung der Intendanz von Peter Spuhler klar: Was immer es an Fehlern in der Leitung und innerhalb des Theaters gegeben haben mag, strukturell konnte es wie bisher nicht mehr weitergehen. Das Badische Staatstheater war ein klassischer Generalintendanten-Betrieb, wie es ihn hierzulande kaum noch gibt. Der Generalintendant war mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, die mangels ausgleichendem Gegengewicht die Gefahr der Machtballung in einer Person befördert hatten, auch wenn es in einem solchen Theaterbetrieb verschiedene Kontrollmechanismen wie etwa den Personalrat, die Vorstände der Ensembles oder den Verwaltungsrat gab. Man hätte schnell den Betrieb in eine weitgehend übliche Doppelspitze bestehend aus einem Intendanten und einem Kaufmännischen Direktor umwandeln können. Doch das war angesichts der erheblichen Führungskrise, in der sich das Theater befand, den politisch Verantwortlichen am Ende zu einfach.

Also wurde kulturpolitisch insbesondere vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst ein aufwendiger Prozess in Gang gesetzt, um herauszufinden, was das beste Leitungsmodell für das Badische Staatstheater sein könnte. Zuvor hatte man seitens des Veraltungsrats einen neuen Übergangsintendanten für drei Jahre (bis Ende der Spielzeit 2023/24) bestellt und entschieden, dass in der Übergangsphase eine Dreier-Spitze bestehend aus dem neuen Intendanten (künstlerische Leitung), dem Geschäftsführenden Direktor (wirtschaftliche und administrative Leitung) und der künstlerischen Betriebsdirektorin (Umsetzung des Spielplans und Koordination der Sparten) das Theater leiten sollte. Das geltende Betriebsstatut wurde durch ein Übergangsstatut entsprechend umgestaltet, was die erste Weichenstellung für die endgültige Abschaffung der Generalintendanz war.

Doch damit war nur ein Anfang gemacht. Die Frage blieb, ob die Dreierspitze auch die dauerhafte Struktur sein sollte, wenn ja, wie diese konkret zu gestalten sei und ob die aus dem Betrieb geforderte große kollektive Lösung mit einem Direktorium unter Einbeziehung aller Spartenleiter und – leiterinnen sowie anderer Führungspersonen der bisher zweiten Ebene das bessere Modell sein könnte. Die Doppelspitze blieb ebenfalls als Zukunftsoption auf dem Tisch.

Um diese Frage zu beantworten, wurde eine Strukturkommission unter Beteiligung der Rechtsträger und des Verwaltungsrats gebildet. Auch ich habe beratend in dieser Kommission mitgewirkt. Diese Strukturkommission führte umfangreiche, mehrere Monate dauernde Beratungen und Anhörungen durch. Daran waren zahlreiche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Hause und die im Theater ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft Struktur ebenso beteiligt wie Experten anderer Theater, die Agentin des Badischen Staatstheaters für Diversität sowie der Personalrat des Badischen Staatstheaters. Schon dieser Diskurs ist besonders hervorzuheben. In alle den Jahren habe ich kaum erlebt, dass sich die Verantwortlichen der Kulturpolitik derartig eingehend um die strukturellen Problem eines Theaters gekümmert haben.

