Kölner Band „Die Höhner“ setzt gegenüber der NPD ihr Urheberpersönlichkeitsrecht durch, ein Beschluss des Bundesgerichtshofs.

Am 11. Mai 2017 fasste der Bundesgerichtshof unter dem Aktenzeichen I ZR 147/16 einen jetzt öffentlich erschienenen, interessanten urheberrechtlichen Beschluss. Die Kölner Band „Die Höhner“ hatte die NPD erfolgreich verklagt, es zu unterlassen, ihre Songs („Wenn nicht jetzt, wann dann“ und „Jetzt geht´s los“) auf Wahlkampfveranstaltungen zu spielen. Der Bundesgerichtshof bestätigte nun in dem genannten Beschluss völlig zu Recht diese Entscheidung. Sie kann Auswirkungen auf das öffentliche Abspielen von erschienenen Tonträgern haben, etwa im Theater.

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1. Die Ausgangslage

Wer erschienene Tonträger mit urheberrechtlich geschützter Musik öffentlich abspielen will, holt sich die Rechte in der Regel bei der GEMA. Sie unterhält je nach Anlass der öffentlichen Wiedergabe dafür unterschiedliche Tarife, der Nutzer des Tonträgers zahlt also Geld. Voraussetzung für die Rechteeinräumung durch die GEMA ist, dass die an der Erstellung des Tonträgers beteiligten Urheber mit ihr einen Wahrnehmungsvertrag abgeschlossen haben, was in Regel der Fall ist. Der Kontrahierungszwang, dem Verwertungsgesellschaften wie die GEMA unterworfen sind, erlaubt es ihr dann nicht, die Einräumung der gewünschten Rechte gegenüber dem Nutzer abzulehnen. Urheberpersönlichkeitsrechte werden von der GEMA nicht geprüft und können aus praktischen Gründen auch nicht geprüft werden. Es handelt sich hier um ein Massengeschäft der Rechteeinräumung (Radio, Diskothek, Gaststätten, Geschäfte, Großveranstaltungen etc.). Solche Überprüfungen würden die Verwertungsgesellschaften völlig überfordern.

Das Urheberpersönlichkeitsrecht kommt also erst ins Spiel, wenn der Urheber selbst gegen die öffentliche Wiedergabe des Tonträgers mit der Begründung, in eben diesem Persönlichkeitsrecht verletzt zu sein, rechtlich vorgeht. Für die an der Herstellung des Tonträgers beteiligten ausübenden Künstler (Musiker, Sänger) gilt nichts anderes. Auch ihre Leistungsschutzrechte werden von der GEMA im Auftrag der GVL, der Verwertungsgesellschaft für ausübende Künstler, vermarktet. Fühlen sie sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, müssen sie wie die Urheber  selbst aktiv werden. Maßgebend ist in allen Fällen § 14 UrhG, der die Entstellung oder anderweitige Beeinträchtigung des Werkes oder der erbrachten darstellerischen Leistung verbietet, wenn berechtigte geistige oder persönliche Interessen der Rechteinhaber gefährdet sind.

2. Die Rechtsprechung

Der Bundesgerichtshof hat in dem von ihm zu beurteilenden Fall der Höhner hinsichtlich dieser Gefährdung sehr wesentlich darauf abgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht die NPD zwar nicht verboten, sie aber als verfassungsfeindlich angesehen hat. Kein Urheber müsse in Kauf nehmen, dass sein Werk durch eine verfassungsfeindliche Partei für ihre Zwecke genutzt werde. Das macht deutlich, dass der Bundesgerichtshof die Hürde eher hoch ansetzt. Etwas niedriger sah er die Schwelle bei der Verwendung eines Musikstücks für einen Mobiltelefon-Klingelton (Urteil vom 18. Dezember 2008 – I ZR 23/06). Dort war allerdings das Musikstück umgestaltet worden, um als Klingelton geeignet zu sein. Eine entsprechende Umgestaltung hat es in dem vom Bundesgerichtshof zuletzt entschiedenen Fall nicht gegeben und gibt es auch in vielen Fällen nicht, die für die Nutzer von erschienenen Tonträgern relevant sind.

3. Konkrete Einzelfälle

Im Schauspiel beispielsweise werden Tonträger mit Rechteeinräumung der GEMA eingesetzt, um Umbaupausen zu überbrücken. Oder sie dienen der Untermalung einer bestimmten Szene mit dem Ziel, eine gewünschte Stimmung beim Publikum entstehen zu lassen. Auch im zeitgenössischen Tanztheater kommen Tonträger mit Rechteeinräumung durch die GEMA zum Einsatz. Um Fälle, in denen die Musik Teil der dargestellten Handlung ist, wie etwa in der Oper oder beim Musical, geht es im Übrigen hier nicht. In diesen Fällen werden die Rechte nicht von der GEMA mit Kontrahierungszwang eingeräumt, sondern von den Musikverlagen in einem ausgehandelten Vertrag. Im Rahmen dieser Vertragsverhandlungen können dann die Rechte der Urheber gewahrt werden.

Legt man nun die Beschlüsse des Bundesgerichthofs zugrunde, taucht in den oben genannten Fällen eine Reihe von Fragen auf, wenn ein Theater einen erschienenen Tonträger in einer Produktion öffentlich abspielt und die Rechte dazu von der GEMA eingeräumt wurden und eingeräumt werden mussten: Darf der Tonträger gekürzt wiedergegeben werden? Oder ist die Verkürzung bereits ein Verstoß gegen das Urheberpersönlichkeitsrecht? Wie steht es bei der Nutzung in einem konkreten Zusammenhang mit einem Stück, einer Szene oder einer Inszenierung, etwa wenn ein Song bei einer Gewaltszene abgespielt wird? Darf ein Tonträger für eine zeitgenössische Tanztheaterproduktion genutzt werden, wenn der Komponist der Musik es nicht will und schon darin eine Verletzung seines Urheberpersönlichkeitsrechts sieht?

4. Rechtliche Beurteilung der Einzelfälle

Ausgehend von der geschilderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird man in den genannten Fällen eher zugunsten des Abspielens des Tonträgers entscheiden müssen. Denn auf der anderen Seite des Interessenskonfliktes steht nicht eine Wahlkampfveranstaltung der NPD, sondern ein Kunstbetrieb, der sich auf die in Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit berufen kann. Erwirbt ein solcher Betrieb berechtigterweise die Rechte zum Abspielen des erschienenen Tonträgers von der GEMA, darf er den Tonträger im Rahmen der Kunstausübung auch einsetzen. Dies gilt umso mehr, als die künstlerische Darbietung ja immer Spiel, nie Realität ist. Verbote durch die Rechteinhaber werden und müssen die äußerst seltene Ausnahme bleiben.

Viel schwieriger wird die Rechtslage, wenn die Tonträger nicht durch einen solchen Kunstbetrieb eingesetzt werden, sondern beispielsweise in einer Disco oder Gaststätte, in der beispielsweise überwiegend Rechtsradikale verkehren. Oder in einem Geschäft, das vorwiegend Bekleidungsstücke an die rechtsradikale Szene verkauft. Hier wird man wohl eher die Möglichkeit bejahen müssen, seitens der Urheber und ausübenden Künstler eine Untersagung des Abspielens eines Tonträgers gerichtlich zu erwirken. Nicht ausreichend für ein solches Verbot wird es sein, dass beispielsweise der Urheber die politische Richtung einer Partei, die den erschienenen Tonträger bei einer Wahlkampfveranstaltung abspielt, nicht teilt. Wer sich mit einem Tonträger in das Massengeschäft des Musikbetriebs auch aus kommerziellen Gründen begibt, muss entsprechende Nutzungen weitgehend in Kauf nehmen.

5. Ergebnis

Insgesamt bleibt die Abgrenzung jedoch schwierig und es wird jeweils eine Frage des Einzelfalls bleiben, ob Urheber und/oder die leistungsschutzberechtigten ausübenden Künstler wegen der Verletzung des Urheberpersönlichkeitsrechts das Verbot des Abspielens ihres Tonträgers erwirken können. Im Sinne der Rechtssicherheit ist aber Vorsicht geboten. Das muss auch dem neusten Beschluss des Bundesgerichtshofs entnommen werden, der Ausgangspunkt dieser hier veröffentlichten Betrachtung ist.

 

Kommunale Kulturpolitik, aber was macht Bonn?

Die Stadt Bonn ist eine der wichtigsten und erfolgreichsten Städte in NRW. Während jedoch die meisten Kommunen hierzulande die Bedeutung der Künste für ihr städtisches Leben schon lange bemerkt haben, taumelt die alte Bundeshauptstadt von einem kulturpolitischen Debakel ins andere. Die Frage ist, wie es weitergehen soll.

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Erst leistet sich Bonn eine jahrelange Debatte über den schon früh als aussichtslos erkennbaren Neubau einer angeblich vollständig privat finanzierten Konzerthalle. Nicht zuletzt dadurch verzögert sich die nun begonnene Renovierung der vorhandenen und durchaus bewährten, unter Denkmalschutz stehenden Beethovenhalle so, dass sie nunmehr für das 2020 zu feiernde Beethovenjubiläum nicht mehr fertig wird. Dennoch will man sich als Geburtsstadt Beethovens feiern und nennt sich stolz „Beethovenstadt Bonn“. Frei nach dem Motto „Event statt Nachdenken“ hadern Teile der Stadt mit der erfolgreichen intellektuellen und künstlerischen Profilierung des Beethovenfests durch die jetzige Festspielleiterin. Die Renovierung des städtischen Opernhauses und der als Schauspielhaus fungierenden Kammerspiele wird vor sich hergeschoben, weil man plötzlich die Überlegung anstellt, ein neues Theater zu bauen, möglichst, wie einige schon wieder fordern, mit neuer Konzerthalle. Gleichzeitig plant die Stadt spätestens 2023 den laufenden Etat des Stadttheaters um weitere jährlich 3,5 Millionen Euro zu kürzen. Nun hat ein Gutachten dem ohnehin schon finanziell durch die bisherigen Kürzungen der städtischen Mittel bedrängten Theater bestätigt, dass da praktisch nichts mehr an Einsparungen zu holen ist, wolle man nicht das Niveau des künstlerischen Angebots herunterfahren. Und was passiert? Erst einmal nichts außer etwas merkwürdige Reaktionen.

Schon vor einiger Zeit war zum Gutachten aus Kreisen der CDU in dieser Stadt zu hören, dann lasse sich das bisherige Niveau eben nicht halten. Jetzt lässt sich die Bonner Jamaika-Koalition mit der schwammigen Ankündigung vernehmen, man wolle das Gutachten ergebnisoffen diskutieren. Einige reden von der Schließung der Sparte Schauspiel, nachdem die Sparte Tanz schon vor einigen Jahren einem Gastspielbetrieb geopfert wurde. Die in eine neue Konzerthalle etwas vernarrte SPD lobt sich mit ihrer Haltung, ohnehin gegen eine umfassende Renovierung der Beethovenhalle gewesen zu sein, um jedenfalls pünktlich zum Beethovenjubiläum fertig zu werden. Alles klingt ein wenig wie in Absurdistan.

Wann, so fragt sich der erstaunte Kulturmensch, begreift diese Stadt endlich, dass vor allem eine intakte Infrastruktur vonnöten ist, um sich mit dem Titel „Beethovenstadt“ als Kulturstandort in Konkurrenz mit anderen Städten profilieren zu können? Dazu braucht es zunächst funktionstüchtige Gebäude, wie sie andernorts selbstverständlich existieren oder (wieder)hergestellt werden. Man schaue nur nach Heidelberg, Augsburg, Dresden oder Oldenburg. Dazu braucht es eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Künste durch die Stadt, und zwar des Stadttheaters, der Museen wie auch der freien und privaten Kulturszene. Dazu braucht es ein profiliertes Beethovenfest. Und dazu braucht es ein Ende der lähmenden Kulturzukunftsdebatten sowie eine Kulturpolitik, die die Stadt strahlen und glänzen lässt, statt sie ständig mit neuen Querelen öffentlich herunter zu reden. Natürlich kann man auch etwas neu bauen, aber nur, wenn man vernünftig plant, realistisch die Kosten kalkuliert und weiß, welche Gebäude man wirklich für die Künste, für das Musikleben braucht und welche nicht. Von diesem Wissen scheint man in Bonn leider immer noch weit entfernt zu sein.

Brauchen wir wegen des Echopreises eine Debatte über die Freiheit der Kunst?

Seit der Vergabe des Echo 2018 an Kollegah und Farid Bang ist die Aufregung über deren Texte groß. Zurecht, das kann man nicht oft genug sagen. Doch nun beginnen einige eine Diskussion um die Kunstfreiheit und deren Grenzen. Da aber ist Vorsicht geboten.

