Wie sozial sind der befristete Arbeitsvertrag und das Nichtverlängerungsrecht im deutschen Theater?

In regelmäßigen Abständen wiederholen sie sich, die Debatten über die Nichtverlängerung von künstlerischen Arbeitsverhältnissen beim Intendantenwechsel. In Osnabrück gibt es gerade diese Diskussionen, in Meiningen-Eisenach, auch in Schwerin. Beklagt wird, dass eine größere Zahl von künstlerischen Mitarbeitern, meist Solodarsteller wie Schauspieler oder Sängerinnen, aber auch Dramaturginnen, Mitarbeiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit oder technische Leiterinnen das Haus mit dem bisherigen Intendanten verlassen muss. Sie alle haben einen Ensemble-Vertrag, also einen auf eine oder mehrere Spielzeiten befristeten Arbeitsvertrag, der oft schon viele Jahre besteht und der nach dem einschlägigen Tarifvertrag, dem Normalvertrag (NV) Bühne, durch sogenannte Nichtverlängerung beendet werden kann. Dazu bedarf es der künstlerischen Gründe; kommt ein neuer Intendant, eine neue Intendantin, reicht der Intendantenwechsel zur Begründung der Nichtverlängerung aus. Und deshalb darf man sich fragen: Wird da zu Recht über ein mangelndes soziales Bewusstsein, über einen zu arbeitgeberfreundlicher Tarifvertrag geklagt? Die Antwort lautet eindeutig nein.

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Die projektbezogene Befristung

Es ist überall in der Welt wegen der künstlerischen Freiheit Theaterusance, dass den in diesen Betrieben tätigen Künstlern fast immer befristete Arbeitsverträge angeboten werden. Meist werden diese Arbeitsverträge begrenzt auf die Laufzeit eines Projekts, an dem der künstlerische Mitarbeiter oder die künstlerische Mitarbeiterin jeweils beteiligt ist, abgeschlossen. Besteht ein Theaterprojekt aus einer sechswöchigen Probenzeit und steht das eingeübte Stück dann meist en suite, also so gut wie jeden Tag, für vier Wochen auf dem Spielplan, dann bekommt eine in diesem Projekt tätige Schauspielerin einen Arbeitsvertrag für insgesamt 10 Wochen. Danach ist sie arbeitslos, bis sie das Engagement in einem neuen Projekt gefunden hat.

So geht es zu beispielsweise in Großbritannien, in Italien, in Frankreich oder in Spanien, von Theatern außerhalb Europas ganz zu schweigen. Aber auch Privattheater in Deutschland verfahren so, letztlich sogar die öffentlich getragenen Stadttheater, Staatstheater und Landesbühnen. Denn jenseits der Ensemble-Verträge nach NV Bühne schließen auch diese Theater jährlich tausende von projektbezogen befristeten Verträgen ab, teils auf Angestellten-Basis, d.h abhängig beschäftigt, teils auf der Grundlage von selbstständiger Tätigkeit mit freien Werk- und Dienstverträgen. Solche Verträge laufen – auch hierzulande – aus, wenn das Projekt beendet ist. Soziale Schutzmechanismen existieren in diesem Fall nicht, genauso wenig wie beispielsweise bei einer Arbeitnehmerin, die ein Betrieb als Aushilfe für einen kranken Mitarbeiter befristet auf dessen Krankmeldung oder für eine wegen einer Schwangerschaft oder wegen Elternzeit ausgefallene Sekretärin beschäftigt wird.

Was sagt das Gesetz?