Worum es in den Anhörungen ging

So vielfältig wie die Gesprächspartner waren, so vielseitig waren die vertretenen Positionen. Forderten die einen klare Entscheidungsstrukturen und eine eindeutige Zuweisung von Befugnissen an einzelne Führungspersonen, konnte anderen die Anzahl von Gremien, die innerhalb des Hauses zu bilden und zu beteiligen seien, nicht groß genug sein. Kontrollieren statt Vertrauen war einerseits die Devise, anderseits wurde klargemacht, dass jeden Abend „der Lappen hochgehen“ müsse. Man könne sich nicht ergebnislos zu Tode diskutieren. Die Rolle des Intendanten war bei den einen die eines Moderators, Entscheidungen seien auf der zweiten Ebenen zu treffen, andere wünschten sich ihn oder sie als festen Ansprechpartner mit definitiven, wenn auch in den Betrieb stärker als bisher eingebundenen Entscheidungsbefugnissen. Ein Modell wie in Stuttgart oder Mannheim wurde eher nicht für übertragbar gehalten. Es stellte sich schnell heraus, dass die Strukturen eines integrierten Mehrspartenbetriebs wie der des Badischen Staatstheaters anders zu gestalten sind als die eines Theaters, das wie das Staatstheater Stuttgart über selbstständige Häuser für die zwei großen Sparten (Musiktheater und Schauspiel) verfügt. Im Karlsruher Mehrspartenbetrieb mit gemeinsamen Ressourcen sei es wichtig, dass nur Personen mit spartenübergreifenden Funktionen an der Theaterleitung beteiligt sind. Die im Hause weit verbreitete Vorstellung eines großen Leitungskollektivs wurde zudem dadurch in Frage gestellt, dass große Kollektive nur durch Mehrheitsentscheidungen handlungsfähig sind; solche Entscheidungen sind dem Prinzip der zufällig entstehenden Mehrheit unterworfen und damit für alle Beteiligten kaum kalkulierbar.

Mehrfach ging es in den Sitzungen darum, dass Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse ein untrennbares Paar sind. Die Notwendigkeit von Führungsqualifikation, Integrität und Fortbildung in der Leitungskompetenz wurden immer wieder betont. Begriffe wie Kommunikation, innere Führung, Transparenz, Information, Offenheit durchzogen die Debatte. Die künstlerische (und technische) Überforderung des Theaterbetriebs und die dadurch entstehenden Belastungen waren und bleiben ein Thema. Sie entstehe aus den teils durch die Öffentlichkeit formulierten, teils aber auch in der empfundenen Selbstverpflichtung liegenden immer größeren und differenzierteren Anforderungen, wurde hervorgehoben. Diese Anforderungen hätten durch die digitale Herausforderung noch erheblich zugenommen. Man könne dem Theaterbetrieb nicht laufend neue Aufgaben abverlangen, ohne die Kapazitätsfrage zu stellen.

Umstrukturierung und neue innere Verfassung des Theaters

Parallel zu diesem Anhörungsverfahren und unter Berücksichtigung der dort vertretenen Standpunkte wurde dann auf der Grundlage des bereits existierenden Übergangstatuts eine Übergangsgeschäftsordnung erarbeitet und schließlich von der bestehenden Theaterleitung beschlossen. Diese Übergangsgeschäftsordnung, die auf dem zuvor verabschiedeten Übergangsstatut aufbaut und der Zustimmung der beiden Theaterträger bedarf, ist praktisch der Kern des „Theatermodells Karlsruhe“. Denn sie legt für die aus den drei Personen bestehende Theaterleitung ein Beschlussverfahren fest und bindet sie im Sinne von check and balances mit rechtlich verbindlichen Vorgaben in den Betrieb ein.

So haben nun regelmäßige Sitzungen der dreiköpfigen Theaterleitung mit Abstimmungen in wesentlichen Fragen stattzufinden. Die Entscheidungen sind zwar einerseits Mehrheitsentscheidungen. In künstlerischen Fragen gibt es andererseits ein Vetorecht des Intendanten, in wirtschaftlichen Fragen ein solches des Geschäftsführenden Direktors. Es werden feste Zuständigkeiten für die einzelnen Geschäftsbereiche sowie Personalbefugnisse verbindlich bestimmten Personen zugewiesen. In regelmäßigen erweiterten Sitzungen der Theaterleitung findet ein Austausch mit den in der Verantwortung stehenden Personen der zweiten Ebene (Spartenleiter/innen, GMD/in, Technische/r Direktor/in, Leiter/innen von Maske und Kostüm, Chefdramaturg/in) statt. Getroffen werden in der Übergangsgeschäftsordnung konkrete Regelungen über die Einberufung von Sitzungen und deren Abwicklung sowie das Verfahren der Beschlussfassung und über die Stimmrechte der Theaterleitung. Die Spielplangestaltung wird durch den Intendanten an die Spartenleiter und -leiterinnen verbindlich delegiert, sie ist in den erweiterten Sitzungen der Theaterleitung zu erörtern, abweichende Entscheidungen durch die Theaterleitung unterliegen dem Begründungszwang. Auch im Bereich des Geschäftsführenden Direktors werden Aufgaben auf Personen der zweiten Ebene der Verwaltung delegiert. Die Vertretungs- und Zeichnungsbefugnisse werden detailliert geregelt.