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Es ist keine Frage: Die Texte der Rapper Kollegah und Farid Bang verletzen den Anstand, sind gekennzeichnet von Rassismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Sexismus und enthalten antisemitische Elemente. Sie sind geschmacklos und weitgehend unerträglich. Warum sie auch immer geschrieben werden, als Provokation, um zu schockieren oder auch nur aus kommerziellen Gründen, kann letztlich hier dahinstehen. Wer halbwegs seinen Verstand beieinander hat, kann sie nur ablehnen. Den Echopreis hätten die beiden Rapper nie bekommen dürfen.

Dennoch ist der wirtschaftliche Erfolg der Rapper nicht zu übersehen. Also ist die Frage, was wen veranlasst, das alles zu konsumieren. Offenkundig gibt es in der Gesellschaft eine Stimmung im besten Fall der Gleichgültigkeit gegenüber den beschriebenen Inhalten, die schon zu großer Besorgnis Anlass gibt. Noch und bei weitem schlimmer wäre es, wenn die Inhalte auf Zustimmung stießen. Ausschließen kann man das in Teilen der Gesellschaft heute nicht mehr. Umso mehr ist es erforderlich, dem Phänomen des Interesses an den Rapsongs und des damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolgs nachzugehen. Insofern hat die jetzige Debatte auch etwas Gutes. Man hätte sich allerdings manches Engagement von denen, die an der Echopreisvergabe beteiligt sind, etwas früher gewünscht, also eher als Auslöser der Debatte anstelle eines Rücktritts erst im Zuge der entstandenen öffentlichen Empörung. Und wieso gab es in der Veranstaltung am 12. April in Berlin keine standing ovations für Campino?

Natürlich darf man auch fragen, ob das, was Kollegah und Farid Bang da abliefern, Kunst ist? Vielleicht spart man sich das aber besser, weil diese Frage die Texte nur aufwertet. Von Interesse ist sie nämlich erst, wenn sich jemand entscheiden würde, gegen die Texte juristisch vorzugehen. Dazu bedürfte es der Anzeige eines Betroffenen wegen Beleidigung oder seiner Klage vor dem Zivilgericht, wegen der Verletzung eigener Persönlichkeitsrechte, auf Unterlassung der Verbreitung der Texte und Songs sowie ihrer öffentlichen Wiedergabe. Oder des juristischen Vorgehens der Staatsgewalt gegen diese Verbreitung und öffentliche Wiedergabe, etwa weil der Tatbestand des § 130 Strafgesetzbuch, also der der Volksverhetzung, erfüllt wäre. Dann nämlich erst müsste geklärt werden, ob die Kunstfreiheit die Texte vor einem juristischen Zugriff schützt. Solche juristischen Schritte aber haben bisher nicht stattgefunden, wohl wissend, dass das Ergebnis offen ist, ja wahrscheinlich der Prozess zugunsten der Rapper ausgehen müsste. Dieser rechtlich naheliegende Ausgang aber wäre fatal, genauso fatal allerdings wie das umgekehrte Ergebnis. Denn was ein Verbots-Urteil tatsächlich für die Kunstfreiheit, ein im Grundgesetz bewusst nicht unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt stehendes und deshalb sehr weitgehendes Grundrecht, an anderer Stelle bedeuten würde, ist kaum zu ermessen.

Insofern ist auch davor zu warnen, jetzt die Verleihung des Echos an Kollegha und Farid Bang zum Anlass zu nehmen, eine Debatte über die Grenzen der Kunstfreiheit unnötigerweise zu beginnen. Dabei können nur viele verlieren, die Freiheit der Kunst allen voran, und gewinnen vor allem die Rapper, denen man eine aufwertende und deshalb falsche öffentliche Aufmerksamkeit zuteil werden ließe. Davon hatten sie durch die Preisverleihung schon zu viel.

Was wir aus dem Rücktritt von Chris Dercon lernen können.

Chris Dercon hat sein Amt als Intendant der Volksbühne Berlin aufgegeben. Kaum jemanden wird das überrascht haben. Überrascht hat allenfalls, wie Hals über Kopf es geschah. Der Vorgang wirft Fragen auf, auch solche, die bisher, soweit ersichtlich, nicht diskutiert werden.

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Kaum war Chris Dercon zum neuen Intendanten der Volksbühne Berlin berufen, regten sich die Widerstände. Es waren teils die Widerstände derer, die den ewigen Frank Castorf wollten, aber auch der üblichen Verdächtigen, die immer gegen alles sind, und von Kulturinteressierten, die sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft der Volksbühne machten. Schnell stellte sich heraus, dass vor allem eines geschehen war: Die – wie der jetzige Rücktritt – ebenso Hals über Kopf getroffene Entscheidung der Bestellung war von der Politik, konkret vom damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner, weder durchdacht und angemessen vorbereitet noch ausreichend kommuniziert worden. Man glaubte, das werde ein Selbstläufer. Und das Schlimmste war, dass Dercon es offenkundig auch selbst glaubte.

Damit stand das Ergebnis fest, bevor es überhaupt richtig losging. Dercon konnte nur scheitern, es sei denn, er hätte alles anders gemacht, als es die, die ihn berufen hatten, erwarteten. Er hätte sich also in den Theaterbetrieb stürzen müssen, wie es jeder tut, der als Intendant ein deutsches Stadt- oder Staatstheater übernimmt. Selbstverständlich hätte das bedeutet, dass es zu einem weitgehenden Umbau des Ensembles hätte kommen müssen, was schon genug Empörung ausgelöst hätte. Denn immer noch ist vielen nicht klar, dass der Austausch größerer Teile des künstlerischen Personals beim Intendantenwechsel der Weg ist, ein auf das gewisse Maß an Kontinuität verpflichtetes Ensemble-Theater vor der künstlerischen Erstarrung zu bewahren. Dercon hätte zur Spielzeiteröffnung ein Eröffnungswochenende präsentieren müssen mit zwei oder drei Neuinszenierungen, die seine künstlerische Handschrift hätten erkennen lassen und die der erste Grundstock für sein neues Repertoire hätten sein können und müssen. Aber nichts dergleichen. Man hatte ja auf Seiten der Politik die Vorstellung, das Stadttheater mal wieder neu zu erfinden, und glaubte, da sei jemand wie Dercon, aus Belgien kommend, einem Land mit einem anderen Theatersystem, genau der Richtige. Das ist jetzt nicht das erste Mal schief gegangen.

Nach wie vor gibt es in Teilen der Politik, aber auch in den Kreisen der Kulturschaffenden, solche, die glauben, man müsse das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater einer Art Rosskur unterziehen, dann entstehe etwas völlig Neues und künstlerisch weitaus Interessanteres. Das glaubte wohl auch Tim Renner. Und vielleicht hatten ihn einige in Berlin darin auch bestärkt. Um namhafte Kritiker des hierzulande üblichen (großartigen) Theatersystems zu finden, muss der Berliner ja nicht einmal seine Stadt verlassen. Wer aber Belege für die These sucht, es gelinge bei anderer Organisation des Theaterbetriebs künstlerisch alles oder auch nur einiges besser, wird es nicht leicht haben, vor allem nicht, wenn er sich fragt, was das denn für die soziale Lage der Künstler bedeutet. Über die wird ja gerade jetzt berechtigterweise viel diskutiert.

Indem trotzdem immer wieder Intendanten ernannt werden, die von der sie berufenden Politik künstlerisch mit falschen und unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden, tut man nicht nur dem Theater keinen Gefallen. Man verheizt auch hervorragende Künstlerpersönlichkeiten auf unverantwortliche Weise. Zwar liegen alle Fälle anders. Aber der Rückzug von Matthias Lilienthal bei den Münchener Kammerspielen oder der von Staffan Holm seinerzeit beim Düsseldorfer Schauspielhaus sind zumindest ähnlich gelagert. Und auch die Stadt Trier hatte völlig falsche Vorstellungen von ihrem Theater, als sie den dann scheiternden Karl M. Sibelius zum Intendanten machte.

Schon ist wieder davon die Rede, am Stadttheater seien Experimente zum Scheitern verurteilt. Nichts ist abwegiger als das. Denn um Experimente geht es hier nicht, schon gar nicht um solche künstlerischer Art. Die sind am Stadttheater jederzeit möglich und finden statt. Wer Augen hat zu sehen, wird sie wahrnehmen. Nicht zuletzt für diese Experimentierfreudigkeit wird das deutsche Stadttheatersystem im Ausland bewundert. Sie darf man nicht verwechseln mit Systemfragen, die im Mantel künstlerischen Neuanfangs daherkommen. Vor solchen Fehleinschätzungen sind alle zu warnen, die Politiker genauso wie die, die sich zum Intendanten wählen lassen.

Zurück zu Dercon. Nun ist er abgetreten. Den letzten Kick zu dieser Entscheidung gaben wohl die von einem Rechercheteam bestehend aus Süddeutscher Zeitung und zwei ARD-Anstalten zutage geförderten Erkenntnisse, auch finanzieller Natur. Rechercheteam klingt immer gut. Selbst wenn das sicher den Medien nicht vorzuhalten ist, sie haben ihre der Aufklärung verpflichteten Aufgaben, irgendjemand muss die internen Informationen preisgegeben haben. Und derjenige konnte doch nur zwei Ziele verfolgen: Dass Dercon geht und das die, die ihn berufen haben, schlecht dastehen. Ziel erreicht, lässt sich da nur abschließend feststellen.

Der befristete Arbeitsvertrag und die Kunst

Seit dem Bundestagswahlkampf 2017 ist sie mal wieder in der Diskussion: Die befristete Beschäftigung. Auf der Suche nach geeigneten Themen, den Wähler auf die eigene Partei aufmerksam zu machen, machte die SPD den grundlos befristeten Arbeitsvertrag zum Problemfall des Arbeitslebens und forderte kategorisch dessen Abschaffung. Sehr viel ist in der von CDU, CSU und SPD jetzt ausgehandelten Koalitionsvereinbarung nicht davon übrig geblieben. Und doch ist das, was jetzt geregelt werden soll, wenn die Koalition kommt,
beachtenswert.

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„Wir wollen den Missbrauch bei den Befristungen abschaffen. Deshalb dürfen Arbeit-geber mit mehr als 75 Beschäftigten nur noch maximal 2,5 Prozent der Belegschaft sachgrundlos befristen. Bei Überschreiten dieser Quote gilt jedes weitere sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnis als unbefristet zustande gekommen. Die Quote ist jeweils auf den Zeitpunkt der letzten Einstellung ohne Sachgrund zu beziehen.

Die Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist nur noch für die Dauer von 18 statt bislang von 24 Monaten zulässig, bis zu dieser Gesamtdauer ist auch nur noch eine einmalige statt einer dreimaligen Verlängerung möglich.

Wir wollen nicht länger unendlich lange Ketten von befristeten Arbeitsverhältnissen hinnehmen. Eine Befristung eines Arbeitsverhältnisses ist dann nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein unbefristetes oder ein oder mehrere befristete Arbeitsverhältnisse mit einer Gesamtdauer von fünf oder mehr Jahren bestanden haben. Wir sind uns darüber einig, dass eine Ausnahmeregelung für den Sachgrund nach § 14 Abs. 1 Nr. 4 Teilzeit- und Befristungsgesetz wegen der Eigenart des Arbeitsverhältnisses (Künstler, Fußballer) zu treffen ist.“

So heißt es in der Koalitionsvereinbarung, die nun zwischen der SPD und CDU/CSU für eine mögliche Neuauflage der großen Koalition ausgehandelt wurde. Mit der Abschaffung des grundlos befristeten Arbeitsvertrags hat das nicht mehr viel zu tun, den Sachkennern in den Koalitionsgesprächen sei Dank. Denn diese radikale Veränderung der herrschenden Rechtslage war leider, mit Verlaub gesagt, eine eher abwegige Idee, die offensichtlich dazu diente, im Wahlkampf ein halbwegs griffiges Thema seitens der SPD zu präsentieren. Zudem wollte man ein Zeichen für die Entschlossenheit der SPD setzen, einen Teil der Arbeitsmarktreformen, die seitens der damaligen rot-grünen Koalition zur Jahrtausendwende realisiert worden waren, rückgängig zu machen. Das ist verständlich, jedoch leider ein falscher Ansatz. Aber der Reihe nach!

