Was tun? Politik, Moral und Kultur

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete einst Heinrich Heine. Das war in den Zeiten des vorrevolutionären Deutschlands. Aber auch heute könnte der Satz kaum treffender sein: Diesel-Krise, Flüchtlingspolitik und eine aus den Fugen geratene CSU, die Gefahr geschlossener Grenzen, neue Zölle und jetzt auch noch ein Ausscheiden aus der Fußballweltmeisterschaft. Doch es gibt auch ermutigende Zeichen, nicht nur in den Theatern.

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Man vermag es ja alles nicht zu glauben, was die morgentliche Zeitungslektüre so zu Tage fördert. Wer das zu beschreiben sucht, weiß ja schon fast nicht mehr, wo er anfangen soll. Eigentlich ist es auch egal, will man die moralische Krise hierzulande begreifen. Es reicht schon der Blick zu VW und Audi. Da wird der Vorstandsvorsitzende von Audi verhaftet, weil er, so heißt es, Zeugen zu beeinflussen suchte, die seine frühe Kenntnis von der Diesel-Schummelei, die eben ein Betrug ist, bezeugen könnten. Ich habe mich schon seinerzeit, als bekannt wurde, wie mit zweifelhaften Aktivitäten Arbeitnehmervertreter gefügig gemacht wurden, gefragt, welche ethischen Standards denn eigentlich im VW-Konzern noch gelten. Was aber den Konzern zu einem planmäßigen Vortäuschen falscher Tatsachen mit dem Risiko eines Milliardenschadens veranlasst hat, bleibt nicht nur moralisch völlig unverständlich. Es ist auch schlicht das, was man gemeinhin als Geschäftsschädigung bezeichnet. Da scheinen bei den Verantwortlichen ein paar Sicherungen durchgebrannt zu sein.

Über die CSU

Womit man nahtlos zur CSU übergehen kann. Auch da scheint ja zeitweise jede Sicherung außer Kraft gesetzt zu sein. Man kann die Angst in Bayern vor einem Wahlerfolg der AfD nachvollziehen, niemand kann ihn sich wünschen. Aber wieso glaubt die CSU, sie könne einen solchen Wahlerfolg der AfD verhindern, indem sie genau deren Standpunkte fast blind nachplappert, bedauerlicherweise einschließlich des völlig inakzeptablen und unerträglichen Vokabulars. Im Zweifel wählt der Wähler doch das Original, auch rechts der Mitte. Zudem ist auch Bayern vorwiegend ein offenes, tolerantes Land, das christlich geprägt ist. Die dort lebenden Menschen haben nicht völlig den Verstand verloren. Sie werden außerdem hoffentlich wissen, was eine geschlossene Grenze zu Österreich wirtschaftlich und persönlich für sie bedeutet. Und sie werden dann auch wissen, dass die eigentliche Gefährdung unseres Gemeinwesens nicht von den Flüchtlingen ausgeht, sondern von den Rechtspopulisten, einschließlich solchen Regierungsverantwortlichen, die ohne Realitätssinn die Welt immer tiefer in einen Dauerkonflikt stürzen. Ja, auch von Herrn Trump ist hier zu sprechen.

Trump und TTIP

Der amerikanische Präsident treibt mit seiner Klimapolitik, mit seiner Haltung im Irankonflikt, aber auch mit seinen Zöllen fast alle zur Weißglut. Wir Kulturleute müssen uns jetzt schon die Frage gefallen lassen, ob der Widerstand gegen TTIP wirklich richtig war. Wäre es nicht besser gewesen, das Abkommen wäre zustande gekommen und wir hätten erfolgreich anderweitig versucht, die möglichen negativen Auswirkungen auf den Umweltschutz, den Verbraucherschutz und die Kulturfinanzierung zu verhindern. Schließlich leben wir in Europa, einer der größten und bedeutendsten Freihandelszonen der Welt, ohne dass das unseren gehobenen politischen Maßstäben ernsthaft Schaden zugefügt hätte, im Gegenteil. Jetzt kann Trump die deutsche Wirtschaft mit seiner Zoll- und Boykottpolitik erheblich in Schwierigkeiten bringen, was der Kulturfinanzierung hierzulande nicht helfen wird. Und was es politisch für eine Bedeutung hat, dass nun deutsche Unternehmen aus Angst vor nachteiligen Folgen ihres USA-Geschäfts sich in mancher Hinsicht auf Trumplinie begeben, kann noch keiner absehen. Ein offener Welthandel ist wichtig, weil er ein Gegengewicht zu einer verstiegenen, spießigen Politik eines engstirnigen Nationalismus ist. Wir sollten deshalb alle ein Interesse daran haben, ihn zu fördern.

Die Fußballweltmeisterschaft

Das Ausscheiden aus der Fußballweltmeisterschaft ist natürlich vergleichsweise harmlos. Fragen kann man aber, ob die Schwierigkeiten, die (nicht nur) in der deutschen Mannschaft festzustellen waren, ausschließlich sportlicher Natur sind. Oder haben vielleicht so wie VW, Teile der CSU und Trump auch einige Fußball-Funktionäre, Vereine, gar Spieler jegliches Maß und jegliche Mitte verloren? Es ist dem Sport auf Dauer nicht zuträglich, wenn er zu einem großen Geschäft wird und er vor Korruption, hemmungslosen Geldgeschäften und gesundheitlicher Gefährdung der Athleten keinen Halt mehr macht. Von aus den Fugen geratenen Fankurven mal ganz abgesehen. Auch hier könnte mehr Vernunft nicht schaden.