Erstmalig wurde mit dem Übergangsstatut und der Übergangsgeschäftsordnung die innere Verfassung eines großen Dreispartenbetriebs im Sinne einer Corporate Gouvernance strukturiert, und zwar, das ist noch einmal hervorzuheben, rechtsverbindlich. Die Theaterleitung muss sich also an diese Vorschriften halten. Die Änderung der Vorschriften ist nicht ohne weiteres, sondern nur mit Zustimmung der Träger möglich. Unkontrollierte Einzelentscheidungen sind in wesentlichen Fragen durch die Übergangsgeschäftsordnung so weit wie möglich ausgeschlossen. Dies beschränkt die Machtbefugnisse aller an der Theaterleitung beteiligten Personen.

Wie es 2024 weitergeht

Übergangsstatut und Übergangsgeschäftsordnung werden durch die jetzige Theaterleitung einem mehr als zweijährigen Evaluierungsprozess unterzogen. Zugleich wird nun auf der Grundlage dieser neuen inneren Verfassung für die Zeit ab der Spielzeit 2024/25 der neue Intendant oder die neue Intendantin gesucht. Für diese Zeit sind unter Einbeziehung der bis dahin gewonnenen Erfahrungen sowie unter Berücksichtigung der Ansichten der neuen Intendanz die endgültigen Statuten für das Badische Staatstheater zu entwickeln. Wie immer diese dann aussehen wird, eines ist dabei sicherlich ausgeschlossen: Die Rückkehr zu einer Generalintendanz.

Putin oder nicht Putin? Die private Gesinnung und die Kündigung von Künstlerverträgen

Krieg in Europa! Russland hat die Ukraine überfallen. Seitdem stehen russische Künstlerinnen und Künstler in der ganzen übrigen Welt unter verschärfter Beobachtung. Nach der Haltung zu Putin und seinem menschenverachtenden Angriffskrieg werden sie befragt. Walerie Gergijew bei den Münchener Philharmonikern: Wegen mangelnder Distanz zu Putin gekündigt. Anna Netrebko: Aus gleichem Grund Absagen durch die Metropolitan Opera in New York und die Staatsoper Berlin. Es gibt heftige Debatten. Den einen sind jenseits des militärischen Eingreifens der Nato viele Mittel recht, von denen sie vermuten, damit Putin unter Druck setzen zu können. Die anderen warnen vor massiven Einschränkungen der Kunstfreiheit, argumentieren gegen jede Form der Gesinnungsschnüffelei. Doch wie ist die Rechtslage? Wie immer kompliziert!

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Eine Star-Sängerin oder ein Dirigent sind meist auf der Grundlage eines Dienstvertrags tätig und damit selbstständig beschäftigt, wenn sie für einzelne Auftritte engagiert werden. Sie haben dann jeweils einen befristeten Dienstvertrag für einzelne Auftrittstage, der in der Regel kraft Gesetzes gar nicht ordentlich gekündigt werden kann, es sei denn, der jeweilige Vertrag sieht das ausdrücklich vor. Das ist meist nicht der Fall, zumindest nicht hinsichtlich der hier infrage stehenden Sachverhalte. Will sich der Veranstalter trotzdem noch vor dem Auftritt aus dem jeweiligen Vertrag lösen, geht das nur mit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung nach § 626 BGB. Dazu bedarf es, so die genannte Vorschrift, eines wichtigen Grundes, der dazu führt, dass „dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zu der vereinbarten Beendigung … nicht zugemutet werden kann“. Damit ist man mittendrin im notwendigen sowie schwierigen Abwägungsbedarf.

