Bürokratie in der Kunst

1992 hatte ich gerade mein Amt als Direktor des Deutschen Bühnenvereins angetreten, als mich dessen damalige Präsident August Everding zu einem Gespräch über meine künftigen Aufgaben nach München einlud. Wir trafen uns in seinem beeindruckenden Intendantenbüro im Prinzregententheater. Everding hielt sich nicht lange mit Vorreden auf, sondern kam sogleich auf sein Herzensanliegen zu sprechen: Die Kunst und allem voran das Theater seien dringend aus den Fesseln gesetzlicher Vorschriften und der damit verbundenen Bürokratie zu befreien. Arbeitszeitregelungen und Vergaberecht, Tarifverträge und Haushaltsrecht, überzogene Sicherheitsvorschriften, unzählige zu beachtende Verwaltungsregelungen, alles Teufelszeug, das die Kunst beeinträchtige, wenn nicht sogar verhindere. Er wollte damals ein „Theatergesetz“, wie er es nannte, dessen einziger Zweck sein sollte, Gesetze für das Theater im Sinne der Kunstfreiheit außer Kraft zu setzen.

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Auflagen über Auflagen

Was sich seitdem getan hat, ist jedoch – bei allen Bemühungen des Bühnenvereins und anderer Institutionen, die Freiheit der Kunst hochzuhalten – eher das Gegenteil dessen, was Everding anstrebte. Die Regelungen sind wie überall engmaschiger geworden. Die Rechtslage wird von Tag zu Tag komplizierter. Auflagen über Auflagen, worum immer es auch geht. Wir regulieren uns noch zu Tode, hat es ein Intendant einmal formuliert, als es wieder einmal darum ging, ein neues Gesetz im Theater umzusetzen. Und da das Theater als ein strukturierter Kulturbetrieb eine Art Seismograf für die Probleme einer Gesellschaft ist, verwundert es nicht, dass plötzlich der Wunsch nach Bürokratieabbau nicht nur in der Kunst, sondern auch sonst in aller Munde ist.

Selbst Zeitgenossen (und natürlich auch *Genossinnen), die sich sonst vorwiegend mit allem anderen als mit Rechtsfragen zu befassen pflegen, runzeln beim Wort Bürokratie die Stirn. Vielen ist es zum Synonym für alles geworden, was mal wieder nicht funktioniert. Sie vermuten zudem (oft nicht ganz zu Unrecht), dass ihre berechtigten oder auch weniger berechtigten Anliegen viel zu oft in der Versenkung der „Krater“ staatlicher und städtischer „Büros“ verschwinden. Umso lauter wird der Ruf nach Bürokratieabbau. Was das genau bedeuten soll, ist oft gar nicht die Frage. Gerne wird das Wehklagen der deutschen Wirtschaft über zu viele staatliche Formalitäten, ja, so heißt es, über die Regulierungswut von Stadt, Land, Bund und vor allem der EU kritiklos übernommen. Es ist halt schön und allzu verlockend, im Mainstream mitzuschwimmen.

Das Beispiel Vergaberecht

Dennoch ist nicht zu leugnen, an der Sache ist etwas dran. Man denke nur an den Aufwand, den sich die Bundesrepublik Deutschland hat einfallen lassen, um auch bei öffentlichen Aufträgen finanziell untergeordneter Bedeutung (also kleinere Aufträge mit überschaubaren Auftragssummen) den Verwaltungsapparat auf Touren zu bringen (s. dazu https://stadtpunkt-kultur.de/2022/02/vergaberecht-und-kunst-ueber-die-unterschwelle-im-kulturbetrieb/). Davon sind gerade auch die öffentlich getragenen Kultureinrichtungen wie Theater und Museen betroffen. Diese Überregulierung geschah zumal ohne Not, denn ausnahmsweise hat sich in dieser Frage selbst die EU erstaunlicherweise mit eher bescheidenen Vorgaben zurückgehalten. Aber so ist das nun einmal in Deutschland: Erlässt die EU eine Regelung, weiß man hierzulande mit Sicherheit, wie es auch noch komplizierte geht und setzt die EU-Vorgaben nicht nur zu hundert Prozent, sondern gerne einhundertfünfzig prozentig um. Ehe man sich versieht, wird dann in den rechtspopulistischen Kreisen der völlig abwegige Austritt aus der Europäischen Union postuliert.

Was das Problem ist und was nicht

Um der Sache ein wenig auf den Grund zu gehen, müsste zunächst geklärt werden, was denn staatliche Bürokratie im eigentlichen Sinne bedeutet. Letztlich handelt es sich um nichts anderes als die Ausübung der dritten Gewalt, also die Exekutive. Sie muss es geben, denn irgendjemand muss die erlassenen Gesetze ja ausführen. Das geschieht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, vor allem wenn der Staat Leistungen an sie erbringt, ist aber auch zur Steuerung von Vorgängen unterschiedlichster Art bis hin zur Kontrolle ökonomischer Macht sowie des mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Handelns unverzichtbar. Bürokratie ist also zunächst einmal nichts Schlechtes, auch wenn der Begriff eher negativ konnotiert ist.