Das Theater

Und nun kommt das Theater als heilende Instanz? Es ist ja nach Schiller eine moralische Anstalt, lassen wir mal dahingestellt, ob es immer diesen Ansprüchen genügt. Aber es ringt zumindest um diese Rolle, schaut man sich nur an, wie sehr man vielerorts bemüht ist, im Sinne der Humanität für Aufklärung zu sorgen.

So haben die Münchener Kammerspiele etwa mit ihrer jüngsten Produktion „What they want to hear“ dem Zuschauer nicht nur eindringlich geschildert, was es heißt, in Deutschland ein Asylverfahren zu durchlaufen. Anhand des real auf der Bühne stehenden Raaed Al Kour, eines syrischen Flüchtlings, der seit über vier Jahren in Deutschland auf eine gerichtliche Entscheidung über seinen Asylantrag wartet, wird vielmehr auch deutlich, wie es wäre, wenn wir einen Flüchtling, nur weil er schon in einem anderen europäischen Land Schutz genießt, in dieses Land abschieben könnten. An diesem Theaterabend werden Videoaufnahmen gezeigt von den Willkommensbekundungen aus den ersten Tagen der in Deutschland ankommenden Flüchtlingsbewegung, Bilder, die einen fragen lassen, wie es in so kurzer Zeit zu einem derartigen Stimmungswandel kommen konnte, wenn man diese Bekundungen mit den heutigen Debatten vergleicht. Hier ließe sich vieles kritisch anmerken, vor allem zur Rolle der Medien, insbesondere hinsichtlich der vom Kulturrat zurecht gescholtenen Talkshows.

Oder das Bonner Stadttheater, das mit der Oper „Oberst Chabert“ die Geschichte eines Kriegsheimkehrers erzählt, der seine Identität nicht nachweisen kann, von der Gesellschaft, der er einst erfolgreich angehörte, deshalb nicht mehr aufgenommen wird und sich schließlich umbringt. Dieses Schicksal aus der Perspektive des Hier, also nicht eines Flüchtlings, erzählt lässt den Zuschauer umso deutlicher nachfühlen, was es bedeutet, irgendwo anzukommen, ohne jegliche Identität, ohne menschliche Zuwendung, ohne jegliches Gefühl der Integration. „Oberst Chabert“ ist im übrigen nicht die einzige Oper, in Bonn, die auf diese Weise aktuelle Fragen artikuliert. Schon „Echnaton“ wurde als die Geschichte einer Schülerin erzählt, die dem IS verfällt, und „I due Foscari“ als Beispiel für die zerstörerische Kraft der Medien, siehe oben. Und wenn das Bonner Contra-Kreis-Theater, ein Privattheater, die Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz „Willkommen“ spielt, ein Stück über eine Wohngemeinschaft, in die vorübergehend ein Flüchtling einziehen soll, dann hilft das auch, zu verstehen, worum es in der Flüchtlingsdebatte geht.

Die wahren Helden des Alltags

Doch die wahren Helden sitzen eigentlich noch woanders. Zum Beispiel Jaqueline Flory. Sie hat in München eine Initiative ins Leben gerufen, mit der in Flüchtlingslagern des Libanon Zeltschulen aufgebaut und unterhalten werden. Mit ihren eigenen Kindern ist sie dort selbst regelmäßig vor Ort. Das ist ein Engagement, das Mut machen kann, auch alle denen, die nicht ganz zu Unrecht glauben, dass man alles tun muss, um die Gründe für Menschen in Afrika, ihr Land zu verlassen, zu minimieren.

„Aus Fehlern lernen!“ Über die Kulturpolitik der SPD

Die SPD hat kürzlich eine Analyse ihres Bundestagswahlkampfs veröffentlicht. Diese Analyse trägt den bemerkenswerten Titel „Aus Fehlern lernen“. Das Kapitel 12 der Studie befasst sich mit der Frage, wo denn die geblieben sind, die in früheren Zeiten die SPD tatkräftig unterstützt haben, und macht als fehlende Gruppe auch die der Kulturschaffenden aus. Im Fazit diese Abschnittes wird gefordert, die Kontakte zu diesen, auch zu den Intellektuellen, in Zukunft regelmäßig zu suchen und zu pflegen. Aber reicht das?

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Wer schon etwas älter ist, wird sich erinnern: Es gab einmal eine Zeit, in der sich Kultur und SPD mehr als nahe standen. Das war vor allem die Zeit des Bundeskanzlers Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung 1969 alle Intellektuellen des Landes aufhorchen ließ mit dem Satz „Die Schule der Nation ist die Schule“. Damit suchte er nicht nur den alten Militarismus, der das Militär als Schule der Nation sah, abzustreifen, sondern betonte auch die politische Priorität der Bildung für alle. Das waren noch Zeiten! Daran anknüpfend formulierte der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann später den Slogan der „Kultur für alle“. Damals existierte eine Wählerinitiative der SPD, in der sich Schriftsteller wie Günter Grass und Heinrich Böll engagierten und die ein Forum für den intellektuellen Austausch zwischen Politik und Kultur bot. Nie werde ich beispielsweise die engagierten Debatten vergessen, die dort über den Neubau des neuen Bonner Bundestags geführt wurden. Und auch zu den Zeiten des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, mit denen es man ja links der Mitte nicht immer leicht hatte, war das Verhältnis immerhin so, dass 1981, also in seiner Regierungszeit, das Künstlersozialversicherungsgesetz verabschiedet wurde. Es bot erstmalig selbstständig tätigen Künstlern und Publizisten eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung, die bis heute national und international hoch geschätzt wird.