Ähnlich ist die Rechtslage bei einem Werkvertrag, der etwa bei einem Kompositionsauftrag, Stückauftrag oder mit einem Bühnenbildner oder einer Kostümbildnerin abgeschlossen wird. Zwar kann ein Werkvertrag nach § 648 BGB vom Besteller, also dem Theater- oder Orchesterbetrieb, jederzeit gekündigt werden, allerdings mit der Konsequenz, dass oft die volle Vergütung zu zahlen ist. Will man das vermeiden, bleibt ebenfalls nur der Weg der außerordentlichen Kündigung nach § 648a Abs. 1 Satz 2 BGB, die an ähnliche  Voraussetzungen geknüpft ist, wie die zuvor beschriebene fristlose Kündigung des Dienstvertrags. 

Wann liegt ein Kündigungsgrund vor, wenn es um die persönliche Meinung der Beschäftigten geht?

Wird mit einer darstellenden Künstlerin ein Beschäftigungsvertrag für längere Zeit abgeschlossen, zum Beispiel befristet für eine Theater-Produktion (Proben und Aufführungen), wird es noch schwieriger. Meist handelt es sich dann um eine abhängige Beschäftigung, also um einen befristeten Arbeitsvertrag, der ebenfalls nach § 15 Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz in der Regel nicht ordentlich gekündigt werden kann. Ist im befristeten Arbeitsvertrag die ordentliche Kündigung ausdrücklich vorgesehen, ist sie zwar möglich, jedoch spätestens ab dem siebten Monat der Beschäftigung nur bei Vorliegen eines Kündigungsgrundes. Natürlich gibt es auch hier stets die außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB. In beiden Fällen lässt sich der Arbeitsvertrag nur beenden, wenn man im Rahmen einer Abwägung dazu kommt, dass die Kündigung gerechtfertigt ist. Nichts anderes gilt selbstverständlich für unbefristete Beschäftigungsverträge, es sei denn, sie sind selbstständige Dienstverträge. Diese unbefristeten Dienstverträge ließen sich jederzeit ohne Angabe von Gründen mit den Fristen des § 621 BGB kündigen, kommen in der Kunst aber praktisch nicht vor.

Die Quintessenz von alledem ist: Man wird in der Regel einen Kündigungsgrund brauchen, um sich von einem Künstler oder einer Künstlerin, auch von einem sonstigen Beschäftigten wegen zu großer Putin-Nähe lösen zu können. Und damit lautet die entscheidende Frage: Wann liegt ein Kündigungsgrund vor, wenn es um die persönliche Meinung der Beschäftigten geht?

Letztlich ist das eine Frage des Einzelfalls. Jeder Beschäftigte unterliegt gegenüber seinem Auftrag- oder Arbeitgeber einer bestimmten Loyalitätspflicht. Das gilt vor allem, wenn die Beschäftigung auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages stattfindet. In der Frage, inwieweit dabei private Meinungen des Beschäftigten eine Rolle spielen, lässt das Bundesarbeitsgericht eine große Zurückhaltung walten. Die private Meinung des Beschäftigten hat den Arbeitgeber meist nicht zu interessieren. Das gilt erst recht, wenn es sich bei dem abgeschlossenen Vertrag um einen Vertrag (Werk- oder Dienstvertrag) mit einem selbstständig Tätigen handelt. Anders ist das erst, wenn die streitige Auffassung des Beschäftigten in den Betrieb hineingetragen wird und dadurch eine Störung des Betriebsfriedens entsteht. Etwas enger wird das alles bei sogenannten Tendenzbetrieben, also weltanschaulichen Betrieben, gesehen. Dazu gehören besonders die Kirchen, ebenso politische Parteien, Gewerkschaften, Kunstbetriebe, Zeitungsverlage, wissenschaftliche Einrichtungen wie Universitäten und vieles mehr. Hier wird ein gewisses Maß an persönlicher Identifikation der Beschäftigten mit dem jeweiligen Betrieb erwartet, vor allem, soweit Beschäftigte an der Formulierung der Tendenz des Betriebs beteiligt, also sogenannte Tendenzträger sind. Selbst im kirchlichen Bereich wurden zuletzt aber von der Rechtsprechung des europäischen Gerichthofs und des Bundesarbeitsgerichts die Erwartungen an die Tendenztreue stark zurückgenommen.