Der Sinn des grundlos befristeten Arbeitsvertrags

Der grundlos befristete Arbeitsvertrag wurde mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz zum 1. Januar 2001 eingeführt. Er sollte dazu dienen, den Arbeitgebern bei Bedarf die Entscheidung zu erleichtern, jemanden einzustellen, obwohl man zum Zeitpunkt der Einstellung noch nicht weiß, inwieweit man den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin auf Dauer braucht. Das war eine Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die gut und richtig war. Denn in vielen Fällen fehlte es bei einem vorübergehenden Mehrbedarf an Arbeitskräften an einem klar zeitlich abzugrenzenden Befristungsgrund, den man ansonsten für Befristungen von Arbeitsverhältnissen braucht. Das gilt vor allem für die zahlreichen kleineren Unternehmen. Zudem wurden die Arbeitsverhältnisse oft in unbefristete Verträge umgewandelt, sobald sich die eingestellte Arbeitskraft bewährt hatte und klar war, dass man für sie auf Dauer Verwendung hatte. Gerade jungen Menschen ermöglichte diese Regelung einen Einstieg in den Arbeitsmarkt, selbst wenn der erste grundlos befristete Vertrag nach spätestens zwei Jahren beendet wurde. Schließlich konnte man dann bei einer neuen Bewerbung schon einmal auf ein gewisses Maß an beruflicher Erfahrung verweisen.

Das alles abschaffen zu wollen, war also unüberlegt. Für viele, gerade Berufseinsteiger, würde aus der Alternative grundlos befristeter Arbeitsvertrag oder unbefristeter Vertrag die Alternative unbefristeter Arbeitsvertrag oder – eher wahrscheinlich – die Fortsetzung der Arbeitslosigkeit. Denn kein Arbeitgeber entscheidet sich bei einem vorübergehenden Mehrbedarf für einen unbefristeten Vertrag, wenn ein ausreichender Befristungsgrund nicht besteht oder man über die Eignung des Kandidaten unsicher ist, zumal im letzteren Fall die gesetzlich mögliche Probezeit von sechs Monaten sich in vielen Fällen komplizierterer Tätigkeiten als keinesfalls ausreichend erwiesen hat. Da greift jede Firma eher zur Anordnung von Überstunden des vorhandenen Personals. Und genau das sollte durch die gesetzliche Regelung des grundlos befristeten Arbeitsvertrags vermieden werden.

Insofern machen auch die nun in Aussicht genommenen Neuregelungen wenig Sinn. Die prozentuale Begrenzung von grundlos befristeten Arbeitsverträgen bei Unternehmen mit mehr als 75 Mitarbeitern führt einfach nur zu einer geringeren Bereitschaft der entsprechenden Arbeitgeber, Arbeitskräfte einzustellen. Die Verkürzung der möglichen Befristungsdauer von zwei Jahren auf 18 Monate hat zur Folge, dass der grundlos befristet tätige Arbeitnehmer, für den kein dauerhafter Bedarf besteht, schon nach 18 Monaten statt nach zwei Jahren den Betrieb verlassen muss. Glücklich wird er darüber nicht sein und SPD wählen wird er deshalb auch nicht.

Das Problem der Dauerbefristung

So ist wohl auch den Koalitionsverhandlern schnell klar geworden, dass das eigentliche Problem ganz woanders liegt, nämlich beim begründet befristeten Arbeitsvertrag. Das moderne Arbeitsrecht sieht heute für diejenigen, die in einem festen Arbeitsverhältnis stehen, zahlreiche Gestaltungsvarianten ihres Arbeitslebens vor. Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Arbeitsbefreiung, etwa die der Elternzeit oder der Großelternzeit. Das Sabbatjahr wird immer populärer. Die arbeitnehmerseits gewünschten Umwandlungen von Vollzeitverträgen in Teilzeitverträge nehmen zu und werden im Sinne von Work-Life-Balance weiter zunehmen. Im öffentlichen Bereich werden Haushaltsmittel mehr und mehr nur befristet zur Verfügung gestellt, etwa für bestimmte Projekte vor allem in der Kunst. Das alles hat schon heute dazu geführt, dass die Anzahl der begründet befristeten Arbeitsverträge nicht nur rapide zugenommen hat, sondern wegen der Möglichkeit, Kettenarbeitsverträge abzuschließen, haben diese begründet befristeten Verträge auch eine erhebliche, weit über zwei Jahre hinausgehende Ausdehnung erfahren. In großen Unternehmen findet sich eben immer ein Befristungsgrund, die öffentliche Hand ist mit den wiederholten Befristungen der Lehrerbeschäftigung dafür das beste oder besser gesagt das schlechteste Beispiel. Das alles ist das viel größere Problem als der heute schon auf höchstens zwei Jahre begrenzte grundlos befristete Vertrag, weil zunehmend Arbeitskräfte eingestellt werden, die sich durch begründete Dauerbefristungen bis in ein fortgeschrittenes Alter in befristeten Arbeitsverträgen befinden.

Also wurde in den Koalitionsverhandlungen dieses Thema durch die beabsichtigte Begrenzung der begründet befristeten Arbeitsverträge bewusst angegangen. Denn je mehr wir die Möglichkeit einräumen, das Arbeitsleben dauerhaft Angestellter flexibel zu gestalten, desto mehr müssen sich die Arbeitgeber die Frage stellen, ob diese von den Arbeitnehmern genutzten Flexibilisierungen nicht die Notwendigkeit zur Folge haben, ihre Belegschaft generell auszuweiten, statt dauernd befristet Ersatzkräfte einzustellen. Insoweit ist es richtig, den Kettenarbeitsverträgen nach einer gewissen Zeit den Riegel vorzuschieben, um die Arbeitgeber zu einer sachgerechteren Personalplanung zu veranlassen.

Der befristete Arbeitsvertrag von Künstlern

Soweit Künstlerinnen und Künstler, also Schauspieler, Sänger, Tänzer und andere, vor allem im Theater beschäftigt werden, werden sie befristet beschäftigt. Das ist keine grundlose Befristung. Sie folgt vielmehr aus dem in der Koalitionsvereinbarung zitierten § 14 Abs. 1 Nr. 4 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Diese Vorschrift sieht als Befristungsgrund die Art der Tätigkeit vor, stellt also gerade nicht auf den vorübergehenden Bedarf einer Arbeitskraft ab. Vielmehr liegt der Grund für die Befristung – etwa beim Theaterkünstler – in dem Abwechslungsbedürfnis der Zuschauer und in der bei Besetzung von Rollen zu beachtenden Freiheit der Kunst. Das ist ein Grundrecht, das ein Theaterunternehmen für sich selbstverständlich in Anspruch nehmen darf und muss. Es ist durch langjährige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bestätigt, interessanterweise schon vor Inkrafttreten des Teilzeit- und Befristungsgesetzes.

Für den deutschen Ensemble-Betrieb ist die genannte Befristungsmöglichkeit von tragender Bedeutung. Sie führt dazu, dass nach dem für die künstlerischen Mitarbeiter der Theater geltenden Tarifvertrag, dem Normalvertrag Bühne, zum Beispiel ein Schauspieler in der Regel einen Vertrag für eine oder mehrere Spielzeiten bekommt, der sich automatisch um eine Spielzeit verlängert, wenn keine der beiden Seiten des Arbeitsvertrages rechtzeitig eine sogenannte, gerichtlich kaum überprüfbare Nichtverlängerungsmitteilung ausspricht. Dies zu tun, ist arbeitgeberseits jedoch eingeschränkt, also nur – so der Normalvertrag Bühne – bis zum 15. Beschäftigungsjahr, in bestimmten Fällen bis zum 19. Beschäftigungsjahr möglich. Gäbe es diese Befristungsmöglichkeit nicht, könnten alternativ die Arbeitsverträge nur mit der im Ausland üblichen Begründung befristet werden, nämlich mit der zeitlichen Begrenzung des künstlerischen Projekts, für das der Künstler tätig wird. Das würde in Deutschland zu einer weit weniger sozialen Absicherung der künstlerischen Theatermitarbeiter führen, da sie anstelle einer durchgehenden Beschäftigung über mehrere Jahre immer nur projektbezogen beschäftigt würden und zwischen diesen Beschäftigungen arbeitslos wären. Diese periodische Arbeitslosigkeit müsste dann durch die Arbeitslosenversicherung aufgefangen werden, was die Sozialversicherung in Frankreich, wo im Theater nur die projektbezogene Befristung von Arbeitsverträgen stattfindet, rund eine Milliarde Euro kostet, ein Betrag, der etwa der Hälfte der deutschen öffentlichen Theaterförderung entspricht.

Angesichts dessen ist es zu unterstützen, dass die Koalitionsvereinbarung bei der in Aussicht genommenen Einschränkung des Kettenarbeitsvertrags ausdrücklich eine Ausnahme für die wegen der Art ihrer Tätigkeit befristeten Arbeitsverträge von vor allem am Theater beschäftigten Künstlern vorsieht.

Schlussbemerkung

Die Betrachtung zeigt, dass der befristete Arbeitsvertrag ein kompliziertes und unverzichtbares Instrument zur Steuerung des Arbeitsmarkts sowohl im Interesse der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber ist. Niemand sollte ihn leichtfertig aufs Spiel setzen. Und vielleicht ist er deshalb, zumindest bei der im Wahlkampf üblichen undifferenzierter Betrachtungsweise, auch als Wahlkampfthema ungeeignet.

Putin, die Russen und die Kunst, das VI. Cultural Forum in Sankt Petersburg

Zum sechsten Mal fand Mitte November das Cultural Forum in Sankt Petersburg statt, mit vielen russischen Kulturschaffenden und internationalen Gästen aus den unterschiedlichen Sektionen. Theater, Musik, Ballett, Film, Museum und vieles mehr sind Thema dieser groß angelegten Konferenz, die aber international kaum Beachtung findet, auch nicht in Deutschland. Immerhin gab sich auch diesmal der russische Präsident Vladimir Putin selbst die Ehre und sprach bei der öffentlichen Gala ein Grußwort. Hier ein Bericht von einem Besuch mit unterschiedlichen Eindrücken.

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Die Reise beginnt mit Hindernissen. Nicht nur ein verpasster Hinflug, vielmehr ist schon Wochen vorher ein Visum zu besorgen. Dazu waren Krankenversicherungs-bescheinigung und Einkommensnachweis erforderlich. Man kommt ohne Geld also nicht nach Russland. Wieso ich schon ein Visum ab dem Mittwoch wolle, der Kongress beginne erst am Donnerstag, werde ich noch gefragt. Ja, aber man müsse doch noch anreisen, erlaube ich mir festzustellen, schließlich erreiche man Petersberg ja nicht wie den nächsten Supermarkt mit dem Fahrrad. Erkennbar ist mein Gegenüber etwas erstaunt über diese Bemerkung, lächelt mir aber den Satz zu, es gehe schon alles in Ordnung. Das Visum wird dann wie gewünscht ausgestellt, aber nur, nachdem man erst einmal seinen Reisepass für eine Woche vertrauensvoll der Visastelle der Russischen Föderation überlassen hat. Die Ausstellung des Visums für den Vortag der Konferenz erweist sich später als segensreich. Eine Kollegin, die auch zur Konferenz will, muss bei der Einreise nach Russland eine halbe Stunde im Petersburger Flughafen ausharren, bis es 24 Uhr Ortszeit ist. Erst dann darf sie einreisen, weil ihr Visum erst ab dem neuen Tag gilt. So sieht der europäisch-russische Alltag leider heute aus.

Der Auftakt

In Petersburg angekommen werden die Gäste des Forums dennoch mit einer Limousine aus württembergischer Herstellung abgeholt, trotz aller europäischen Wirtschaftssanktionen. Immerhin ist es schon nach Mitternacht, als wir das Hotel erreichen. Und doch werden wir von den freundlich bis resoluten Damen der staatlichen Akademie Capella noch über den Verlauf des nächsten Tages unterrichtet. Wir sind eingeladen in die Sektion Musik des Cultural Forums und die tagt eben in dieser Akademie. Morgen früh gehe es los mit einem Termin bei Maestro Chernushenko, der sich am folgenden Tag als eine Art Urgestein der Akademie herausstellt. Chernushenko ist 81 Jahre alt, seit 1974 künstlerischer Direktor und Chefdirigent der Konzerthalle der Akademie; er ist dort bereits ausgebildet worden. Freundlich erzählt er von den Aktivitäten seines Instituts, dem berühmten hier ausgebildeten Chor, seinem Orchester, der Ausbildungsarbeit insgesamt. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Papiere und Noten, in seinem Büro gibt es weder einen Computer noch ein Telefon. Er ist ein Stück Musikgeschichte Russlands und als solches macht er halt nicht jeden modernistischen Kram mit. Ans Aufhören scheint er nicht zu denken. Beim Hinausgehen sagt noch eine russische Gesprächsteilnehmerin, in Russland sei es durchaus üblich, dass solche Positionen so etwas wie „vererbt“ würden, an Familienmitglieder natürlich. So hat auch das neue Russland durchaus etwas Feudalistisches.