Aus dieser kurzen Beschreibung lassen sich bereits drei Anforderungen ableiten: Erstens geht es nicht nur um Kontaktpflege, sondern um einen inhaltlichen, breit und auf Dauer angelegten Diskurs zwischen der Politik und der Kulturszene. Zweitens muss man eine Politik machen, die die Kultur, das intellektuelle Klima im Lande stärkt und unterstützt. Und drittens müssen die Kulturschaffenden, die Intellektuellen an einem politischen Diskurs interessiert sein. An allen drei Voraussetzungen hat es in den letzten Jahren wohl eher gefehlt. Trotz mancher Begegnung, etwa in der Akademie der Künste, war doch eher eine gewisse politische Abstinenz der Kulturszene festzustellen. Man mokierte sich lieber über die politischen Zeitläufte als sich einer täglichen Debatte zu stellen. Das fiel um so leichter, als manches Treffen, das die Politik, auch die SPD organisierte, als das empfunden wurde, was es war, nämlich ein Bemühen um einen Kontakt, der dann besonders als gelungen galt, wenn man sich mit bekannten Namen aus Kunst und Kultur zu schmücken wusste. Doch das Entscheidende ist wohl das zu häufige Fehlen einer Politik im Sinne des geistigen Schaffens. Es fand sogar manches in der Kulturpolitik der SPD statt, was den Interessen von Kunst und Kultur diametral entgegenstand.

Man kommt nun nicht umhin, hier einige Worte über die Sparpolitik der letzten Jahre zu verlieren. Öffentliche Zuschüsse für Theater, Museen, Orchester wurden vielerorts, auch in seitens der SPD regierten Kommunen und Ländern, gekürzt oder zumindest eingefroren. Personalabbau, Gehaltsverzicht, Arbeitsverdichtung und Einschränkungen im künstlerischen Programm waren die Folge, wobei die Theater und Orchester nahezu als Einzige im öffentlich finanzierten Bereich Haustarifverträge mit Vergütungskürzungen vereinbarten. Ein für Kultur zuständiger, der SPD angehörender Minister in Sachsen-Anhalt kürzte die Mittel für die Landesbühne Eisleben in existenzgefährdender Weise, verbot ihr sogar, sich weiter Landesbühne zu nennen, und überließ es der AfD, sich für dieses Theater einzusetzen. In Mecklenburg-Vorpommern weigerte sich der SPD-Kulturminister über Jahre, die Zuschüsse für die kommunalen Theater und Orchester zu erhöhen und brachte damit sowohl die Betriebe als auch die sie tragenden Kommunen an den Rand der Verzweiflung; es ist gut, dass die Ministerpräsidentin der SPD, Manuela Schwesig, dem nun ein Ende bereitet hat. In Bonn verordneten die sozialdemokratischen Oberbürgermeister dem Theater einen Sparkurs ohnegleichen, um am Ende von der völlig sinnlosen Fusion des Bonner Opernhauses mit der Kölner Oper zu schwadronieren. Das alles versteht kein Kulturschaffender, aber auch kein kulturinteressierter Bürger, erst recht nicht angesichts der Tatsache, dass es auch andere Beispiele gibt. Der seinerzeitige Hamburger Erste Bürgermeister etwa gewann für die SPD nicht zuletzt die Wahl dadurch, dass er der katastrophalen Kulturpolitik seines der CDU angehörenden Vorgängers entgegentrat.

Und wie sieht es in der Gesetzgebung aus? Kein SPD-Arbeitsminister, auch nicht Olaf Scholz, schaffte es in den Zeiten der großen Koalition das Problem des Arbeitslosengeldes für im Kulturbereich besonders häufig kurzfristig Beschäftigte wirklich zu lösen. Denn deren Anzahl ist allein in den Stadttheatern während der letzten 25 Jahre von 8.000 Verträgen auf fast 28.000 Verträge gestiegen. Im Urheberrecht wird immer wieder die Notwendigkeit heruntergebetet, die Künstler und Kreativen vor unerlaubter Nutzung ihres Schaffens zu schützen, ohne dass man bis heute einen vernünftigen, praktikablen Ausgleich zwischen den Urheberinteressen und den Verwerterinteressen zustande gebracht hat. Obwohl beispielsweise alle darstellenden Künstler und alle Veranstalter gerne mit Aufzeichnungen ihrer Arbeit im Netz werben, fehlt es bis heute an einer dringend notwendigen entsprechenden Schrankenregelung. Und über die schwierige bildungspolitische Situation, also die Lage von Schulen und Universitäten, könnte auch noch manches schlechte Beispiel für eine verfehlte Politik hinzugefügt werden, nicht zuletzt die Versäumnisse angesichts eines zum Teil katastrophalen baulichen Zustands der Gebäude.

Was tun? Es lohnt sich in mancher Hinsicht, nach Frankreich zu schauen. Was immer man über Macron denken mag, er macht auch Fehler, aber er hat mit seinem engagierten proeuropäischen Kurs und dem darauf aufbauenden Wahlkampf einen Enthusiasmus auch bei vielen Intellektuellen hervorgerufen, wie es seinerzeit Willy Brandt mit seiner Ostpolitik geschafft hat. Man darf es also nicht vergessen: Als Grundlage für eine die Menschen begeisternde Politik, die der auf Angst und Ressentiments setzenden Politik der Rechtspopulisten entgegentritt, braucht man zukunftsweisende Ideen, auch solche der Hoffnung. Die können nur mit der Kultur hierzulande, nicht gegen sie entwickelt und durchgesetzt werden. So war es auch in den 1970er Jahren. An dieser Stelle schläft man rechtsaußen im Übrigen nicht. Die Nichte von Marie Le Pen, der Vorsitzenden des Front National, heute Rassemblement National, Marion Maréchal, hat gerade in Lyon das Institut des sciences sociales, economiques et politiques gegründet, das vor allem dazu dienen soll, rechte intellektuelle Kräfte zu sammeln, um so der geistigen Vorherrschaft der Linken in der französischen Politik entgegenzutreten.