Nun ist es unstreitig dass ein Theater, ein Orchester und jeder andere Kunstbetrieb ein Tendenzbetrieb ist. Diese Tendenz besteht in einer bestimmten künstlerischen Ausrichtung, um die es hier kaum gehen wird. Vielmehr geht es um eine allgemeine Ausrichtung des Kulturbetriebs im Sinne von Aufklärung, Verständigung, Vermittlung kultureller Werte sowie von Menschenrechten, Demokratie und ähnlichen Idealen. Einer solchen Tendenz steht eine im augenblicklichen Zeitpunkt geäußerte Sympathie für den russischen Präsidenten und den von ihm angezettelten Krieg diametral entgegen. Entsprechende Äußerungen werden dennoch bei einem Nicht-Tendenzträger oder bei Tendenzträgern von eher geringer öffentliche Bedeutung kaum reichen, eine Kündigung zu rechtfertigen. Bei exponierten Tendenzträgern wird man das Vorliegen eines Kündigungsgrundes hingegen umso mehr bejahen können, als sie sich in der Öffentlichkeit zurzeit deutlich zugunsten Putins artikulieren. Das allerdings ist hierzulande kaum festzustellen. Ob eine frühere Sympathiebekundung bei jetzigem Schweigen oder jetzigen zu vorsichtig formulierten Distanzierungen bereits eine Kündigung begründet, darf hingegen durchaus bezweifelt werden. Die Sorge um eventuelle Proteste des Publikums reichte im Übrigen allenfalls dazu, von weiteren Auftritten eines Künstlers oder einer Künstlerin abzusehen und insofern deren Kunstfreiheit einzuschränken, nicht aber so ohne Weiteres zu einer personenbedingten oder verhaltensbedingten Kündigung bestehender Verträge.

Die Oper ist international und ein Beitrag zur Völkerverständigung.

Wie steht es nun um Künstlerinnen und Künstler, die auf der Grundlage des einschlägigen Tarifvertrags Normalvertrag Bühne (NV Bühne) an Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen beschäftigt werden? Sie haben in der Regel Verträge über eine Spielzeit, die sich um eine weitere Spielzeit verlängern, wenn das Theater nicht rechtzeitig eine Nichtverlängerungsmitteilung ausspricht. Für eine solche Nichtverlängerungsmitteilung bedarf es künstlerischer Gründe. Diese können mit Rücksicht auf die oben beschriebene Tendenz des künstlerischen Betriebs durchaus in der Äußerung einer positiven Haltung zu Putin und seinem Krieg liegen. Auch hier empfiehlt sich jedoch eine sorgfältige Prüfung des jeweiligen Einzelfalls, will man nicht generell einer zu weitreichenden Einschränkung privater Meinungen von Künstlerinnen und Künstlern den Weg ebnen. Zudem besteht natürlich wieder die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB, wenn die Gründe dafür ausreichen.

Am vergangenen Samstag gab es im Hörfunk des WDR ein Gespräch mit der Regisseurin Tatjana Gürbaca. In ihrer neuen Inszenierung von Janáceks „Katja Kabanova“ an der Deutschen Oper am Rhein singen eine russische und eine ukrainische Sängerin, erzählt sie. Man sei gemeinsam besorgt um die Ereignisse in der Ukraine, aber die Zusammenarbeit sei gut und entspannt. So ist sie eben, die Oper, international und ein Beitrag zur Völkerverständigung. Möge sie damit weiter Maßstab sein für das, was in der Welt geschieht.

Hohe Erwartungen an die Bundeskulturpolitik

Es vergeht kein Bundestagswahlkampf, ohne dass Exponenten des deutschen Kulturlebens oder solche, die sich dafür halten, zwei Forderungen artikulieren: Erstens brauchen wir einen Bundeskulturminister (anstelle eines Staatsministers im Kanzleramt) und zweitens eine Kulturklausel im Grundgesetz. Zuweilen nehmen Parteien diese Forderungen herzlich gerne in ihre Wahlprogramme auf, wohl weniger, weil sie von den Forderungen überzeugt sind, sondern eher nach dem beliebten Motto: Klingt gut und kostet nichts. Der politische Fachjargon nennt so etwas Symbolpolitik. Statt sich also mit solchen eher an der Oberfläche verharrenden Forderungen zu befassen, ist zu fragen, was der Bund Wesentliches zum Kulturleben dieses Landes und vor allem zur Pflege der Künste beitragen kann und sollte. Die genannten Forderungen ablehnen, heißt also keineswegs, dass auf eine Bundeskulturpolitik zu verzichten wäre. Im Gegenteil! Es ist gerade am Anfang einer neuen Legislaturperiode sinnvoll, einmal mehr den Versuch zu machen, ihre Rolle zu definieren.