Die Podien: Orchester, Musik, Revolution

Dann folgen Podien, die das Konferenzgeschehen bestimmen. Sie sind wie so oft in solchen Zusammenkünften zunächst die Aneinanderreihung von Keynotes. Wer sich erhoffte, es werde dann auch Diskussionen im Plenum geben, sieht sich getäuscht, jedenfalls in der Sektion Musik. Als mein Kollege vom britischen Orchesterverband ABO und ich einige eher zukunftsweisende Überlegungen zur Situation der Orchester vortragen, ernten wir erstaunte Blicke. Doch selbst die These, um ein erfolgreicher Orchestermusiker zu sein, müsse man mehr können, als sein Instrument hervorragend zu spielen, man brauche soziale und kommunikative Kompetenzen, Kenntnisse über Selbstvermarktungsstrategien, die von den Konservatorien zu vermitteln seien, regt sich kein Widerspruch, obwohl solche Thesen im eher konservativen Musikmilieu Russlands absolutes Neuland sind. Ebenso wenig beim Vorschlag, man müsse im Konzert zu neuen Präsentationsformen kommen. Lebhaft wird es erst – zumindest auf dem Podium – , als der russischen Komponistin Nastasya Khrushcheva in der Diskussion über die Revolution und die Musik ein wenig der Kragen platzt und sie dem gesammelten Podium die steile These entgegenschleudert, in der neuen Musik herrsche immer Revolution. Nachher im Konzert der von Revolutionsgedanken geprägten Musik sitzt sie dann bei einer Eigenkomposition selbst am Flügel und man versteht ihren Anspruch der Autonomie der Kunst. Bemerkenswert bei diesem Konzert die Leistung des russischen Northern Symphonie Orchestra unter Leitung des Italieners Fabio Mastrangelo, das sich hervorragend auf die sehr unterschiedliche Musik – Beethoven, Schostakowitsch, Mossolow – einstellt. Vor allem ist hier ein ernsthaftes künstlerisches Engagement für die gespielte Musik zu hören. Das Orchester kann sich jedenfalls mit dem am folgenden Abend unter der Leitung ihres Chefdirigenten Valery Gergijew auftretenden Mariinsky Orchester mehr als messen.

Putin, die Künstler und Serebrenikow

Am besagten folgenden Abend kommt auch Vladimir Putin, allerdings irgendwie zu spät. Geduldig warten die Besucher des Gala-Abends, Ankündigungen für den Grund eines um eine Stunde verzögerten Anfangs der Veranstaltung, den das Publikum gelassen hinnimmt, finden nicht statt. Auch hinsichtlich des Ausbleibens des Starpianisten Daniil Tifonow kein Wort der Erklärung. Der russische Präsident betritt schließlich unter dem Jubel seiner russischen Anhänger, die er in der Kulturbranche hat – viele Künstler, die während der Konferenz auftreten, haben einen offenen an ihn gerichteten Brief, in dem der Annexion der Krim zugestimmt wird, unterschrieben – den Saal. Er hält seine Ansprache, in der es vor allem um die verbindende Kraft des künstlerischen Schaffens geht. Kultur, Kunst und Erziehung seien, so sagt er, eine Antwort auf die Herausforderungen der Barbarei, der Intoleranz und des aggressiven Radikalismus, die die Zivilisation bedrohen. Man mag über Putin denken, wie man will, diese Rede ist inhaltlich so, wie Kulturleute es sich wünschen. Als dann zu Beginn der Veranstaltung noch ein Video gezeigt wird, das auflistet, welche Steigerung von Kulturausgaben die Russische Föderation auf den Weg gebracht hat, wird einem von den vielen kulturellen Höhenflügen angesichts bekannter Realitäten ein wenig schwindelig; denn in keiner der Veranstaltungen, zumindest der in der Sektion Musik, wird der Fall Kirill Serebrennikow auch nur erwähnt. Dieser Fall spricht eine andere Sprache, jedenfalls nicht die der Ansprache Putins. Der russische Regisseur steht bekanntlich seit einigen Monaten in Russland unter Hausarrest. Ihm wird vorgeworfen, dass öffentliche Gelder, die seinem Theater zur Verfügung standen, nicht ordnungsgemäß verwendet wurden. Geklärt ist offenkundig nichts, und Eile, die Klärung herbeizuführen, scheint auch niemand zu haben. Fragt man hinter den Kulissen nach, ob denn die Vorwürfe überhaupt stimmten, erhält man in der Regel ausweichende Antworten. Die Angelegenheit sei schwer zu beurteilen, man wisse nicht, was von der Sache zu halten sei, heißt es meist. Es sei im Übrigen nicht nur gegen den namhaften Regisseur, der durch den Hausarrest gehindert wurde, an der Staatsoper Stuttgart Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zu inszenieren, vorgegangen worden, sondern auch gegen den zuständigen Beamten im Kulturministerium, wird von russischer Seite berichtet. Auf meine Frage, ob die Angelegenheit denn öffentlich diskutiert werde, wird geantwortet, ja sehr wohl und zwar ziemlich kontrovers. In der Tat werde ich dann in einem Zeitungsinterview auf den Fall Serebrennikow angesprochen. Die Journalistin hat die öffentliche Erklärung der deutschen Opernkonferenz, in der die Aufhebung des Hausarrestes verlangt wird, wahrgenommen. Als auch ich einfordere, man möge doch die Dinge jetzt bitte zügigst aufklären, damit der Regisseur so bald wie möglich wieder seiner Arbeit nachgehen könne, ist den ungläubigen Blicken zu entnehmen, dass damit wohl leider so schnell nicht zu rechnen ist.

Das Jubiläum der Oktoberrevolution

Das VI. Cultural Forum findet in Russlands früherer Hauptstadt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution statt. Gefeiert wird die Revolution jedoch nicht. Es wird mehr ihrer gedacht. In drei großen Räumen der Eremitage, deren wesentlicher Teil ja der in der Revolution gestürmte Winterpalast der früheren Zaren ist, ist dem Jahrhundertereignis eine Ausstellung gewidmet. Wer sie sich genau ansieht, hat den Eindruck, es gehe dort mindestens ebenso sehr um die Zarenfamilie Romanow, deren Leben und Repräsentations-Pflichten in Videos ausgiebig gezeigt werden, was immer das zu bedeuten hat. Erst etwas versteckt findet man in der Eremitage einen anderen Raum, in dem ein Video über hungernde, frierende Menschen, die damals, vor der Revolution in den Straßen Petersburgs lagen, gezeigt wird. Auch Putin erwähnt das Jubiläum in seiner Ansprache mit keinem Wort. Wohl aber die kulturellen Errungenschaften von Petersburg, zu denen natürlich auch, er erwähnt das ausdrücklich, die hier arbeitenden Schriftsteller gehören. So macht man sich am Ende des Aufenthalts in Sankt Petersburg in die Wohnungen von Dostojewski und Puschkin auf. Den Häusern ist gleich anzumerken, wie sehr die Russen das Schaffen ihrer großen Literaten verehren. Fast andächtig bewegen sich die Besucher durch die zum Museum ausgebauten Räume. Es ist genau das, was jeden Besucher Russlands immer aufs Neue an diesem Land fasziniert: Seine Liebe zur Kunst, zur Musik und zur Literatur. Wir sollten das in unserem Verhältnis zu Russland nicht unterschätzen. Aber wir sollten auch auf die Erkenntnis drängen, dass diese Liebe ohne die Freiheit nichts wert ist. Das und nichts anderes lehrt uns der Fall Serebrennikow.

Wieso Kunst?

Wer in der Kulturpolitik die Debatte darüber verfolgt, was von der Kunst erwartet wird, muss zunehmend den Eindruck gewinnen, es gehe um alles Mögliche, aber nicht um die Kunst. Kulturelle Bildung, interkultureller Dialog, demografische Entwicklung, Partizipation, soziale Projekte sind immer häufiger zu hörende Stichworte. Auch wird lieber über Kultur als über Kunst gesprochen. Und der erweiterte Kulturbegriff ist in aller Munde. Ist das aber im Sinne des künstlerischen Schaffens, bleibt die Frage.

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Die documenta 14: Wer sich an zwei Tagen durch die meisten ihrer Spielstätten bewegt hat, wird sich fragen, geht es hier eigentlich um die Kunst? Oder geht es um Politik? Um Positionen, um Haltungen, um Dokumentation? Jedenfalls bleibt zuweilen, des Eindrucks kann man sich nicht erwehren, die Kunst ein wenig auf der Strecke. Und damit bewegt sich die documenta 14 im Mainstream des heutigen, immer weiter sich verbreitenden Kulturverständnisses. Die Kunst hat etwas zu dienen, und vor allem wenn sie etwas dient, ist sie der öffentlichen Förderung wert.

Bildung, soziale Projekte und Bürgerbühne

Schon seit Jahren gibt es nach meiner Beobachtung kaum noch eine Rede eines Politikers über die öffentliche Förderung von Kunst und Kultur, ohne dass über kulturelle Bildung gesprochen wird. In vielen europäischen Ländern, teilweise auch hierzulande, wird die öffentliche Förderung davon abhängig gemacht, dass entsprechende Aktivitäten angeboten werden. Politikeraugen leuchten, wenn ihr städtisches Theater mit pädagogischen Konzepten glänzt. Mit „Kultur macht stark“ einem seit Jahren laufenden Großvorhaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung setzt man auf Projekte zugunsten von Kindern und Jugendlichen, die einen eingeschränkten Zugang zur Bildung haben, so der ministerial erklärte Wille. Diese Projekte werden ausschließlich durch Kultureinrichtungen und deren Verbände realisiert.

Oder der Tanz! Seit dem Erfolg von „Rhythm Is It“ hat die Politik ihn als pädagogisches Mittel entdeckt. Will man einem Oberbürgermeister oder einer Ratsfraktion den öffentlichen Unterhalt einer Tanzkompanie schmackhaft machen, dann geht es durch nichts leichter als durch den Hinweis auf ihre tanzpädagogischen Aktivitäten. Zugleich schießen öffentliche verfügbare finanzielle Mittel für entsprechende Projekte wie Pilze aus dem Boden.

Ähnlich verhält es sich in der Frage des Umgangs mit den aus anderen Teilen der Welt fliehenden Menschen. Kaum hatten sie in größerer Zahl als erwartet Europa erreicht, tauchte die Frage auf, was denn Theater und Orchester, Museen sowie andere öffentlich getragene Kultureinrichtungen nun zur Willkommenskultur beitragen können. Es wurden Konzerte veranstaltet, Theaterprojekte aufgelegt, an denen Flüchtlinge beteiligt wurden, Kulturprojekte im sozialen Raum initiiert. Manch einer wollte mit solchen Aktivitäten sogar für sich Werbung machen, vor allem um deutlich werden zu lassen, wie unverzichtbar diese oder jene Kultureinrichtung sei. Das Thema Nachhaltigkeit blieb dabei gerne einmal auf der Strecke. Und einige Theater hatte einiges zu tun, um überhaupt Flüchtlinge im Rahmen eines Projektes beschäftigen zu dürfen. Die bürokratischen Hindernisse, die es mancherorts zu bewältigen gab, waren erheblich.

Von solchen Projekten bis zur Bürgerbühne ist der Weg nicht weit. Auch das ist eine Erscheinung unserer Zeit. Partizipation ist mehr gefragt denn je, bis hin zum Dokumentationstheater, in dem Zeitzeugen von ihrem Alltag, von ihren eigenen Erlebnissen berichten. Mittlerweile gibt es sogar ein Bürgerbühnenfestival, was zumindest einmal insofern zu hinterfragen wäre, als Bürgerbühne doch vor allem da Sinn macht, wo es zwischen denen, die zusehen und zuhören, und denen, die auf der Bühne – oder vielleicht sogar mit den Zuschauenden – agieren, eine durch die Verbundenheit des Ortes sich ergebende Beziehung gibt. Denn dann waren schon immer deine Geschichten auch meine Geschichten.