Man sieht gerade daran, dass es höchste Zeit wird, auf die linken und aufgeklärten Kreise in Europa, auch in Deutschland zuzugehen. Will das die SPD nicht anderen überlassen, muss sie mehr ändern als ihre Kontaktpflege. Sie muss sich an die Spitze einer Bewegung des Europäischen Fortschritts, der Freiheit, der Gewaltlosigkeit, des Sozialen Ausgleichs, des inneren und äußeren Friedens und einer von Humanität geprägten Welt setzen. Ohne die, die für Kunst und Kultur, für Wissen und Bildung in unserem Lande stehen, wird ihr das nicht gelingen. Und auch nicht ohne eine allerorten den Künsten zugewandte Kulturpolitik.

Das Berliner Theatertreffen und das Stadttheater, Bemerkungen zu den Reden beim Alfred-Kerr-Darstellerpreis

Zwei Reden gab es anlässlich der diesjährigen wie immer im Rahmen des Berliner Theatertreffens stattfindenden Vergabe des Alfred-Kerr-Darstellerpreises, eine von dem Schauspieler Fabian Hinrichs als Alleinjuror des Preises und eine von dem Regisseur Milo Rau. Nun, Reden werden viele gehalten, vor allem im Schauspiel, wo man sich bekanntlich gerne mal mit sich selbst beschäftigt. Nicht alles muss man deshalb ernst nehmen. Aber einfach ignorieren kann man die Ansprachen auch nicht, dazu gerieten sie zu sehr zur Fundamentalkritik am deutschen Stadttheater. Und schließlich hat ja nicht irgendwer geredet. Also lohnt es sich, mal genauer hinzusehen.

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Das Theatertreffen hat seine eigenen Besonderheiten. Einerseits wird es mit überschaubaren Beträgen vorwiegend aus Bundesmitteln finanziert. Eingeladen werden andererseits vor allem Theaterproduktionen von Stadt- und Staatstheatern. Die gäbe es nun einmal nicht ohne die in die Milliarden gehende Unterstützung von Kommunen und Ländern. Also wäre ohne diese föderal unterhaltene Theaterlandschaft beim Theatertreffen ziemlich tote Hose. Und immer werden deshalb die eingeladenen Produktionen nach der ersten Vorstellung angemessen geehrt. Das lässt man sich nicht nehmen, nachdem sich eine fachkundige Jury immerhin viel Mühe gegeben hat, unter jährlich etwa 1500 Neuproduktionen das Richtige für das Hauptstadt-Event Theatertreffen auszusuchen.

Doch wer glaubt, das deutsche Stadttheater werde deshalb von den Berliner Festspielen, zu denen auch das Theatertreffen gehört, hochgehalten, der irrt. Im November 2017 verglich Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele in einer Rede vor dem Bundesforum des Bündnisses der Freien Darstellenden Künste die Stadttheater mit der freien Szene und beschrieb beides mit Begriffspaaren wie „exkluxiv“ (für das Stadttheater) gegen „kooperativ“ (für die freie Szene), „Angestellte“ gegen „Unternehmer*innen“, „Kunst folgt Struktur“ gegen „Struktur folgt Kunst“, „Hocharbeiten“ gegen „Selbstermächtigung“. Hier also das althergebrachte Ensemble- und Repertoiretheater, dem Oberender immerhin bescheinigte, „nicht per se altmodisch, langweilig oder überflüssig“ zu sein. Dort die modernen Strukturen der freien Szene, die, so war sein Petitum, nun unbedingt von dem erkennbar so innovativ veranlagten Bund in Zukunft großzügig gefördert werden müsse. Und bei den Berliner Festspielen gab es Veranstaltungen mit Theatermachern aus dem Ausland, die belegen sollten, dass auf Projektbasis arbeitende, ausländische Theatersysteme sehr viel besser als das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater seien. Die von Institutionen wie Ensemble-Netzwerk so vehement mit Blick auf das Schauspiel aufgeworfene soziale Frage wurde in der Diskussion eher ausgeblendet.

Das alles muss man sich ein wenig vor Augen halten, wenn man sich jetzt die beiden Reden, die anlässlich der Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises gehalten wurden, ansieht. Es gibt eben seit Jahren diese gegen das Stadttheater gerichteten Impulse der Berliner Festspiele. Das relativiert die beiden Reden zwar etwas, erlaubt es aber nicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Dabei ist das, was Fabian Hinrichs gesagt hat, wohl doch etwas ernster zu nehmen als die Mitteilungen von Milo Rau.

Sieht man als Zuschauer einen guten Theaterabend, dann geht man davon aus, dass Regisseur, Dramaturg und die Schauspieler sich einen Text vorgenommen haben und gemeinsam überlegen, später daran arbeiten, diesen Text erfolgreich auf die Bühne zu bringen, nicht ohne in diese Arbeit ihre subjektive Sicht der Dinge einzubringen. Nicht immer gelingt das, und das mag zuweilen sicher, so Fabian Hinrichs, auch daran liegen, dass sich die Schauspieler nicht als eigenständige Persönlichkeit in den Arbeitsprozess eingebracht haben oder einbringen konnten. Liest man seine Rede genau, entpuppt sie sich damit doch als eine nicht zu überhörende Kritik am Regietheater („Regie-Gefängnis“). Besonders deutlich wird diese Kritik auch in einem Interview, das er am 5. Mai dieses Jahres dem Deutschlandfunk Kultur gegeben hat. Dort sagte Hinrichs, es sei notwendig, „ dass die Schauspieler eigenverantwortlicher werden und sich mehr Wissen aneignen und nicht nur die Schauspielerei, sondern in mehreren Welten zu Hause sind. Das heißt, dass sie mündiger werden, es gar keiner Regie mehr bedarf, sondern eines Autors, also das wäre die richtige Entwicklung. Leider geht es genau in die andere Richtung, dass sie willfähriges Werkzeug von narzisstisch schwer belasteten Menschen sind, die inszenieren.“ Und als Problem macht er dann gleich mit aus, dass es keine kräftigen Autoren mehr gebe.