Dass diese Befristungen für einen vorübergehenden Bedarf zulässig sind, ergibt sich aus der für befristete Arbeitsverträge einschlägigen EU-Richtlinie und aus dem deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG). Ebenso erlauben aber beide Rechtsnormen, dass ein Arbeitsvertrag ausschließlich wegen der Art der Tätigkeit befristet wird. Das ist beispielsweise bei einer künstlerischen Tätigkeit der Fall. Damit ist einerseits ein Vorteil für die Arbeitnehmer verbunden. Denn sie müssen nicht das ständige Auf und Ab des projektbezogen befristeten Arbeitsvertrag über sich ergehen lassen. Vielmehr können sie über Jahre (hier nach NV Bühne) befristet beschäftigt werden, was in deutschen Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen auch regelmäßig stattfindet. Gerade beim Intendantenwechsel stößt der neue Intendant häufig auf Verträge, die zehn Jahre und länger bestehen. Andererseits liegt für die Arbeitgeberseite der Vorteil ebenfalls in der größeren Kontinuität, aber auch in der Erleichterung der Beendigung des Vertrages durch die Befristung. Sie ist Auswuchs der Kunstfreiheit und ersetzt die sich aus der projektbezogenen Befristung ansonsten resultierende Flexibilität.

Der soziale Schutz im Nichtverlängerungsverfahren nach NV Bühne

Aber die Möglichkeit der Befristung auf einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren und unter gewissen Voraussetzungen auch noch bis zu vier Jahren mehr ist für die Arbeitgeberseite auch ein Privileg, das gewisser sozialer Ausgleichs- und Schutzmaßnahmen bedarf. Dazu gehört zunächst das Nichtverlängerungsverfahren selbst, das deutlich komplizierter ist als ein Kündigungsverfahren bei unbefristeten Arbeitsverträgen und schon nach einjähriger Befristung mit einer Auslauffrist von zehn Monaten zur Anwendung gelangt. Wer also am Ende einer Spielzeit (im Sommer) gehen soll, muss das bis Ende Oktober des Vorjahres, nach acht Jahren Beschäftigungsdauer bis Ende Juli des Vorjahres vom Arbeitgeber schriftlich mitgeteilt bekommen. Unzulässig ist eine Nichtverlängerungsmitteilung ohne vorherige, detailliert tarifvertraglich geregelte Anhörung der betroffenen Person. Schwangere werden ebenso mittlerweile vor Nichtverlängerungen geschützt wie Mitarbeiter, die sich als gewählte Vertreter der den NV Bühne abschließenden Gewerkschaften für ihre Kollegen und Kolleginnen einsetzen. Einen solchen Schutz gibt es bei einer projektbezogenen Befristung eines Arbeitsvertrags in keiner Weise. Da läuft der befristete Vertrag einfach aus, mit oder ohne Schwangerschaft. Zusätzlich wird hingegen bei einer Nichtverlängerung wegen Intendantenwechsel nach vier Jahren eine gestaffelte Abfindung bezahlt, die im Falle eines NV Bühne-Vertrags von 12 Jahren und mehr auf sechs Monatsgehälter ansteigt. Das gilt jedoch nur, soweit etwa der nichtverlängerte Schauspieler oder die nicht verlängerte Dramaturgin kein neues Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber hat. Von solchen Abfindungen können projektbezogen Beschäftigte wo auch immer in der Künstlerwelt nur träumen.

Der befristete Arbeitsvertrag in Corona-Zeiten

Wenn eine Künstlerin mit einem Theater einen befristeten Vertrag (selbstständig oder abhängig beschäftigt) für ein einzelnes Projekt abgeschlossen hatte, der während des ab März verfügten Corona-Lockdowns auslief, stand sie am Tag nach Beendigung des Vertrags ohne jede Beschäftigung da. Neue Engagements wurden ihr wegen des Stillstands des Kulturbetriebs nicht angeboten. Angewiesen war sie weitgehend auf Hartz 4, entweder als Arbeitslosengeld II bei abhängiger Beschäftigung oder als Grundsicherung bei Selbstständigkeit. Wer hingegen als NV Bühne Mitarbeiter über einen Ensemble-Vertrag nach NV Bühne verfügte, der hatte, nachdem im März 2020 in Deutschland der erste Corona-Lockdown verfügt worden war, eine Beschäftigungsgarantie bis zum Ende der Spielzeit 2020/21, also bis zum Sommer 2021. Da im  Laufe des Jahres 2020 keine coronabedingten Nichtverlängerungsmitteilungen ausgesprochen wurden, verlängerte sich diese Jobgarantie bis zum Sommer 2022. Eine solche Situation gibt es für Theaterkünstler in keinem anderen Land Europas, wobei man allerdings Österreich und die deutschsprachige Schweiz ausnehmen muss; beide verfahren praktisch entsprechend dem deutschen Nichtverlängerungssystem.