Es geht doch um die Förderung der Künste

Die Liste der Erwartungen an die Kunst ließe sich fortsetzen. Um nicht missverstanden zu werden: Das alles hat seine Berechtigung. Das alles darf und muss sein. Das alles hat aber zuweilen wenig mit Kunst zu tun. Und so bleibt die Frage, wieweit wir es mit der Instrumentalisierung von Kulturinstitutionen denn treiben wollen. Ein Theater bekommt nun einmal seine öffentlichen Mittel, um Theater zu spielen. Ein Orchester soll Konzerte veranstalten, ein Museum Ausstellungen zeigen. Natürlich darf das alles nicht im Elfenbeinturm stattfinden. Natürlich müssen wir versuchen, möglichst viele Menschen, gerade auch solche mit Migrationshintergrund, alte und junge, reiche und arme zu erreichen. Und natürlich müssen versuchen, mit neuen Vermittlungsaktivitäten auf diese zuzugehen. Man muss sich nur einmal im Netz das Video vom flash mob des philharmonischen Orchesters aus Kopenhagen ansehen. Es zeigt, wie die Musiker, verteilt durch einen U-Bahn-Wagon Griegs Peer Gynt spielen. Das aber ist nicht nur ein flash mob, die Musiker spielen eben Peer Gynt und die U-Bahn fahrenden, aufmerksam zuhörenden Menschen sind fasziniert.

Das heißt doch, dass wir auch in Zukunft an die Kunst, an die Musik, an die Oper, an den Tanz, die Literatur, an den erzählenden, dramatischen Text gespielt durch Schauspieler glauben können und vielleicht auch wieder mehr glauben sollten. Denn die Künste sprechen für sich, ermöglichen die Reflexion, lösen Gefühle und Gedanken aus, lassen den Menschen nicht alleine und erlauben ihm ein Innehalten, ein Nachdenken in Zeiten, in denen genau das notwendiger ist denn je.

Über die Intendantenwahl

Kaum eine Entscheidung ist für ein Stadt- oder Staatstheater sowie eine Landesbühne, aber auch für manches Festival so bedeutsam wie die Neuwahl eines Intendanten. An ihm hängt die künstlerische Ausrichtung des Betriebes. Ihm übergibt man die Verantwortung für oft hunderte Mitarbeiter und einen weit in den zweistelligen Bereich hineinreichenden Millionenbetrag. Die Entscheidung wird begleitet von einer hohen öffentlichen Aufmerksamkeit, zuweilen auch von einiger Kritik, wie zuletzt bei der Volksbühne in Berlin. Verbunden ist das alles für den Träger eines Theaterbetriebs, also die Stadt oder das Land, mit einem nicht unerheblichen Risiko. Und für das neue Leitungsteam eines Hauses ist der Wechsel eine große Herausforderung. Oft bin ich als langjähriger Direktor des Deutschen Bühnenvereins gefragt worden, wie man eigentlich Intendant wird. Der Text geht nach der Teilnahme an zahlreichen Intendantenfindungen der Frage nach, was bei der Intendantenwahl zu beachten ist und was sie genau für ein Theater bedeutet.

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1. Der Anlass für den Intendantenwechsel

Gesucht wird ein Intendant. Der bisherige Theaterleiter hat mitgeteilt, dass er nach vielen Jahren aufhören will, dass er an ein anderes Theater geht. Oder die Stadt, das Land, der Aufsichtsrat möchte den Wechsel. Letzteres wirft oft die Frage auf, warum dieser eigentlich stattfindet, der oder die Bisherige sei doch ganz erfolgreich. Erst recht, wenn dieser so eine Art Kultstatus in der Stadt erreicht hat, wie etwa der Tanztheaterdirektor William Forsythe seinerzeit in Frankfurt/Main oder Frank Castorf in Berlin. Auch in diesen Fällen ist der Wechsel kein Anschlag auf die Kultur, zu dem er dann gerne stilisiert wird. Bei Forsythe lag damals der Skandal nicht im Wechsel, sondern in der Schließung des Frankfurter Tanztheaters. Und auch bei Castorf ist der Wechsel ein für den deutschen Ensemble- und Repertoire-Betrieb üblicher, ja vielleicht bei aller wirklich großen Wertschätzung für seine wunderbare künstlerische Arbeit auch notwendiger Schritt.

In den meisten Ländern der Welt wird Theater anders produziert als in Deutschland. Die darstellenden Künstler, also vor allem Sänger, Tänzer und Schauspieler werden etwa in Frankreich oder England, Italien oder Spanien in der Regel nur für eine einzelne Produktion engagiert. Die Vorstellungen werden oft en suite oder im sogenannten Stagione-Betrieb gespielt, also für zwei bis allenfalls fünf Wochen täglich oder in kurzen Abständen hintereinander. Ist die Produktion abgespielt und wird sie nicht von einem anderen Haus übernommen, enden die Verträge der beteiligten Künstler. Das Theater beginnt mit einer neuen Produktion, oft mit anderen Künstlern, oder hat eine solche Produktion parallel zu der laufenden Produktion schon erarbeitet, sodass unmittelbar nach dem Abspielen der alten Produktion die neue beginnen kann.

Ganz anders läuft es im Ensemble- und Repertoire-Betrieb. Hier unterhält der Intendant einen festen Stamm von Darstellern, die mit längstens auf die Dauer seiner Intendanz befristeten Arbeitsverträgen beschäftigt werden. Ein in gleicher Weise durch den Intendanten engagiertes künstlerisches Team von Dramaturgen, künstlerischen Direktoren, Disponenten und anderen hinter der Bühne agierenden Personen steht ihm zur Seite. Der Intendant bestimmt den Spielplan und entscheidet über die Besetzung, vor allem auch über die Regieteams. Zahlreiche Produktionen unterschiedlicher Art laufen nebeneinander, es wird ständig neu produziert. Und doch: Das Gesamtprogramm trägt die Handschrift der künstlerischen Leitung und verfügt damit über ein hohes Maß an Kontinuität. Daraus erwächst über die Zeit auch eine Art Abwechslungsbedürfnis. Das macht dann die Erneuerung des gesamten künstlerischen Profils und damit den Intendantenwechsel und den mit diesem einhergehenden Wechsel der künstlerischen Mitarbeiter erforderlich.

Insofern ist es eher merkwürdig, wenn im Rahmen des Intendantenwechsels die Frage aufgeworfen wird, warum so viele Künstler das Haus verlassen müssen. Das ist zuweilen zwar für den einen oder anderen künstlerisch Beschäftigten bitter, aber auch unvermeidbar und im Übrigen sozial viel ausgewogener als der viel häufigere und bei weitem einschneidendere Personalwechsel im oben dargestellte En-Suite- oder Stagione-System. Dort verliert man aus Gründen der Abwechslung nach jeder Produktion erst einmal seine Anstellung. Anders im Ensemble- und Repertoire-Betrieb, wo das künstlerische Personal meist erst nach vielen Jahren das Theater verlassen muss und zumindest beim Intendantenwechsel in den meisten Fällen eine tariflich vorgesehene Abfindung bekommt. Natürlich sollte der neue Intendant sorgfältig prüfen, wen er übernehmen kann. Er muss aber auch bedenken, dass er den Arbeitsvertrag mit einem angestellten Künstler in der Regel nach 15-jähriger Beschäftigung nicht mehr beenden kann und zwischenzeitlich nur die Möglichkeit besteht, sich aus künstlerischen Gründen von dem einzelnen Künstler zu trennen. Insofern ist es weitgehend unangebracht, wenn Träger von Theatern sich bemüßigt fühlen, etwa seitens eines Oberbürgermeisters, die Erwartung zu äußern, dass es einen möglichst geringen Wechsel beim künstlerischen Personal anlässlich eines Intendantenwechsels gibt. Und noch merkwürdiger ist es, wenn sich Claus Peymann, wie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 1. Juli 2017, darüber beklagt, dass sein Nachfolger weitestgehend mit neuen Schauspielern startet. Als erfahrener Intendant sollte er wissen, dass das nach so langer Zeit einer Intendanz eher üblich ist.

Statt zu jammern über den Personalwechsel gilt vielmehr: Der Intendantenwechsel muss öffentlich vorbereitet werden. Die Stadt oder das Land, also der jeweilige Träger, muss die Theaterinteressierten in der Stadt, auch die Theaterbelegschaft, auf den Intendantenwechsel und die damit verbundenen Veränderungen vorbereiten. Dazu bedarf es einer wenigstens im Ansatz überlegten Kommunikationsstrategie, die es einerseits vermeidet, dass jeder, der glaubt etwas zu sagen zu haben, bei der Neuwahl eines Intendanten mitreden will, andererseits aber einen gewissen demokratischen Diskurs über die zukünftige künstlerische Ausrichtung des Theaters ermöglicht. Wenn man bei der Berufung von Chris Dercon zum Intendanten der Volksbühne etwas falsch gemacht hat in Berlin, dann war es vor allem das Fehlen dieser Kommunikationsstrategie, einen Fehler, den man dort im Übrigen gleich zweimal machte, indem man ihn beim Staatsballett wiederholte.

2. Ausschreibung und Findungskommission

Zwei Fragen stehen bei der Intendantenwahl fast immer am Anfang. Erstens: Sollen wir öffentlich ausschreiben? Zweitens: Brauchen wir eine Findungskommission? Beide Fragen sind nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten und sie stehen miteinander in einem gewissen Zusammenhang.

In früheren Jahren war es üblich, eher nicht auszuschreiben. Man telefonierte mit denen, die sich in der Szene auskennen, und denen, von denen man meinte, dass sie sich auskennen. Das war einerseits (meistens) diskret, hatte aber andererseits den Nachteil, dass ein Diskurs über den richtigen Intendanten und über die Erwartungen, die an ihn zu stellen sind, gar nicht erst zustande kam. Noch heute wird bei vielen Intendantenstellen für große Theater so verfahren. Nicht immer werden dabei gute Ergebnisse erzielt, Beispiele ließen sich nennen. Also ist eine Findungskommission unabhängig von Größe und Bedeutung des Theaters eher sinnvoll. Dies gilt umso mehr, wenn es notwendig ist, in der Stadt oder im Land einige dem maßgebenden parlamentarischen Gremium (Stadtrat, Kulturausschuss etc.) angehörende politisch ambitionierte Personen einzubinden. Dabei ist auf eine möglichst professionelle und im Bereich Personalfindung erfahrene, in der Theaterszene verhaftete Beratung der Findungskommission zu achten. Von Headhuntern oder Agenturen welcher Art auch immer ist dringend abzuraten. Zudem bedarf es zumindest einer künstlerisch profilierten Persönlichkeit, die aber die Gewähr bieten sollte, objektiv im Interesse des Theaters und ihres Trägers nach dem oder der gewünschten Theaterleiter/in zu suchen. Für solche Kommissions-Besetzungsfragen ist der Deutsche Bühnenverein immer ein guter Ansprechpartner. Außerdem empfiehlt sich die Beteiligung des Verwaltungsdirektors bzw. des kaufmännischen Geschäftsführers, mit dem der Intendant eng zusammenarbeiten muss, an der Findungskommission.

Öffentlich ausschreiben sollte man die Stelle vor allem dann, wenn für die Besetzung eher auch solche Personen in Betracht kommen, die bisher noch kein Theater geleitet haben. Das ist jedenfalls bei kleineren und mittleren Theatern der Fall. Für die Ausschreibung empfehlen sich Fachblätter wie die vom Deutschen Bühnenverein herausgegebene älteste deutsche Theaterzeitschrift „Die deutsche Bühne“ und die einschlägigen Internetportale wie „bühnenjobs.de“.

Solche Verfahren führen fast immer zu guten Ergebnissen, machen das Zustandekommen der Entscheidung transparenter, geben allen Interessierten eine faire Chance und vermeiden den Eindruck eines überholten, eher undemokratischen Berufungsverfahrens. Genau das ist wichtig. Schließlich handelt es sich bei der Position eines Intendanten in der Regel um ein öffentliches Amt.

3. Das Auswahlverfahren

Bevor sich der Träger oder eine von ihm einberufene Findungskommission mit den Bewerberinnen und Bewerbern befasst, sollte vertraulich erörtert werden, welchen Intendanten der Träger sucht. Das ist vor allem dann wichtig, wenn es in der Stadt, vor allem bei den maßgebenden politischen Kräften unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt. Die Debatte ist umso erforderlicher, je radikaler der Wechsel der künstlerischen Ausrichtung des Theaters ausfallen soll. Vorgaben wie regieführend oder nicht regieführend sollten nicht gemacht werden. Man schließt mit solchen Vorgaben unter Umständen gute Kandidaten aus, was nicht empfehlenswert ist.