Das alles ist mit Verlaub für jemanden, der, wie Hinrichs beim Deutschlandfunk von sich selbst sagt, nicht viel ins Theater geht, eine steile These, zumindest aber eine gewagte Verallgemeinerung. Dazu gibt es zu viele gute Produktionen, in denen Theater genau das ist, was Fabian Hinrichs fordert, ein Raum der Gegenwelt, ein Raum der Ahnung von Gemeinschaft, ein Raum der Wahrheit, ein Raum der Kunst und der Poesie. Ich jedenfalls empfinde es so. Dass das oft ein Verdienst der Schauspieler und Schauspielerinnen ist, keine Frage. Und dass dafür Benny Claessens ein wunderbares Beispiel ist, erst recht nicht. Auch nicht, dass es davon mehr geben könnte. Vielleicht muss man in der Tat die Rolle des Regisseurs überdenken. Vielleicht muss man sich wieder mehr auf das gut erzählte Stück besinnen. Vielleicht müssen die Theater (oder die Schauspielschulen) Schauspieler wieder mehr zum eigenen Denken veranlassen. Das alles sollte das Stadttheater tun und tut es. Es jedoch als „nachgestellte Tagesschau“, „ostelbische Kaserne“ oder „Proseminar“ zu bezeichnen, dazu besteht kein Anlass.

Erst recht verbietet es sich, dem deutschen Stadttheater „KZ-Manier“ nachzusagen und die Intendanten als „Lagerleiter“ zu verunglimpfen. Ein aus vielen Gründen ungeheuerlicher Vergleich! Diesen Satz hat Milo Rauch zwar zurückgenommen, was aber nichts daran ändert, dass er ihn in seiner Rede gesagt hat. Aber auch jenseits davon wimmelt es von Anwürfen wie „Söldnertum des Stadttheater-Schauspielers“, „Gemischtwarenladen“, „deutsches bürgerliches Theater“, bei dem es Spaß mache, „den exquisiten Rauchwirbeln, die über seinen Ruinen aufsteigen, zuzusehen“. Der Gegenentwurf zu diesem so überholt erscheinenden Stadttheater besteht für Milo Rau in einer Überhöhung des Schauspielers zu einer Größe, die in die eigene Autorenschaft mündet. “Er braucht keinen Regisseur, keinen Intendanten, keinen Text, außer vielleicht, um ihm bei der Arbeit behilflich zu sein“, sagte er in seiner Ansprache.

Was das genau heißt, erfährt man im Genter Manifest, dem soeben veröffentlichten Papier des Genter Stadttheaters, wo Milo Rau jetzt Intendant geworden ist. Es besteht aus zehn kurzen Thesen, in denen unter anderem gefordert wird, dass ein für eine Theaterproduktion vorliegender Text, auch ein Theaterstück, immer nur 20 Prozent der Vorstellungsdauer ausmachen darf. Was verbirgt sich eigentlich hinter dieser Forderung für eine Verachtung gegenüber den Autoren, denen Fabian Hinrichs immerhin eine zentrale Bedeutung zuspricht? Und wenn man das Urheberrecht ernst nehmen soll, und das muss man wohl, dann kann Milo Rau in seinem Genter Theater in Zukunft alle zeitgenössischen Texte oder solche, die noch urheberrechtlich geschützt sind, komplett vergessen, es sei denn, er findet genügend Autorinnen und Autoren, die zur Selbstamputation neigen. Bringt man es auf den Punkt, so heißt das Genter Manifest, dass Schauspieler alleine auf der Bühne etwas entwickeln und dann, wenn sie dafür einen vorhandenen Text nutzen, dieser nicht mehr urheberrechtlich geschützt sein darf, weil er mehr als ein Steinbruch nicht sein soll. Und damit geht man dann auf Reisen, denn das sagt das Genter Manifest auch: „Jede Inszenierung muss an mindestens 10 Orten in mindestens 3 Ländern gezeigt werden“. Das klingt wie eine Aufforderung zur Einladung der Produktionen. Werbebotschaft erfolgreich kommuniziert? Mag sein, dass das die Absicht der Berliner Rede war. Wie dem auch sei: Man darf das alles in Gent so handhaben, wir leben in einem freien Europa. Aber als Modell für ein Stadttheater in Kaiserslautern, Chemnitz oder Lübeck taugt das alles nicht. Im Übrigen: Auf der Internetseite des Stadttheater Gent werden für den Juni fünf Vorstellungen angekündigt, von der gleichen Produktion! Da lohnt sich zum Vergleich ein Blick auf den Spielplan eines Schauspielhauses in Deutschland.

„Seit sie“, der Neuanfang am Tanztheater Wuppertal

Neun Jahre ist es her, dass Pina Bausch verstorben ist. Nun hat die Company einen lang erwarteten Neuanfang gewagt. Der griechische Regisseur und Performer Dimitris Papaioannou produzierte mit 17 Tänzerinnen und Tänzern das Tanztheater „Neues Stück I Seit Sie“. Die Reaktionen auf diesen Neuanfang fielen gemischt aus und reichten bis zu einem kompletten, fast hämischen Verriss bei der FAZ. Sicher, die Vorstellung lässt Wünsche offen, vor allem im Tänzerischen. Doch sie bietet dem Zuschauer viele eindrucksvolle Bilder, die zum Nachdenken anregen. Und das ist doch schon einmal etwas.