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In gewissen Kreisen wird gerade die Erwartungshaltung an die Bundeskulturpolitik erheblich gesteigert. Ganz vorne mit dabei ist vor allem die Kulturpolitische Gesellschaft (KuPoGe). Mit der Begründung, ein „Weiter so“ könne es nicht geben, reichen die in einem auf der Internetseite der KuPoGE veröffentlichten Text geäußerten Erwartungen zur Bundestagswahl 2021 von einer „Strukturoffensive“ zur „Unterstützung der Transformationskompetenzen“ über „Vorbehalte der Klimaverträglichkeit“ bei allen Fördermaßnahmen, dem „Wandel in den Mechanismen öffentlicher Förderung“, einer „innovativen und nachhaltigen Förderstrategie“, einem „Wissenspool und kontinuierlichen Netzwerkmanagement“ bis hin zu einer besseren Verzahnung der Bund-Länder-Kommunen-Finanzierung der Kultur. Das Wort Kunst kommt in dem Text ein einziges Mal vor, und zwar in dem Satz: „Nur in einer freien, gerechten und resilenten Gesellschaft ist die Freiheit der Kunst gesichert.“ Wer hätte das gedacht! Am Ende wird dann überraschenderweise das Staatsziel Kultur im Grundgesetz (siehe oben) gefordert.

Der Wahlkampf und die Zeit danach

Im Wahlkampf wurde immer wieder beklagt, die öffentlichen Debatten befassten sich zu wenig mit Kunst und Kultur. Da ist die Frage erlaubt: Warum wohl? Glaubt wirklich jemand, solche Forderungen wie die der KuPoGe seien in Triellen, Bürgerforen und Talkrunden ernsthaft diskussionsfähig. Ein großer Teil der Wähler wüsste ja gar nicht, wovon die Rede ist, es sei denn, man forderte pauschal, die Kultur müsse sich klimafreundlicher gerieren. Außerdem müsste angesichts der Kulturhoheit der Länder und Kommunen, die dem an den Künsten interessierten Teil der Wählerschaft durchaus präsent ist, erst einmal ermittelt werden, was denn kulturell konkret bei einer Bundestagswahl Thema sein könnte. Daran mangelt es aber leider zuweilen. Das wiederum ist der Politik kaum vorzuwerfen. Denn es ist doch gerade Aufgabe der Kulturverbände, die Probleme, derer sich der Bund annehmen könnte, und ihre möglichen Lösungen genauer herausarbeiten. Dies gilt umso mehr, als jetzt die Wahl vorbei ist und Koalitionsverhandlungen geführt werden, bei denen es üblicherweise einen Arbeitskreis Kultur gibt. Symbolforderungen oder möglichst abstrakt formulierte Thesen reichen zur Bereicherung dieser Verhandlungen kaum aus.