Ob mit oder ohne Ausschreibung, in der Regel wird mit mehreren Bewerberinnen und Bewerbern in Kontakt getreten und in Bewerbungsgesprächen ermittelt, wer für die Position in Betracht kommt. Bei der Einladungsliste ist es sinnvoll darauf zu achten, dass die Personen sich im Profil unterscheiden, um in den Bewerbungsgesprächen die Möglichkeiten zu haben, das Bewusstsein für das, was man seitens des Trägers will, noch einmal zu schärfen. Denn das jeweilige Bewerbungsgespräch ist im besten Fall immer auch ein Dialog über das Theater, der der Meinungsbildung aller Beteiligten dient. Deshalb verbietet sich auch jede feste Strukturierung des Bewerbgeresprächs etwa mit vorgegebenen Fragen, die abgearbeitet werden. Man sucht ja einen Intendanten, und deshalb muss das Bewerbergespräch offen gestaltet und ein Diskurs auf Augenhöhe sein. Vor allem deshalb müssen die Sitzungen der Findungskommission absolut vertraulich sein und bleiben.

Ein großes Hindernis bei der Intendantensuche ist es, wenn der Träger sie mit Vorgaben belastet, etwa hinsichtlich des Etats. Es ist einem Intendanten praktisch nicht zuzumuten, sein Amt mit der Zielsetzung anzutreten, Kürzungen bei der öffentlichen Zuwendung durchzusetzen. Das gilt erst recht, wenn das Theater ohnehin eher mit knappen öffentlichen Mitteln ausgestattet ist. Für den neuen Intendanten bedeutet die erwartete Einsparung jedenfalls, dass er bei der Rekrutierung seiner neuen künstlerischen Mannschaft Personalentscheidungen vor allem auch unter wirtschaftlichen Aspekten treffen muss. Der Qualität, die man sich doch von einem neuen Theaterleiter wünscht, dient das nicht.

Vieles ließe sich nun noch an praktischen Details für die Durchführung der einzelnen Sitzungen der Findungskommission sagen, etwa zur Länge, zum Ablauf und zur Struktur der Vorstellungsgespräche, zur Möglichkeit, die Theater zu besuchen, an denen die Kandidaten arbeiten, zum Ob und Wie vertiefender Gespräche mit den konkret in Aussicht genommenen Kandidatinnen und Kandidaten. Das aber sind oft Fragen des Einzelfalls, die den konkreten Findungsverfahren vorbehalten bleiben müssen.

4. Die Entscheidung

Wichtig ist es, die Entscheidung auf der Grundlage eines offenen Dialogs zu treffen. Angesichts der in Betracht kommenden Kandidaten und Kandidatinnen kann auch die Frage regieführend oder nicht noch einmal aufgegriffen werden. Es sollte möglichst nicht nur auf der Grundlage der Bewerbergespräche entschieden werden. Mancher kann sich gut verkaufen, ist aber nicht deshalb gleich ein guter Intendant und umgekehrt.

Oft entscheidet nicht die Findungskommission, wer Intendant wird. Vielmehr macht sie dem abschließend entscheidenden Gremium, etwa dem Stadtrat, dem Kulturausschuss oder dem Aufsichtsrat einen Vorschlag. Fast immer geht es dann um die Frage, ob nur ein Kandidat vorgeschlagen werden soll oder mehrere. Dazu lässt sich, wenn mehrere Vorschläge unterbreitet werden sollen, eindeutig Folgendes festhalten: Grundsätzlich dürfen nur Kandidatinnen und Kandidaten vorgeschlagen werden, die auch tatsächlich in Betracht kommen. Darauf zu setzen, dass bei drei Vorschlägen das entscheidende Gremium die weniger Geeigneten nicht wählt, ist hochgradig riskant. Außerdem ist von einem Ranking Abstand zu nehmen, die Vorschläge müssen gleichwertig nebeneinander stehen. Denn kein Kandidat und keine Kandidatin akzeptiert, dass er oder sie von der Findungskommission als zweite Wahl ins Rennen geschickt wird. Und noch schlimmer ist es, wenn das entscheidende Gremium plötzlich den auf Nummer zwei gesetzten Kandidaten wählt. Dann ist er von Vorneherein zweite Wahl.

5. Die Wahl aus Sicht der Bewerber

Viele Bewerber haben mich all die Jahre gefragt, wie sie sich bewerben sollen. Auch das ist allgemein nicht einfach zu beantworten. Jedenfalls sollte man an dem Theater, für das man sich als Intendant bewirbt, und für die jeweilige Stadt ein wirkliches Interesse haben. Man sollte sich von beiden vor der Bewerbung, spätestens vor dem ersten Bewerbungsgespräch einen Eindruck verschaffen. Nur der Wunsch, Intendant zu werden, reicht sicher nicht. Darüberhinaus braucht ein Intendant auch ein Interesse an organisatorischen, personellen und finanziellen Fragen, die das Theater betreffen. Man ist als Intendant mehr als ein Regisseur oder Dramaturg. Außerdem sollte sich niemand mit seinem künstlerischen Profil zu verstellen suchen. Wenn man als Kandidat den Erwartungen des Trägers nicht entspricht, dann ist es besser, wenn man nicht gewählt wird. Deshalb macht es auch Sinn, seine grundsätzlichen künstlerischen Vorstellungen in einem kurzen Konzept darzulegen, auch wenn das nicht ausdrücklich erbeten wird.

Wer nur in einer Sparte Erfahrungen hat und sich für ein Mehrspartentheater bewirbt, sollte sich überlegen, wie er es hinsichtlich der ihm eher fremden Sparten handhaben möchte. Also etwa Operndirektor bestellen ja oder nein, wenn man bisher vorwiegend im Schauspiel gearbeitet hat. Ausformulierte Spielpläne machen meist wenig Sinn, müssen vor allem auf ihre wirtschaftliche Realisierbarkeit hin geprüft werden. Deshalb sollte der Kandidat oder die Kandidatin die wesentlichen wirtschaftlichen Rahmendaten des Theaters, für das er oder sie sich bewirbt, kennen. Sie werden jährlich in der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins veröffentlicht. Aber man darf auch vor Ort danach fragen, etwa den Haushaltsplan oder die Jahresabrechnung zur Verfügung gestellt zu bekommen. Und niemand sollte eine Findungskommission mit Materialen über die bisherige Arbeit überfordern, weniger, aber wohl ausgesucht, ist oft mehr.

6. Schluss

Das alles sind nur einige Leitgedanken für eine Intendantenwahl, die keine Vollständigkeit beanspruchen. Sie sollen dazu dienen, dass jede Stadt und jedes Land seinen richtigen Intendanten findet und jeder am Intendantenamt Interessierte das richtige Theater. Denn wie eingangs gesagt, es ist für alle eine wichtige Entscheidung. Und nichts ist dabei schlimmer als Misserfolg, für beide Seiten.

Vergabe von künstlerischen Leistungen durch die öffentlich getragenen Theater und Orchester und das neue Vergaberecht – eine Expertise

Künstlerische Leitungen werden, etwa in der Form eines Engagements eines Schauspielers, Sängers, Tänzers, Dirigenten oder Musikers, direkt vergeben, auch wenn diese selbstständig tätig sind. Es findet also keine Ausschreibung statt, Vergleichsangebote werden nicht eingeholt. Man engagiert also den Künstler, den man engagieren möchte. Das gebietet die Freiheit der Kunst. Nun wird das Vergaberecht völlig neu geregelt. Vor allem die neue sogenannte Unterschwellenvergabeordnung, die zwischen Bund und Ländern schon ausgehandelt ist, aber noch nicht in Kraft gesetzt wurde, sieht nun vor, dass das Vergaberecht grundsätzlich auch für freiberufliche Leistungen gilt, wozu auch die künstlerischen Leistungen gehören. Zwar lässt die entsprechende Regelung eine gewisse Öffnung im Sinne der Kunst zu, erschwert diese jedoch erheblich, wenn nicht beim Inkraftsetzen der Unterschwellenvergabeverordnung gleich entsprechende Ausnahmen gemacht werden. Da sind Bund und Länder gefordert. Der Beitrag beschreibt die Ausgangslage und untersucht die Situation angesichts des neuen Vergaberechts.

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I. Die bisherige Rechtslage

Die bisher geltende deutsche VOL/A-EG galt für die Vergabe von künstlerischen Leistungen in der Regel nicht, weil die für Ihre Anwendung geltenden EU-Schwellenwerte bei diesen Leistungen (etwa bei der Vergabe einer Regie oder dem Engagement eines darstellenden Künstlers), die für die öffentlich getragenen Theater und Orchester erbracht werden sollten, weder erreicht noch überschritten wurden. Zugleich fand die neben der VOL/A-EG existierende VOL/A auf künstlerische Leistungen keine Anwendung, weil sie für freiberufliche Tätigkeiten nicht galt (§ 2 Abs. 1, 2. Spiegelstrich VOL/A). Eindeutig ergab sich aus einer Fußnote zu dieser Vorschrift, dass künstlerische Leistungen zu diesen freiberuflichen Tätigkeiten gehören. Außerdem sah § 3 Abs. 5 VOL/A noch die freihändige Vergabe vor, die hier auch angesichts der in der genannten Vorschrift enthaltenen Buchstaben h) (mangelnde eindeutige Beschreibbarkeit der Leistung) und j) (nur ein Unternehmer kommt für die Leistung in Betracht) durchaus möglich gewesen wäre. Die für freiberufliche Leistungen geltende VOF musste wegen des Nichterreichens oder -überschreitens der Schwellenwerte ebenfalls nicht zur Anwendung gebracht werden. In der Konsequenz war die Vergabe künstlerischer Leistungen durch die öffentlich getragenen Theater und Orchester freihändig, also ohne wettbewerbliches Vergabeverfahren möglich. Die Rechtslage entsprach der vor 2009 geltenden VOL/A, die in § 3 Abs. 4 Buchst. i ausdrücklich die freihändige Vergabe für schöpferische Leistungen vorsah.

An dieser Rechtslage änderte auch nichts die neue 2014 verabschiedete neue Vergaberichtlinie der EU (2004/18/EG) und das darauf aufbauende 2016 in Deutschland verabschiedete Vergaberechtmodernisierungsgesetz sowie die dazu erlassene Verordnung. Denn beide Regelwerke galten nur bei Überschreiten des in der EU-Richtlinie vorgesehenen Schwellenwertes (§ 106 Abs. 2 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen – GWB sowie § 1 Abs. 1 Vergabemodernisierungsverordnung); Zahlungen in dieser Größenordnung fallen jedoch bei der Vergabe von künstlerischen Leistungen an Selbstständige nach wie vor nicht an.

II. Die neue Unterschwellenvergabeordnung

Die nun verabschiedete, oben genannte Unterschwellenvergabeordnung ändert diese Rechtslage erheblich. Sie gilt für Leistungen unterhalb des sich aus der EU-Richtlinie ergebenden Schwellenwertes. Aus § 50 UVgO ergibt sich zudem, dass freiberufliche, also auch künstlerische Leistungen, unter die Unterschwellenvergabeordnung fallen und diese Verordnung auf solche Leistungen „grundsätzlich“ anzuwenden ist. Eine Direktauftrag sieht § 14 UVgO nur bei Vergabewerten von bis zu 1.000 Euro vor. Viele künstlerische Leistungen der Theater und Orchester, die als selbstständige Tätigkeit vergeben werden, werden jedoch deutlich höher vergütet. Das bedeutete, dass bei künstlerischen Leistungen mindestens eine Verhandlungsvergabe ohne Teilnehmerwettbewerb (§ 12 UVgO) stattzufinden hätte, also mindestens drei Angebote einzuholen wären. Weder ein Dirigent noch ein Bühnen- oder Kostümbildner noch ein herausragender Sänger als Abendgast oder ein Konzertsolist könnte also ohne solche Angebotseinholung engagiert werden. Und gegebenenfalls könnte man sich angesichts der eingegangenen Angebote am Ende bei Anwendung von § 43 UVgO nicht einmal für den gewünschten Künstler entscheiden. Das aber wäre ein untragbares Ergebnis und würde auch gegen die in Art. 5 Abs.3 Satz 1 GG garantierte Kunstfreiheit verstoßen (siehe dazu auch den Beitrag: https://stadtpunkt-kultur.de/2022/02/vergaberecht-und-kunst-ueber-die-unterschwelle-im-kulturbetrieb/.

