Die Doppelspitze
Kultureinrichtungen werden heute meist durch eine Doppelspitze geleitet. Es gibt stets einen künstlerisch und einen kaufmännisch Verantwortlichen. So war es auch bei der documenta 15, mit der Besonderheit, dass die künstlerische Verantwortung einem Kollektiv, der indonesischen Künstlergruppe ruangrupa,übertragen wurde. Die kaufmännisch verantwortlichen Leitungs-Personen tragen oft den Titel Kaufmännischer Direktor, Geschäftsführende Direktorin oder Verwaltungsdirektor. Bei der documenta 15 war es die als Geschäftsführerin der gemeinnützigen Documenta gGmbH agierende (und später zurückgetretene) Generaldirektorin, die die kaufmännische Verantwortung trug. Die Documenta gGmbH wird öffentlich getragen von den Gesellschaftern Stadt Kassel und Land Hessen, ist also praktisch eine öffentlich getragene Kultureinrichtung in privater Rechtsform.
Eine „staatliche Stelle“ in der Kultureinrichtung
Unmissverständlich erkennt der Abschlussbericht an, „dass Personen, die eine künstlerische Aufgabe erfüllen, die der Staat geschaffen hat, indem Orchester und Theater gegründet oder Ausstellungen organisiert wurden, sich, obwohl diese Personen mehr oder minder intensiv in einer staatlichen Organisation aufgehoben sind, auf die Kunstfreiheit berufen können“ (S. 109 des Abschlussberichts). Damit sei ihr „Handeln auch im Rahmen dieses staatlichen Auftrags von der Kunstfreiheit geschützt“. Das aber „gelte ebenso deutlich aber nicht für die Geschäftsführung der Documenta gGmbH“ (S. 110). Diese sei als Organ der öffentlich getragenen Gesellschaft eine „staatliche Stelle“, die „besonderen Pflichten unterworfen“ sei (S. 113). „Die Linie zwischen grundrechtlicher Freiheit einerseits, staatlicher Verantwortung … andererseits verläuft damit durch die Organisation der Documenta gGmbH hindurch“, heißt es weiter (S. 110). Zudem sei die direkt für die künstlerische Leitung arbeitende künstlerische Abteilung der documenta 15 (Artistic Team) „der Geschäftsführung weisungunterworfen“ (S. 110), offenkundig nach Auffassung der Autoren und Autorinnen des Abschlussberichts auch dort, wo durch solche Weisungen in künstlerische Prozesse und Entscheidungen eingegriffen wird. Keinesfalls dürfe sich die Geschäftsführung als staatlicher Teil der Organisation „einfach mit der künstlerischen Leitung identifizieren“. Die Geschäftsführung genieße keine Kunstfreiheit und sei „an die … verfassungsrechtlichen und politischen Vorgaben gebunden“. Diese müsse sie „auch gegenüber der künstlerischen Leitung vertreten“ (S. 114). „Umso mehr ist sie dazu verpflichtet, wenn sie von anderen Organen der Gesellschaft (z. B. der Aufsichtsrat, der Verf.) dazu aufgefordert wird“ (S. 114/115). Eine Relativierung aller dieser Standpunkte erfolgt dann lediglich mit dem Hinweis, „die Pflichten der Geschäftsführung gegenüber der künstlerischen Seite (könnten) nicht einfach durchgesetzt werden.“ Die Durchsetzung unterliege „dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit“ (S. 115).
Das Verhältnis zwischen kaufmännischer und künstlerischer Leitung nicht überspannen
Einem derartigen staatstragenden Verständnis der administrativen Leitung einer öffentlichen Kultureinrichtung ist mit aller Deutlichkeit entgegenzutreten. Dass die Beziehung zwischen der künstlerischen Leitung einer öffentlich getragenen Kulturinstitution einerseits und deren Administration andererseits gewisse Gegensätzlichkeiten aufweist, liegt in der Natur der Sache. Geht es der einen Seite um die möglichst grenzenlose Verwirklichung ihrer künstlerischen Ideen, kommt der anderen die Aufgabe zu, die Gelder zusammenzuhalten, Organisationsmaßstäbe durchzusetzen und rechtliche Rahmenbedingungen einzuhalten. Das alles ist schwierig genug. Gerade deshalb ist davon abzusehen, die kaufmännische Leitung als langen Arm des Staates in der Kultureinrichtung zu begreifen. Es ist kontraproduktiv und überspannt die Anforderungen an die kaufmännische Geschäftsführung erheblich. Erst recht gilt dies, wenn die öffentlich getragene Kulturinstitution in privater Rechtsform organisiert ist. Dann nämlich ist auch der kaufmännische Geschäftsführer bei der privaten Gesellschaft (nicht beim Träger, also beim Staat bzw. der Kommune) angestellt und ausschließlich dieser Gesellschaft sowie deren Aufgaben und Zielsetzungen verpflichtet.