Die das Verwaltungshandeln regelnden Gesetze haben zugleich eine darüberhinausgehende Bedeutung: Sie sollen die Menschen vor Fehlern oder gar willkürlichem Verhalten der Exekutive schützen. Je mehr der Gesetzgeber genau das ausschließen will, umso detaillierter fallen die gesetzlichen Bestimmungen im Sinne der Gerechtigkeit aus. Sind deshalb die Regelungen sehr detailliert, wird natürlich auch das Verwaltungshandeln kleinteiliger und zugleich der Informationsbedarf der Verwaltung, der sich dann in komplizierten Antragsformularen niederschlägt, größer. Lässt der Gesetzgeber dagegen Spielräume, überlässt er der Exekutive, ob sie die Spielräume mit dem Risiko von Ungerechtigkeiten nutzt oder ob sie die Spielräume in eigener Verantwortung einschränkt, um der jeweiligen Konstellation des Einzelfalls möglichst gerecht zu werden. 

Was dies konkret bedeutet, ließ sich gut im Falle der staatlichen Coronahilfen beobachten. Im Sinne einer unbürokratischen Soforthilfe gestaltete der Gesetzgeber die Bedingungen für die Auszahlung der jeweiligen Geldbeträge zunächst relativ großzügig. Das wurde von den Betroffenen zum Teil gezielt ausgenutzt, zum Teil nicht ernst genommen. In der deutschen Öffentlichkeit kursierten bald Berichte über die mangelnde Rechtfertigung einiger Zahlungen, vor allem an diejenigen, die sie nicht nötig hatten. Dass dieser Umstand der Preis für eine möglichst zügige Auszahlung der Gelder war und die Bürokratie der Prüfung von Auszahlungsvoraussetzungen wegen des damit verbundenen Aufwands zudem teurer gewesen wäre als manche ungerechtfertigte Anweisung von Beträgen, war der kritischen Öffentlichkeit kaum zu vermitteln. 

Die Bürokratie gehört im Grunde zu einem gut organisierten Rechtsstaat. Ihn mit der Kettensäge zu bearbeiten, wie es derzeit etwa in den USA oder in Argentinien geschieht, kann für das auf seine Rechtsordnung zu Recht stolze Europa keinesfalls in Frage kommen. Gerade in Zeiten von andernorts völlig willkürlichem staatlichem Handeln ist es vielmehr die Aufgabe Europas, den Rechtsstaat hochzuhalten. Bei allem Verständnis für die Kritik an mancher wenig überzeugenden rechtliche Hürde ist daher Vorsicht geboten, wenn es darum geht, sie abzubauen. Niemandem ist geholfen, wenn durch einen zu weit gehenden Bürokratieabbau das Kind der Gerechtigkeit staatlichen Handelns mit dem Bade ausgeschüttet wird.

Exkurs I: Die Verantwortung

Lässt der Gesetzgeber der Exekutive Handlungsspielräume, so steigt die Verantwortung der handelnden Personen. Denn diese haben es in der Hand, durch ihr Handeln die zu entscheidenden praktischen Fragen unterschiedlich zu lösen. Dies ist ungleich schwieriger als der bloße Vollzug eines Gesetzes, das die Einzelheiten genau festlegt. Zu Recht wird daher im Zusammenhang mit dem angestrebten Bürokratieabbau eine wachsende Bereitschaft der Verwaltung gefordert, wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Diese Bereitschaft nimmt jedoch eher ab als zu. Denn zum einen fehlt es in vielen Bereichen der Verwaltung an Personal, was die Fehlerquote erhöht. Zum anderen steht der einzelne Verwaltungsmitarbeiter, vor allem wenn er ein politisches Amt bekleidet, heute unter einem viel höheren Druck als früher. Dies liegt nicht zuletzt an einer viel stärkeren öffentlichen Wahrnehmung und ebenso stärkeren kritischen Bewertung staatlichen Handelns durch die Medien, insbesondere durch die sozialen Medien, zum Teil mit Maßstäben, die der Sache in keiner Weise gerecht werden.

Exkurs II: Die individuellen Rechte 

Gerade bei Bauvorhaben wird beklagt, dass die notwendigen Genehmigungen viel zu lange dauern. Das mag sein. Oft liegt es aber nicht an einer überbordenden Bürokratie, sondern daran, dass wir die Rechte des Einzelnen so gestärkt haben, dass gegen verschiedene Tätigkeiten der Exekutive individuelle Rechte, die diesem Handeln entgegenstehen, gerichtlich geltend gemacht werden können. Dies gilt für nachbarrechtliche Ansprüche (Abstandsflächen, Immissionen), aber auch für allgemein anerkannte Werte wie den Natur- und Umweltschutz. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich halte das nicht in jeder Hinsicht für falsch. Aber auch hier gilt es abzuwägen zwischen wirklich berechtigten Interessen und solchen, die unter dem Deckmantel des Schutzes von Rechten Notwendiges (z.B. verstärkten Wohnungsbau) verhindern.

Aus all dem folgt: Differenzierung ist das Gebot der Stunde. Insofern dürfen wir gespannt sein, welche Maßnahmen zur Entbürokratisierung die neue Bundesregierung ergreifen wird. Wichtig ist, dass es nicht bei Allgemeinplätzen bleibt, sondern dass konkret benannt und umgesetzt wird, was verändert werden soll. Ob die neue Koalitionsvereinbarung Anlass zur Hoffnung ist, kann man bezweifeln. Die Abschaffung der Bonpflicht in der Bäckerei ist schön, aber im Vergleich zu den weitaus schwierigeren grundsätzlichen Fragen, die sich stellen, ein bescheidener Anfang. Das bisherige eher allgemeine Gerede vom Bürokratieabbau allein bringt uns jedenfalls nicht weiter, vor allem nicht in den durch Institutionen verwalteten Kunstbetrieb.

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