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Als vor vielen Jahren das Tanztheater Pina Bausch entschied, sich vom Wuppertaler Stadttheater zu lösen und selbstständig zu werden, gab es neben großer Zustimmung auch ein gehöriges Maß an Skepsis. Schließlich war eine der größten Choreografinnen, die Deutschland je hervorgebracht hat, von einem Stadttheaterintendanten, Arno Wüstenhöfer, entdeckt, gefördert und gegen damalige Angriffe des Wuppertaler Publikums erfolgreich in Schutz genommen worden. Und viele fragten sich, was wohl geschehen werde, wenn die Prinzipalin einmal nicht mehr sei. Niemand ahnte damals, wie schnell diese Situation eintreten würde. Und es kam wie es kommen musste: Als Pina Bausch starb, war die Nachfolge ungeregelt und ein Intendant, der sich angesichts der plötzlich eingetretenen Vakanz der Lage annahm, war nicht da. Das lag daran, dass man eben die Company aus dem städtischen Betrieb herausgelöst hatte, aber auch daran, dass die Stadt Wuppertal in den vergangenen Jahren alles getan hatte, um einer kraftvollen künstlerischen Leitung des Stadttheaters das Leben schwer zu machen. Mit oder ohne Verselbstständigung des Tanztheaters war also erst einmal eine gewisse Hängepartie angesagt, die man zwar erfolgreich nutzte, um die Stücke Pina Bauschs zu spielen, die aber auch stets mit der Gefahr verbunden war, zum Tanzmuseum zu werden.

Ein Neuanfang war somit mehr als überfällig. Nun hat man ihn gewagt und das ist der neuen künstlerischen Leiterin hoch anzurechnen. Unangebracht ist es, an eine solche Produktion zu hohe Erwartungen zu stellen. Etwas Neues muss nicht gleich mit einem großen Wurf beginnen. Vielmehr ist vorsichtiges Herantasten gefragt. Und wie hätte man ein solches Herantasten besser zum Ausdruck bringen können als mit dem vielsagenden, dennoch aber vorsichtigen und zögerlichen Beginn des Abends.

Die Tänzerinnen und Tänzer tasten sich hintereinander auf die Bühne, und zwar auf Stühlen, die von hinten nach vorne durchgereicht werden. Einer vor dem anderen wird aufgestellt und dient der weiteren Bewegung der Company nach vorn, bis man die andere Seite der Bühne erreicht, nicht ohne dass die letzte Tänzerin jeweils den letzten Stuhl wieder nach vorne durchreicht. Dabei stützt man sich gegenseitig, lässt mal dem einen oder der anderen den Vortritt, nicht ohne helfende Handreichung, die vor dem Absturz vom Stuhl bewahren soll. Wer dachte in dem Moment, schon wegen der Stühle, nicht an Café Müller, wer nicht an den dahinfließenden „season march“ als Kontrast zu diesem wohl bewusst etwas sperrig gestalteten Neuanfang.

Überhaupt entpuppte sich der Abend als ein stetes Ringen um die Identität, vor allem um das Bewältigen der Anstrengung, ja der Selbstüberforderung, zu der der Mensch bekanntlich dabei neigt. Der Stuhl, der eigentlich dem bequemen Sitzen, der Entspannung des ermüdeten Körpers dienen soll, muss auf der Lehne stehend zu einer schwierigen, akrobatischen Übung herhalten, bei der ein Tänzer unter Aufgebot seines ganzen Gleichgewichtssinns auf dem Stuhl balanciert. Das Kochen verlangt nahezu übermenschliche Fähigkeiten, besteht aus einem Multitasking, bei dem die Köchin mehr als zwei Arme braucht, um ein Gericht zuzubereiten. Zwei große Rollen wirken wie Krücken und hindern den Träger am Gehen, lassen ihn wie einen Krüppel erscheinen. Eine Frau zerrt einen Baum auf einen aus Schaumgummi bestehenden schwarzen, trostlosen Berg, um ihn oben einzupflanzen. Später wird der Baum dann wieder von einem Mann (!) herausgerissen und in den Abgrund geworfen. Es geht also auch um die Rolle der Geschlechter, wenn etwa der Mann gierig das zubereitete Essen verschlingt und die Frau neben ihm gelangweilt am Rotwein nippt. Wenn Mann sich am Ende des Abends abplagt mit dem völlig absurden gleichzeitigen Abtransport von zehn Stühlen auf dem Buckel und Frau auf dahingleitenden Rollen versucht, neben ihm zu schweben. Gemeinsames haben und finden sie nicht. Oder wenn Frauen sich auf einem umgedrehten Tisch, der auf Rollen liegt, durch solidarisches Ruckeln fortbewegen und die Chance dieser Fortbewegung weit früher entdecken als die Männer auf dem zweiten umgedrehten Tisch. In all das mischt sich Biblisches, Mythologisches und Erotik als Teil der Identitätsfindung. Und Leichtigkeit kommt dann auf, wenn sich zum in Moll gehaltenen Walzer von Khachaturian fast das einzige Mal großer tänzerischer Schwung entfaltet, ein melancholischer und zugleich beglückender Moment.

So verlässt man auch das Theater, schwankend zwischen Nachdenklichkeit und Melancholie, aber keinesfalls enttäuscht. In der von mir besuchten Vorstellung gab es dann auch einen lang anhaltenden Beifall begleitet von großem Jubel der erkennbar anwesenden Fangemeinde, der signalisieren sollte: Weiter so, ihr seid auf einem guten Weg.