III. Auslegung und Inkraftsetzen der Unterschwellenvergabeordnung

Helfen kann man sich nur mit einer grundgesetzkonformen Auslegung von § 50 UVgO, indem man die Vorschrift in Interpretation der Einschränkung, die dem Wort „grundsätzlich“ entnommen werden kann, verfassungskonform wegen Art. 5 Abs. 3 GG dahingehend auslegt, dass die Unterschwellenvergabeordnung für die Vergabe von künstlerischen Leistungen nicht gilt. Eine entsprechende Klarstellung könnte natürlich auch bei Inkraftsetzen dieser Verordnung, die gemäß deren Präambel erst durch die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 55 der Bundeshaushaltsordnung bzw. durch die Änderung entsprechender Vorschriften der Länder stattfindet, erfolgen. Diese Klarstellung müsste dringend vorgenommen werden, auch seitens des Bundes, da es auch Bundeseinrichtungen gibt, die künstlerische Leistungen vergeben, will man das oben skizzierte Ergebnis vermeiden.

IV. Verordnungskompetenz des Bundes

Abschließend stellt sich aber auch die Frage, ob die Bundesregierung überhaupt legitimiert ist, die Unterschwellenvergabeordnung zu erlassen. Die Verordnungsermächtigung ist in § 113 GWB geregelt. Der entsprechende Abschnitt dieses Gesetzes gilt nach § 106 GWB jedoch nur für solche Vergaben, die die in der EU-Richtlinie vorgegebenen Schwellenwerte überschreiten. Deshalb kann sich die Bundesregierung bei der Unterschwellenvergabeordnung nicht auf § 113 UWG berufen, sodass diese Verordnung jedenfalls in ihrer Vorgabewirkung für Länder (und Kommunen) grundsätzlich in Frage steht.

Theater und Orchester nach der Wende: Gratwanderung zwischen Reformerwartungen, Übergangsfinanzierung und Realitätssinn

Mehr als 25 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen, viel Zeit, in der die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft zusammenwachsen konnte. Leicht war das alles nicht und ohne Blessuren ist es auch nicht vonstatten gegangen. Der Artikel, der 2016 im kulturpolitischen Jahrbuch der Kulturpolitischen Gesellschaft erschienen ist, wirft ein Licht auf diese schwierige Zeit und analysiert die kulturpolitische Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte.

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16. Juni 1990. Hauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins in Duisburg. August Everding, der wortgewaltige damalige Generalintendant der Bayerischen Staatstheater und Präsident des Bühnenvereins tut das, was er am liebsten tut: Eine Rede halten. Darin hieß es:

„Wer beginnt in diesen Tagen seine Rede nicht mit dem Hinweis auf die großen Zeiten, in denen wir gerade leben. Auch der Deutsche Bühnenverein ist am Geschehen nicht vorbeigegangen. Wir haben mit den Kollegen der DDR in Berlin diskutiert. Viele Landesverbände haben Solidaritätsaktivitäten gestartet und viele einzelne Theater haben im Austausch mit den Kollegen kooperiert. In der DDR ist der Bühnenbund gegründet worden… Dann wird sich bald die Frage stellen, ob es nicht nur einen Verein geben soll. Meine Damen und Herren, diese Frage haben nicht wir zuerst gestellt, aber wir müssen uns auf eine Antwort vorbereiten. Die DDR hat 16 Millionen Einwohner, 69 Theater, darunter Kinder- und Puppentheater…. Wir (die alte Bundesrepublik, der Verf.) haben 63 Millionen Einwohner (und) 150 Theater…. Der Vergleich ist nicht ganz statthaft, aber doch interessant… Es kommen schwere Zeiten auf unsere Kollegen zu…“

Everding war in dieser Hauptversammlung nicht der einzige Redner. Auch Gabriele Muschter, von Mai bis Oktober 1990 Staatssekretärin im Kulturministerium der DDR, kam zu Wort. Sie spricht „über die Sorgen und Nöte, die fast alle Theater in der DDR jetzt haben,“ und führt weiter aus: „Gründe, Theater zu schließen, sehen wir nicht, denn gerade sie waren durch die Geschichte hindurch geistige Zentren im Leben der Kommunen. Im Gegenteil, ich denke, es ist zu überlegen, ob es nicht auch wichtig ist, die eigenartigen kulturellen Strukturen, die mit einem Stück leidvoller DDR-Geschichte zu tun haben, in den Einigungsprozess einzubringen.“ Und doch geht es in ihrer Ansprache dann um „Verwaltungsapparat verkleinern“, „personelle Veränderungen“, darum, dass sich „Ensembles freimachen müssen von unnötigem Verwaltungsballast und unfähigen Leitungen“, und dass „Künstler künftig über andere Wege und Formen zu ihrer Arbeit kommen müssen.“

Das beschrieb ohne Umschweife die Ausgangslage für das Zusammenwachsen der deutschen Theaterlandschaft. Dennoch sprach man im Juni 1990 nur von einer Zusammenarbeit zwischen dem Bühnenbund, der unmittelbar nach 1989 auf dem Territorium der früheren DDR gegründet worden war, und dem schon bereits nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder ins Leben gerufenen Deutschen Bühnenverein. Von Vereinigung beider Organisationen war zunächst nicht die Rede. Schließlich war es aber dann am 21. Oktober 1990 doch soweit: Bühnenverein und Bühnenbund taten sich zum Deutschen Bühnenverein zusammen und machten die Gestaltung der zukünftigen Theaterlandschaft in Deutschland zu ihrer gemeinsamen Aufgabe. Und der Orchesterlandschaft! Denn der Deutsche Bühnenverein war schon immer auch der Verband der Orchesterunternehmen, dem bis heute an die 100 große Klangkörper angehören.

Aufbruch und Reformerwartungen

Was das für die Theater in der früheren DDR hieß, hatte Arnold Petersen, damals Intendant des Nationaltheaters Mannheim, in einem Interview mit „Theater heute“ bereits im September 1990 formuliert. Zwar sprach er von einem Neuaufbau, von neuen Strukturen und warnte davor, dass die dortigen Theater, damit meinte er die in der DDR, „jetzt einfach so an die westdeutschen Verhältnisse anknüpfen.“ Es gebe ja nicht einmal Rechtsträger, also Länder und Gemeinden, die sich für die Theater und Orchester verantwortlich fühlten. In Stralsund und Weimar habe man ihm erzählt, spätestens im November seien die dortigen Theaterbetriebe pleite. Und dann stellte er die Frage, ob man den bisher in der DDR für die Mitarbeiter der Theater geltenden Rahmenkollektivvertrag nicht zumindest insoweit auf die Theater und Orchester in den alten Bundesländern übertragen könne, als in Zukunft für alle Theatermitarbeiter ein einheitlicher Tarifvertrag gelten solle. Er spielte damit auf die Kritik der Theaterintendanten im Westen an, sieben unterschiedliche Tarifverträge in einem Drei-Sparten-Theater anwenden zu müssen. Fraglich erschien ihm an einem solchen dem Rahmenkollektivvertrag entsprechenden einheitlichen Tarifvertrag nur, dass auch die künstlerischen Mitarbeiter der Theater in der früheren DDR unbefristete Arbeitsverträge hatten, was jeden aus künstlerischen Gründen notwendigen Austausch des künstlerischen Personals letztlich nicht zuließ.

Auch die Dramaturgische Gesellschaft äußerte sich im Februar 1991 zur deutschen Theatersituation. Sie sprach von „Angst und Verunsicherung“, die sich in den Theatern der früheren DDR breitmachten. „Kleinmütigkeit, Buchhalterei und Defensiv-Verhalten müssen abgebaut werden. Die gegenwärtige Debatte ist gekennzeichnet durch Schließungs-Fantasien,“ hieß es in ihrer Stellungnahme. Und auch hier wurden Reformillusionen geschürt, indem man feststellte: „Die derzeitige Umbruchsituation ist die einmalige Chance, die Organisation der Theaterarbeit umzustrukturieren, das Tarifsystem des westdeutschen Theaters nicht nur nach Plan zu übertragen, sondern die Kombination der progressiven Elemente beider Arbeitssysteme zu wagen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen, das den besonderen Bedingungen der Produktion und Präsentation von Theater Rechnung trägt.“

Die Rolle der Übergangsfinanzierung des Bundes

Die finanziellen Probleme, vor denen sowohl Petersen als auch Muschter warnten, wurden aufgefangen durch die ab 1991 gewährte Übergangsfinanzierung des Bundes für die Kultur in den dann entstehenden neuen Ländern. Mit 900 Millionen DM im Jahr startete man in diese Übergangsfinanzierung, um sie dann im Laufe der nachfolgenden Jahre langsam zu reduzieren und schließlich auslaufen zu lassen. Da die Theater und Orchester zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil von dieser Übergangsfinanzierung profitierten, hatte diese praktisch zur Folge, dass viele der Strukturen in den neuen Ländern erhalten bleiben konnten. Ja, zuweilen sahen sich einzelne Rechtsträger in den neuen Ländern dazu berufen, diese Strukturen noch zu verfestigen, etwa dadurch, dass manchem Orchester eine relativ hohe Vergütung zugesagt wurde. Warnungen, das werde man sich in Zukunft, spätestens nach Auslaufen der Übergangsfinanzierung des Bundes, nicht leisten können, wurden gerne in den Wind geschlagen.

So merkwürdig es klingt: Die Übergangsfinanzierung des Bundes für die Kultur in den Neuen Ländern hat also nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sämtliche oben dargestellten Erwartungen, die Vereinigung der deutschen Theater-und Orchesterlandschaft zu einer Systemreform zu nutzen, zunächst unerfüllt blieben. Zwar mag dies auch daran gelegen haben, das bis heute niemand in der Lage ist, zum Ensemble-und Repertoirebetrieb, wie er sowohl in der alten Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR bereits das typische Stadttheater auszeichnete, eine ernsthafte Alternative zu entwickeln, zumindest keine ernsthafte Alternative, die sowohl den künstlerischen Ansprüchen der Theater und Orchester einerseits als auch den Bedürfnissen nach sozialer Absicherung von Mitarbeitern andererseits in ausreichendem Maße gerecht wird. Schon deshalb entwickelte seinerzeit die Bereitschaft, die juristischen Rahmenbedingungen, die für die Theater und Orchester in der alten Bundesrepublik Deutschland galten, auf die neuen Länder zu übertragen, eine zunehmende Dynamik. Entscheidend aber war: Die Übergangsfinanzierung des Bundes erlaubte es, diese juristischen Rahmenbedingungen zu finanzieren.

Zudem nahm nach der dann tatsächlich vollzogenen Wiedervereinigung und der Übertragung des westlichen Rechtssystems auf die neuen Länder die Erwartung zu, auch spezifische tarifliche Regelungen, die auf der Grundlage dieses Rechtssystems entstanden waren, in die dortigen Theater und Orchester zu übernehmen. Und es kam zu einem regen Austausch von künstlerischen Beschäftigten zwischen Ost und West bzw. West und Ost, was zur Folge hatte, dass sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite die Notwendigkeit gesehen wurde, zu gleichlautenden tariflichen Regelungen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland zu gelangen.

Die Übernahme der Theater-Tarifverträge in die neuen Länder

Bereits im Laufe des Jahres 1990 begannen also die Verhandlungen zwischen dem Bühnenverein und der Musikergewerkschaft, der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) mit dem Ziel, den Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) auf die Theater – und Orchesterbetriebe der neuen Bundesländer zu übertragen. Parallel dazu fanden Verhandlungen zwischen Bühnenverein und Künstlergewerkschaften statt, nämlich der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO). Diese Verhandlungen bezogen sich auf die tariflichen Regelungen des künstlerischen Personals. Schon wenige Monate später, also bereits 1991, wurde eine Einigung erzielt, der entsprechend sämtliche tariflichen Theater- und Orchester-Regelungen – mit Ausnahme der Vergütungen, die erst im Laufe der Jahre eine Angleichung erfuhren – auf das damals sogenannte Beitrittsgebiet übertragen wurden. Für die Theater war dies insoweit von großem Vorteil, als die für das künstlerische Personal geltenden tariflichen Regelungen im Sinne der künstlerischen Freiheit außerordentlich flexibel sind. Keine feste Arbeitszeitregelung sowie in weiten Teilen ein befristeter Arbeitsvertrag als Regelvertrag und für Solisten nur eine Mindestgage, also kein Gagengefüge, sind hier als wesentliche Regelungs-Materie zu nennen.

In den Verhandlungen gab es dennoch zwei Aspekte, die deutlich werden lassen, wie zwiespältig diese Übertragung durchaus war.