Klimaschutz, Transformation und die soziale Lage der Künstler

Die Klimadebatte leidet ohnehin ein wenig daran, dass den meisten (außer notorischen Leugnern) die Klimakrise mehr als bewusst ist, niemand aber so genau weiß, wie das Klima zu retten ist, ohne dass es zu erheblichen wirtschaftlichen Einbußen und sonstigen Einschränkungen in der Lebensführung für viele Menschen kommt. Nicht zu Unrecht spricht Olaf Scholz stets davon, dass es sich um eine Herausforderung handelt, die nicht von heute auf morgen zu meistern ist. So ist es auch in der Kultur. Die Vorstellung, die Dinge ließe sich durch ein paar Auflagen bei der Gewährung der öffentlichen Förderung verbessern, ist fast naiv. Es geht vielmehr in vielen Kulturgebäuden, vor allem angesichts des bestehenden Investitionsstaus, um umfangreiche Renovierungsmaßnahmen mit großen technologischen Herausforderungen, etwa bei der Klimatisierung von Museen oder der Belüftung und Heizung von riesigen Theatergebäuden und Konzerthallen. Zudem ist das nachhaltige Produzieren bei Theateraufführungen beispielsweise deutlich teurer, es sei denn, man entscheidet sich gegen die Kunst zu spartanischen Bühnenbildern oder massiver Energie-Reduzierung bei Licht, Video und Ton. Im Übrigen ist das Thema schon lange bei allen Kulturbetrieben angekommen; was unter den jetzigen Bedingungen angegangen werden kann, wird ohnehin angegangen. Immer so zu tun, als hinkten diese Betriebe in solchen Fragen gewaltig der allgemeinen Entwicklung hinterher, ist mindestens in vielen Fällen unangebracht (siehe: https://stadtpunkt-kultur.de/2019/12/ueber-das-produzieren-von-kunst-in-zeiten-des-klimaschutzes/).

Im Rahmen der geforderten Transformation fallen oft die Begriffe Diversität und Digitalisierung. Auch hier ist, beides zu fordern, das eine, was genau zu tun ist, etwas ganz anderes. Jedenfalls ist aus der Forderung allein so gut wie keine konkrete Erkenntnis abzuleiten. Die Fragen, die sich stellen, die eigentlich zu diskutieren sind (und im Feuilleton durchaus diskutiert werden), sind vielfältig: Wie erreicht man tatsächlich ein diverseres Publikum? Was ist ein diverseres Ensemble? Wie löst man die aus der Diversität des Ensembles sich ergebenden Besetzungsprobleme? Sollen wirklich in Zukunft nur noch diejenigen eine Rolle spielen, die als Künstlerin oder Künstler die entsprechende persönliche Identität mitbringen (aus meiner Sicht nein), oder sollen nicht besser alle alles spielen (ja, wäre jedenfalls im Sinne der Diversität und Vielfalt)? Ist es richtig (siehe z.B. English Touring Opera) weiße Musikerinnen und Musiker zu entlassen, um solche anderer Herkunft einzustellen? Geht das in Deutschland überhaupt? Oder zur Digitalisierung: Wie beugt man einem künstlerischen Überangebot im Netz vor (siehe: https://stadtpunkt-kultur.de/2021/03/ueber-die-digitalisierung-der-kulturangebote/)? Ist das Urheberrecht wirklich flexibel genug, um den Kultureinrichtungen den notwendigen Spielraum für die Digitalisierung einzuräumen (siehe: https://stadtpunkt-kultur.de/2021/07/apps-vr-brillen-und-andere-kultur-videoprojekte-aus-sicht-des-urheberrechts/)? Oder muss es weiterentwickelt werden im Sinne der Erleichterung der Lizensierung bei gleichzeitiger Sicherstellung einer angemessenen Vergütung von Künstlerinnen und Künstlern, zumal die Verbreitung von Kulturangeboten im World Wide Web automatisch mit ihrer Internationalisierung verbunden ist? Es ist hier also deutlich Handfesteres gefragt als eine wie auch immer geartete, angeblich noch auszubildende „Transformationskompetenz“. 

Und die soziale Lage der Künstler? Sie zu verbessern, ist sicher eine hehres und eindeutiges Anlegen, dessen sich der Bund annehmen muss und kann. Das gilt zumindest, soweit es nicht um die Frage von mangelhafter Bezahlung wegen der jahrelang von Kommunen und Ländern verfügten Kürzung öffentlicher Zuwendungen geht. Denn die soziale Lage der Künstler zu verbessern, ist Aufgabe des vom Bund gestalteten Arbeits- und Sozialrechts. Sollten sich die Koalitionsverhandlungen allerdings dieses Themas im Detail annehmen, ist vor einer Regierungsbildung Ende des nächsten Jahres nicht zu rechnen. Denn leicht sind die vor allem in Corona-Zeiten zu Tage getretenen sozialen Unzulänglichkeiten des Systems nicht zu beseitigen (siehe: https://stadtpunkt-kultur.de/2021/01/wohin-die-reise-fuehrt-ueber-die-zukunft-der-theater-und-die-soziale-lage-der-kuenstler/). Und wenn man sich die Theater und die Orchester ansieht, dann ist daran zu erinnern, dass es vor allem die mit unbefristeten oder längerfristigen Beschäftigungsverhältnissen operierenden Ensemble- und Repertoire-Theater waren, mit denen die Künstlerinnen und Künstler die coronabedingten Schließungen von Kultureinrichtungen gut überstanden haben. Das gilt es zu erhalten statt einem „Wandel in den Mechanismen öffentlicher Förderung“  das Wort zu reden, hinter dem sich meist nicht mehr und nicht weniger als eine Abkehr von der institutionellen Förderung hin zu mehr Projektförderung verbirgt.