Kölner Band „Die Höhner“ setzt gegenüber der NPD ihr Urheberpersönlichkeitsrecht durch, ein Beschluss des Bundesgerichtshofs.

Am 11. Mai 2017 fasste der Bundesgerichtshof unter dem Aktenzeichen I ZR 147/16 einen jetzt öffentlich erschienenen, interessanten urheberrechtlichen Beschluss. Die Kölner Band „Die Höhner“ hatte die NPD erfolgreich verklagt, es zu unterlassen, ihre Songs („Wenn nicht jetzt, wann dann“ und „Jetzt geht´s los“) auf Wahlkampfveranstaltungen zu spielen. Der Bundesgerichtshof bestätigte nun in dem genannten Beschluss völlig zu Recht diese Entscheidung. Sie kann Auswirkungen auf das öffentliche Abspielen von erschienenen Tonträgern haben, etwa im Theater.

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1. Die Ausgangslage

Wer erschienene Tonträger mit urheberrechtlich geschützter Musik öffentlich abspielen will, holt sich die Rechte in der Regel bei der GEMA. Sie unterhält je nach Anlass der öffentlichen Wiedergabe dafür unterschiedliche Tarife, der Nutzer des Tonträgers zahlt also Geld. Voraussetzung für die Rechteeinräumung durch die GEMA ist, dass die an der Erstellung des Tonträgers beteiligten Urheber mit ihr einen Wahrnehmungsvertrag abgeschlossen haben, was in Regel der Fall ist. Der Kontrahierungszwang, dem Verwertungsgesellschaften wie die GEMA unterworfen sind, erlaubt es ihr dann nicht, die Einräumung der gewünschten Rechte gegenüber dem Nutzer abzulehnen. Urheberpersönlichkeitsrechte werden von der GEMA nicht geprüft und können aus praktischen Gründen auch nicht geprüft werden. Es handelt sich hier um ein Massengeschäft der Rechteeinräumung (Radio, Diskothek, Gaststätten, Geschäfte, Großveranstaltungen etc.). Solche Überprüfungen würden die Verwertungsgesellschaften völlig überfordern.

Das Urheberpersönlichkeitsrecht kommt also erst ins Spiel, wenn der Urheber selbst gegen die öffentliche Wiedergabe des Tonträgers mit der Begründung, in eben diesem Persönlichkeitsrecht verletzt zu sein, rechtlich vorgeht. Für die an der Herstellung des Tonträgers beteiligten ausübenden Künstler (Musiker, Sänger) gilt nichts anderes. Auch ihre Leistungsschutzrechte werden von der GEMA im Auftrag der GVL, der Verwertungsgesellschaft für ausübende Künstler, vermarktet. Fühlen sie sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, müssen sie wie die Urheber  selbst aktiv werden. Maßgebend ist in allen Fällen § 14 UrhG, der die Entstellung oder anderweitige Beeinträchtigung des Werkes oder der erbrachten darstellerischen Leistung verbietet, wenn berechtigte geistige oder persönliche Interessen der Rechteinhaber gefährdet sind.

2. Die Rechtsprechung

Der Bundesgerichtshof hat in dem von ihm zu beurteilenden Fall der Höhner hinsichtlich dieser Gefährdung sehr wesentlich darauf abgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht die NPD zwar nicht verboten, sie aber als verfassungsfeindlich angesehen hat. Kein Urheber müsse in Kauf nehmen, dass sein Werk durch eine verfassungsfeindliche Partei für ihre Zwecke genutzt werde. Das macht deutlich, dass der Bundesgerichtshof die Hürde eher hoch ansetzt. Etwas niedriger sah er die Schwelle bei der Verwendung eines Musikstücks für einen Mobiltelefon-Klingelton (Urteil vom 18. Dezember 2008 – I ZR 23/06). Dort war allerdings das Musikstück umgestaltet worden, um als Klingelton geeignet zu sein. Eine entsprechende Umgestaltung hat es in dem vom Bundesgerichtshof zuletzt entschiedenen Fall nicht gegeben und gibt es auch in vielen Fällen nicht, die für die Nutzer von erschienenen Tonträgern relevant sind.

3. Konkrete Einzelfälle

Im Schauspiel beispielsweise werden Tonträger mit Rechteeinräumung der GEMA eingesetzt, um Umbaupausen zu überbrücken. Oder sie dienen der Untermalung einer bestimmten Szene mit dem Ziel, eine gewünschte Stimmung beim Publikum entstehen zu lassen. Auch im zeitgenössischen Tanztheater kommen Tonträger mit Rechteeinräumung durch die GEMA zum Einsatz. Um Fälle, in denen die Musik Teil der dargestellten Handlung ist, wie etwa in der Oper oder beim Musical, geht es im Übrigen hier nicht. In diesen Fällen werden die Rechte nicht von der GEMA mit Kontrahierungszwang eingeräumt, sondern von den Musikverlagen in einem ausgehandelten Vertrag. Im Rahmen dieser Vertragsverhandlungen können dann die Rechte der Urheber gewahrt werden.

Legt man nun die Beschlüsse des Bundesgerichthofs zugrunde, taucht in den oben genannten Fällen eine Reihe von Fragen auf, wenn ein Theater einen erschienenen Tonträger in einer Produktion öffentlich abspielt und die Rechte dazu von der GEMA eingeräumt wurden und eingeräumt werden mussten: Darf der Tonträger gekürzt wiedergegeben werden? Oder ist die Verkürzung bereits ein Verstoß gegen das Urheberpersönlichkeitsrecht? Wie steht es bei der Nutzung in einem konkreten Zusammenhang mit einem Stück, einer Szene oder einer Inszenierung, etwa wenn ein Song bei einer Gewaltszene abgespielt wird? Darf ein Tonträger für eine zeitgenössische Tanztheaterproduktion genutzt werden, wenn der Komponist der Musik es nicht will und schon darin eine Verletzung seines Urheberpersönlichkeitsrechts sieht?