Bewertung der Nichtverlängerung

Angesichts des erheblichen Schutzmechanismus des NV Bühne ständig, vor allem beim Intendantenwechsel, den Versuch zu machen, das Nichtverlängerungsverfahren als unsozial darzustellen, verkennt, wie sehr das Verfahren eine kluge Abwägung zwischen der Freiheit der Kunst und dem sozialen Schutz der Mitarbeiter ist. Die projektbezogene Befristung von Beschäftigungsverträgen als Alternative stärkt zwar die Flexibilität im künstlerischen Bereich, also die Freiheit der Kunst, ist aber, wie man in vielen Ländern der Welt gerade jetzt beobachten kann, hochgradig unsozial. Die Alternative in anderer Richtung – der unbefristete Vertrag mit künstlerischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Theater – führte jedoch zu einer völlig statischen Personalsituation (einschließlich der Überalterung der Ensembles), die letztlich auch nicht im Sinne der Arbeitnehmer sein kann, erst recht nicht der jungen, die noch im Theater Fuß fassen wollen und müssen. Wollte zudem eine neue Intendantin unter Fortbestand der bisherigen Künstler-Arbeitsverhältnisse mit den von ihr ausgesuchten Künstlerinnen und Künstlern ihren Spielplan gestalten, dann müsste sie diese hinzuengagieren, was eine teuer Aufblähung des Ensembles zur Folge hätte.

Es ist dennoch keine Frage, dass der Verlust des Arbeitsplatzes wegen Intendantenwechsels, vor allem auch in Corona-Zeiten, für die Betroffenen bitter ist. Umso notwendiger ist dann, wenn kein neuer Arbeitsplatz angeboten wird, die soziale Absicherung. Sie wird im Falle des Intendantenwechsels teils durch die oben geschilderte Abfindung sichergestellt. Sie wäre aber in einer Branche wie die der darstellenden Kunst, wo nur befristete Arbeitsverträge angeboten werden, in der Arbeitslosenversicherung durchaus besser als bisher zu realisieren. Das französische Modell der „Intermettents du spectacle“ ist dafür ein gutes Beispiel.

Die Zukunft

Vielerorts wird zur Zeit die Frage diskutiert, ob Corona nicht auch die Chance zur Veränderung ist. Das Wort „Innovation“ macht die Runde. Manch einer zweifelt bereits daran, dass man überhaupt noch einmal zum Ensemble- und Repertoirebetrieb der bisherigen Form zurückkehren wird. Andere warnen davor, Bewährtes leichtfertig über Bord zu werfen. Wer ständig das Nichtverlängerungsrecht wegen zu vieler Vertragsbeendigungen bei Intendantenwechsel kritisiert, läuft Gefahr, damit die erste Gruppe zu unterstützen. Das hätte für die künstlerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verhängnisvolle Folgen, denn sie bekämen meist nur noch projektbezogen befristete Verträge. Das gerade ist ja der Grund, warum im Sinne einer größeren künstlerischen Flexibilität der Beendigung des Ensemble- und Repertoiretheater das Wort geredet wird. Doch wer an dieser Stelle weiterdenken möchte, der muss es zuerst aus der sozialen Sicht der Künstler tun und der muss es bezahlen. Und das hieße erst recht, die Sozialversicherung bei befristeten Arbeitsverträgen in der darstellenden Kunst deutlich zu verbessern. Alles andere ist sozialpolitisch fahrlässig. Es als Utopie oder Innovation zu bezeichnen, ist Euphemismus.

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