In dem für die Musiker geltenden TVK existierte schon damals ein § 51, heute § 53 TVK. Diese Vorschrift enthält einen kostenintensiven Sozialplan für den Fall der Verkleinerung oder Auflösung eines Orchesters. Umstritten war es, inwieweit diese Vorschrift auch für die Orchester in den neuen Ländern gelten sollte. Denn schließlich wussten alle, dass die vereinigte Republik von der DDR umfangreiche Orchesterstrukturen geerbt hatte, die, wie oben bereits erwähnt, durch die Übergangsfinanzierung des Bundes teilweise auch noch arbeitnehmerfreundlich aufgebessert worden waren. Zwar konnte man sich schließlich darauf verständigen, dass besagter § 51 TVK in einer Übergangszeit nicht für die Orchester in den neuen Ländern gelten sollte. Jedoch gelang es in dieser Übergangszeit nicht, die Orchesterstrukturen derartig zurückzuführen, dass sie sich heute auf einem problemlos finanzierbaren Niveau befänden. Bemerkenswert aber war, dass sich damals auf Arbeitgeberseite die Haltung breit machte, man möge doch § 51 TVK ruhig für die Orchester der neuen Bundesländer gelten lassen, weil die Sozialplanregelung der genannten Vorschrift den Rechtsträgern ihre Neigung, Orchester zu verkleinern oder gar aufzulösen, zu teuer werden lasse. So diene die Sozialplanregelung praktisch dem Erhalt der Orchester in den neuen Ländern, eine Rechnung, die bis zum gewissen Grad durchaus aufgegangen ist.

Ähnlich verhielt es sich mit der so genannten 15-Jahre-Regelung in den für das künstlerische Personal der Theater geltenden und auf die neuen Länder übertragenen Künstlertarifverträgen. Diese Regelung legt fest, dass nach einer 15 Jahre andauernden Beschäftigung der bestehende Arbeitsvertrag nichts mehr beendet werden kann, enthält also einen Beendigungsschutz (der im Übrigen heute unter bestimmten Voraussetzungen erst nach 19 Jahren greift). Nach einer Beschäftigung von dieser Dauer kann also nur noch eine inhaltliche Veränderung des Arbeitsvertrages – sei es hinsichtlich der Tätigkeit, sei es hinsichtlich der Vergütung – arbeitgeberseits herbeigeführt werden. Für die im künstlerischen Bereich der Theater beschäftigten Mitarbeiter bedeutete eine Übertragung der Vorschrift auf die Theater der neuen Länder, dass alle Schauspieler, Sänger, Tänzer und andere Bühnenkünstler, die in einem DDR-Theater bereits 15 Jahre beschäftigt waren, nicht mehr entlassen werden konnten. Gerade mit Rücksicht auf eine durchaus überhöhte Besetzung der Ensembles der DDR-Theater war dies außerordentlich bedenklich. Interessanterweise sprachen sich aber auch hier viele Arbeitgeber aus den betroffenen Theatern für eine solche Übertragung aus, weil sie der Auffassung waren, ein Theater könne nicht mehr geschlossen werden, wenn es über eine hohe Anzahl von nicht mehr aufzulösende Arbeitsverträgen mit künstlerischen Mitarbeitern verfüge. Und so kam es dann zu der Übertragung der so genannten 15-Jahre-Regelung auf die Theater der neuen Länder, was natürlich später die Betriebe ebenfalls vor erhebliche Finanzierungschwierigkeiten stellen sollte.

Die Finanzierungsschwierigkeiten nehmen zu – der Haustarifvertrag mit Gehaltsverzicht

Wie konnte man diese Finanzierungsschwierigkeiten nun bewältigen? Sehr schnell stellte sich heraus, dass zu den gegebenen tariflichen Regelungen viele, vor allem kleinere Theater oder Orchester in den neuen Ländern nicht zu betreiben waren. Die Sorge, aus der angespannten finanziellen Situation könnte sich doch die Schließung einzelner Einrichtungen ergeben, nahm erheblich zu, als der Berliner Senat 1993 das Schillertheater und mit ihm das Schlossparktheater im Westteil der Stadt schloss. Sie ließ bei den Gewerkschaften die Bereitschaft entstehen, für Theater und Orchester in den neuen Ländern haustarifvertraglich teilweise erhebliche Kürzungen der Vergütungen zu vereinbaren, um im Gegenzug betriebsbedingte Beendigungen von Arbeitsverhältnissen in diesen Haustarifverträgen auszuschließen. Am Anfang war man der Überzeugung, diese Haustarifverträge seien ein vorübergehender Zustand für einzelne Betriebe. Man nahm an, während der Laufzeit des Haustarifvertrages werde im jeweiligen Betrieb durch sogenannte natürliche Fluktuation (Ruhestand, Wechsel an ein anderes Theater) das Personal sozialverträglich abgebaut, so dass nach Auslaufen des Haustarifvertrags an alle wieder die flächentarifvertragliche Vergütung gezahlt werden könnte. Diese Annahme erwies sich aus zwei Gründen als trügerisch. Erstens stellte sich in vielen Fällen heraus, dass nicht jede freiwerdende Stelle unbesetzt bleiben konnte, wollte man den bisherigen Spielbetrieb aufrechterhalten. So kam es zwar zu einem Personalabbau, der aber keineswegs ausreichte, um nach Auslaufen des Haustarifvertrages die notwendige Vergütungsanpassung vorzunehmen. Zweitens hatte man nicht erkannt, dass an manchen Standorten dauerhaft ein Theater oder Orchester nicht zu den bisherigen flächentarifvertraglichen Bedingungen unterhalten werden konnte. Insoweit wurden die Haustarifverträge regelmäßig wieder verlängert, so dass bis heute der größte Teil der Theater- und Orchestermitarbeiter in den neuen Ländern einen Gehaltsverzicht leistet.

Die Fusion und dann doch: Die Reform

Parallel dazu wurden zwei weitere Entwicklungen eingeleitet. Man prüfte zum einen an manchen Standorten, ob es möglich sein könnte, Theater und/oder Orchester miteinander zu fusionieren. Zu solchen Fusionen kam es etwa in Altenburg/Gera, Greifswald/Stralsund, Halberstadt/Quedlinburg, Freiberg/Döbeln oder Plauen/Zwickau. Als dann Ende der neunzehnhundertneunziger Jahre im Freistaat Thüringen die Fusion des Nationaltheaters Weimar mit dem städtischen Theater Erfurt ins Gespräch kam, stellte sich schnell heraus, dass solchen Fusionsüberlegungen aus politischen Gründen Grenzen gesetzt waren. Vor allem das Nationaltheater Weimar konterte diese Überlegungen mit dem so genannten „Weimarer Modell“, das gerade mit Rücksicht auf die eingangs zitierten Reformbestrebungen viel öffentliche Aufmerksamkeit erreichte. Bei genauem Hinsehen entpuppte sich dieses Modell jedoch letztlich als ein Haustarifvertrag mit Gehaltsverzicht. Das hatte für die Theater und Orchester in den neuen Ländern weitreichende Bedeutung, weil damit die Haustarifverträge, die für einzelne Theater und Orchester in den neuen Ländern bisher meist hinter verschlossenen Türen abgeschlossen worden waren, ein hohes Maß an politischer Aufmerksamkeit erfuhren und hoffähig wurden. Auch dies hat dazu beigetragen, dass sich die Praxis, mit Haustarifverträgen die Vergütungen herunterzufahren, in den Theatern und Orchestern der neuen Länder verfestigte.

Die zweite Entwicklung lag in der dann doch eingeleiteten Reform der öffentlich getragenen Theater und Orchester. Sie ist insofern interessant, als mit dieser Reform dann schließlich doch an die oben geschilderten, nach der Wiedervereinigung geäußerten Reformerwartungen zumindest teilweise angeknüpft wurde. Zur Einleitung einer solchen Reform hatte der Bühnenverein Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre einige Papiere vorgelegt, die zusammengefasst zwei Vorschläge enthielten: Entbürokratisierung und Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. Während die erste Maßnahme durch die Betriebe selbst herbeigeführt werden musste, etwa durch die Herauslösung von Theatern aus der städtischen oder staatlichen Verwaltung oder auch nur durch die Rationalisierung von – teilweise infolge von personalvertretungs- bzw. betriebsverfassungsrechtlichen Vereinbarungen bestehenden – theater- und orchesterinternen Arbeitsabläufen, erwies sich die zweite Maßnahme als deutlich schwieriger. Trotz einiger vor allem vom Bühnenverein formulierter Vorschläge gesetzlicher Änderungen zeigte sich die Politik in dieser Frage äußerst zurückhaltend.

Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen der Theater und Orchester konnten also nur herbeigeführt werden durch eine mehr oder weniger massive Umgestaltung von tariflichen und vergleichbaren Regelungen. Dieser hochkomplizierte Prozess fand dann in der Zeit bis 2009 vor allem mit dem Ziel einer Flexibilisierung von Arbeits-und Produktionsbedingungen statt. So kam es 2002 zum Abschluss eines vollständig neuen Tarifvertrags für das künstlerische Personal, der insgesamt fünf zuvor geltende Tarifverträge zu einem Tarifvertrag, dem Normalvertrag Bühne (NV Bühne), zusammenfasste. Am 31. Oktober 2009 wurde dann ein ebenfalls reformierter Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) abgeschlossen. Auch die zwischen dem Deutschen Bühnenverein und dem Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage abgeschlossene sogenannte Regelsammlung, in der die Konditionen für die Übertragung von Aufführungsrechten einschließlich der zu zahlenden Urhebervergütung festgelegt sind, wurde durch die Neufassung vom 1. August 2005 wesentlich verändert. Parallel dazu reformierte auch der öffentliche Dienst seine Tarifverträge, was insoweit für die öffentlich getragenen Theater von Bedeutung war, als dass das nichtkünstlerische Personal dieser Betriebe auf der Grundlage der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes beschäftigt wird. Sämtliche Maßnahmen ermöglichten es, im Laufe der gleichen Zeit die Anzahl der Arbeitsplätze in den öffentlich getragenen Theaterbetrieben (einschließlich ihrer Orchester) ganz Deutschlands von seinerzeit 45.000 Mitarbeitern auf heute etwa 39.000 zu reduzieren. Dabei blieb das künstlerische Angebot der genannten Institutionen zwar weitgehend erhalten. In vielen Theatern wurde aber erkennbar, dass die sich aus dem Personalabbau ergebenden Probleme zu veränderten Produktionsweisen führten, etwa durch einen deutlicher dem Stagione angelehnten Spielplan mit stärkerem Projektcharakter. Daraus ergab sich wiederum die Konsequenz, dass die Anzahl der unständig Beschäftigten der Theater und Orchester in der gesamten Bundesrepublik Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre ca. 8000 Verträgen auf heute etwa 25.000 Verträge zunahm.

Zu fragen ist nun, ob diejenigen, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine Reform der öffentlich getragenen Theater und Orchester im Auge hatten, tatsächlich diese Veränderung wollten. Denn mittlerweile macht sich die Erkenntnis breit, dass das, was Reform sein sollte, tatsächlich nichts anderes war, als eine Verschlechterung von sozialen Bedingungen im Bereich der darstellenden Kunst. Und so ist es nicht verwunderlich, dass nun Gegenkräfte zu wirken beginnen. Sie liegen nicht nur in einem sich wieder verstärkenden gewerkschaftlichen Engagement, sondern auch in der Gründung verschiedener auf größere Gerechtigkeit bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen der Theater abzielende Initiativen. Ernste Bestrebungen, die Arbeitsbedingungen im Bereich der darstellenden Kunst wieder zu verbessern, sind auch bezogen auf Arbeitgeberseite nicht mehr zu übersehen, bedenkt man alleine, dass zu Beginn der laufenden Spielzeit 2015/16 die für Solisten, also etwa Schauspieler, geltende tarifliche Mindestgage von monatlich 1.650 € auf 1.765 € brutto heraufgesetzt wurde. Und verhandelt wird schon jetzt über eine weitere Steigerung.

Fazit

Am Ende lässt sich feststellen: Die Theater-und Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland, mittlerweile auf der deutschen Liste des immateriellen Kulturerbes, konnte durch die schweren Zeiten finanzieller Zwänge der Wiedervereinigung nicht ernsthaft in Gefahr gebracht werden wenngleich nicht ganz ohne Blessuren, wie etwa auch der Schließung der Mitteldeutschen Landesbühne in Wittenberg oder des Kleisttheaters in Frankfurt/Oder. Veränderungen im Betrieb dieser Kulturinstitutionen sowie Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen trugen und tragen wesentlich dazu bei. Was bis heute in den neuen Ländern fehlt, ist eine parallel dazu sich aufbauende aus Privattheatern und freien Gruppen bestehende Theaterszene. Entscheidend ist jedoch, dass es die Theater und Orchester in Deutschland geschafft haben, sich so weiterzuentwickeln, dass künstlerisch ein vielfältiges Programm gewährleistet ist und dass im künstlerischen Schaffen ein Unterschied zwischen Theatern und Orchestern in West und Ost weitgehend nicht mehr besteht.