Was sonst noch ansteht.

Wer die Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene noch um einiges erweitern möchte, kann das tun. Schon lange gibt es etwa bei der Künstlersozialkasse das eine oder andere gesetzlich zu lösende Problem auf der Seite der künstlersozialabgabepflichtigen Unternehmen, mit dem man sich bundespolitisch dringend befassen müsste. Ungeklärt sind manche Fragen im Vergaberecht, worauf auf dieser Internetseite schon vor Jahren hingewiesen wurde (https://stadtpunkt-kultur.de/2017/06/vergabe-von-kuenstlerischen-leistungen-durch-die-oeffentlich-getragenen-theater-und-orchester-und-das-neue-vergaberecht-eine-expertise/). Die Behinderungen, die im Sozial- und Steuerrecht beim internationalen Kulturaustauch entstehen, harren seit Jahren der Erleichterung. Sie anzugehen, wäre wichtiger, als sich mit der Überlegung zu befassen, ob Künstlerinnen und Künstler wegen des Klimaschutzes überhaupt noch reisen oder nur noch per Bahn unterwegs sein sollen. Wer das meint, verkennt die große Bedeutung, die vor allem der internationale Transfer der Künste für die Verständigung der Menschen untereinander hat. Und ein besonderes Anliegen am Schluss: Immer wenn es darum geht, die Infrastruktur bei Verkehr, Bildung und vielem mehr zu verbessern, werden vom Bund, soweit das im Bereich seiner Zuständigkeit möglich ist, Programme aufgelegt, die erhebliche öffentliche Mittel bereit stellen. Das ist gut so. Leider wird meist aber ein wenig später verbreitet, nur ein geringer Teil der jeweiligen Mittel sei abgerufen worden. Das hat zwei Gründe: Erstens wird oft eine Komplementärfinanzierung etwa von den Kommunen gefordert, also sich an den jeweiligen Projekten finanziell zu beteiligen, wofür es dann am Geld mangelt. Zweitens fehlt es an geeignetem Personal, die durchzuführenden Maßnahmen umzusetzen. Beides kann man ändern. Auf die Komplementärfinanzierung sollte verzichtet werden und zur Verbesserung der Personalsituation bedürfte es einer entsprechenden Einwanderungspolitik einschließlich einer großen Ausbildungsinitiative für alle die, die aus anderen Ländern nach Europa und nach Deutschland kommen, aus welchen Gründen auch immer.

Schlussbemerkung

Nils Minkmar hat neulich in der Süddeutschen Zeitung (30. September 2021) einen bemerkenswerten Artikel zur Bundekulturpolitik geschrieben. Dort hat er gefordert, dass die deutsche Kulturpolitik ermutigen und Risiken eingehen müsse. Die offene Gesellschaft sei ein kulturelles Konzept, die schwierigen Fragen der innergesellschaftlichen Kommunikation seien kulturelle Probleme mit gehörigen politischen Auswirkungen. Deshalb sei Kulturpolitik von zentraler Bedeutung. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Warum Minkmar jedoch für den Kulturminister des Bundes einen „stabilen Kabinettsrang in der neuen Bundesregierung“ fordert, bleibt sein Geheimnis. Was wir für diese Aufgabe brauchen, sind Kulturpolitiker und Kulturpolitikerinnen, die zu dem notwendigen Diskurs in der Lage und bereit sind, und zwar auf der Ebene von Kommunen, Ländern und dem Bund. Und Menschen aus dem Kunstbetrieb, die sich daran beteiligen.