Zudem ist der Staat gehalten, auch öffentlich getragene Kulturbetriebe so zu organisieren, dass sie mit der notwendigen künstlerischen Freiheit agieren können. Dies ist dann nicht mehr gewährleistet, wenn etwa die kaufmännische Geschäftsführung jenseits ihrer ökonomischen, organisatorischen und rechtlichen Verantwortung in künstlerische Prozesse und Entscheidungen, etwa durch Weisungsrechte, eingreifen kann. Das versucht jede gute Geschäftsordnung einer Kultureinrichtung durch klare Abgrenzung von Kompetenzen zu vermeiden. Denn es geht auch darum, Friktionen zwischen der künstlerischen und kaufmännischen Leitung des Betriebs möglichst auszuschließen. Dazu gehört ein Selbstverständnis der kaufmännischen Leitung, die künstlerische Arbeit selbst dort, wo sie an Grenzen stößt, zu ermöglichen und gegen Kräfte von außen zu verteidigen, soweit das unter Einhaltung der Rahmenbedingungen möglich ist. Dieses Selbstverständnis sollte der öffentliche Träger nicht unterminieren. Es ist zwar richtig, dass, wie der Abschlussbericht zur documenta 15 feststellt, die kaufmännische Geschäftsführung sich nicht auf die Kunstfreiheit berufen kann, da sie nicht künstlerisch tätig ist. Es ist aber ihre Pflicht, sich in Fragen der Kunstfreiheit vor die künstlerische Leitung zu stellen und diese Freiheit zu verteidigen. Alles andere ist sinnlos.
Dass es in diesem Kräfteverhältnis die Aufgabe der administrativen Leitung ist, etwa in einem Theater, zwischen der Politik und der Kunst zu vermitteln, steht außer Frage. Es ist die kaufmännische Direktorin, die bei der Intendanz für die berechtigten Interessen der Politik werben muss. Ebenso muss sie versuchen, den politischen Vertretern des Kulturbetriebs (Bürgermeister, Ministerin, Dezernenten, Abgeordnete) die künstlerische Arbeit nahe zu bringen. Administration eines Kulturbetriebs bleibt also eine Gratwanderung zwischen der Freiheit der Kunst und den politischen wie ökonomischen Sachzwängen. Das sollte jeder wissen, der sich für ein solches die Kunst verwaltendes Amt bewirbt.
Erst, wenn es zu Gesetzesverstößen kommen könnte, haben alle Verantwortlichen des Kulturbetriebs (die Betonung liegt auf alle) alles zu tun, um diese zu vermeiden. Gelingt dies innerhalb der Kulturinstitution nicht, stellen sich für die außerhalb stehenden öffentlichen Stellen Fragen der Rechtsaufsicht. Auch die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren kommt in Betracht, welche im Übrigen die Staatsanwaltschaft Kassel hinsichtlich der documenta 15 schließlich im April dieses Jahres in einem umfangreichen Beschluss ablehnte.
Information und Transformation
Es wird in letzter Zeit viel über die Innovation und Transformation von öffentlichen Kulturbetrieben diskutiert. Dabei fehlt es zuweilen nicht an leeren Phrasen. Nimmt man das Anliegen ernst, dann geht es vor allem um die Modernisierung mancher Kulturbetriebe, die vielleicht auf zu eingefahrenen Gleisen unterwegs sind. Im Sinne einer solchen Modernisierung ist es nicht, die künstlerische Freiheit zurückzudrängen und wieder mehr auf staatliche Kontrolle zu setzen. Es war und ist für die öffentlich getragenen Kultureinrichtung ein Segen, dass man sich daraus in den letzten Jahrzehnten weitgehend verabschiedet hat, indem man den Einrichtungen unnötige Verwaltungszwängen ersparte. Auf diesem Weg muss bei aller Notwendigkeit öffentlicher Mitverantwortung und Finanzierung für Kunst und Kultur weitergegangen werden. Der Reinstallation der Verwaltungsdirektors alter Schule, der sich als verlängerte Stadt- oder Staatsverwaltung verstand, wäre ein Rückschritt.
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