4. Rechtliche Beurteilung der Einzelfälle

Ausgehend von der geschilderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird man in den genannten Fällen eher zugunsten des Abspielens des Tonträgers entscheiden müssen. Denn auf der anderen Seite des Interessenskonfliktes steht nicht eine Wahlkampfveranstaltung der NPD, sondern ein Kunstbetrieb, der sich auf die in Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit berufen kann. Erwirbt ein solcher Betrieb berechtigterweise die Rechte zum Abspielen des erschienenen Tonträgers von der GEMA, darf er den Tonträger im Rahmen der Kunstausübung auch einsetzen. Dies gilt umso mehr, als die künstlerische Darbietung ja immer Spiel, nie Realität ist. Verbote durch die Rechteinhaber werden und müssen die äußerst seltene Ausnahme bleiben.

Viel schwieriger wird die Rechtslage, wenn die Tonträger nicht durch einen solchen Kunstbetrieb eingesetzt werden, sondern beispielsweise in einer Disco oder Gaststätte, in der beispielsweise überwiegend Rechtsradikale verkehren. Oder in einem Geschäft, das vorwiegend Bekleidungsstücke an die rechtsradikale Szene verkauft. Hier wird man wohl eher die Möglichkeit bejahen müssen, seitens der Urheber und ausübenden Künstler eine Untersagung des Abspielens eines Tonträgers gerichtlich zu erwirken. Nicht ausreichend für ein solches Verbot wird es sein, dass beispielsweise der Urheber die politische Richtung einer Partei, die den erschienenen Tonträger bei einer Wahlkampfveranstaltung abspielt, nicht teilt. Wer sich mit einem Tonträger in das Massengeschäft des Musikbetriebs auch aus kommerziellen Gründen begibt, muss entsprechende Nutzungen weitgehend in Kauf nehmen.

5. Ergebnis

Insgesamt bleibt die Abgrenzung jedoch schwierig und es wird jeweils eine Frage des Einzelfalls bleiben, ob Urheber und/oder die leistungsschutzberechtigten ausübenden Künstler wegen der Verletzung des Urheberpersönlichkeitsrechts das Verbot des Abspielens ihres Tonträgers erwirken können. Im Sinne der Rechtssicherheit ist aber Vorsicht geboten. Das muss auch dem neusten Beschluss des Bundesgerichtshofs entnommen werden, der Ausgangspunkt dieser hier veröffentlichten Betrachtung ist.

 

Kommunale Kulturpolitik, aber was macht Bonn?

Die Stadt Bonn ist eine der wichtigsten und erfolgreichsten Städte in NRW. Während jedoch die meisten Kommunen hierzulande die Bedeutung der Künste für ihr städtisches Leben schon lange bemerkt haben, taumelt die alte Bundeshauptstadt von einem kulturpolitischen Debakel ins andere. Die Frage ist, wie es weitergehen soll.

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Erst leistet sich Bonn eine jahrelange Debatte über den schon früh als aussichtslos erkennbaren Neubau einer angeblich vollständig privat finanzierten Konzerthalle. Nicht zuletzt dadurch verzögert sich die nun begonnene Renovierung der vorhandenen und durchaus bewährten, unter Denkmalschutz stehenden Beethovenhalle so, dass sie nunmehr für das 2020 zu feiernde Beethovenjubiläum nicht mehr fertig wird. Dennoch will man sich als Geburtsstadt Beethovens feiern und nennt sich stolz „Beethovenstadt Bonn“. Frei nach dem Motto „Event statt Nachdenken“ hadern Teile der Stadt mit der erfolgreichen intellektuellen und künstlerischen Profilierung des Beethovenfests durch die jetzige Festspielleiterin. Die Renovierung des städtischen Opernhauses und der als Schauspielhaus fungierenden Kammerspiele wird vor sich hergeschoben, weil man plötzlich die Überlegung anstellt, ein neues Theater zu bauen, möglichst, wie einige schon wieder fordern, mit neuer Konzerthalle. Gleichzeitig plant die Stadt spätestens 2023 den laufenden Etat des Stadttheaters um weitere jährlich 3,5 Millionen Euro zu kürzen. Nun hat ein Gutachten dem ohnehin schon finanziell durch die bisherigen Kürzungen der städtischen Mittel bedrängten Theater bestätigt, dass da praktisch nichts mehr an Einsparungen zu holen ist, wolle man nicht das Niveau des künstlerischen Angebots herunterfahren. Und was passiert? Erst einmal nichts außer etwas merkwürdige Reaktionen.

Schon vor einiger Zeit war zum Gutachten aus Kreisen der CDU in dieser Stadt zu hören, dann lasse sich das bisherige Niveau eben nicht halten. Jetzt lässt sich die Bonner Jamaika-Koalition mit der schwammigen Ankündigung vernehmen, man wolle das Gutachten ergebnisoffen diskutieren. Einige reden von der Schließung der Sparte Schauspiel, nachdem die Sparte Tanz schon vor einigen Jahren einem Gastspielbetrieb geopfert wurde. Die in eine neue Konzerthalle etwas vernarrte SPD lobt sich mit ihrer Haltung, ohnehin gegen eine umfassende Renovierung der Beethovenhalle gewesen zu sein, um jedenfalls pünktlich zum Beethovenjubiläum fertig zu werden. Alles klingt ein wenig wie in Absurdistan.

Wann, so fragt sich der erstaunte Kulturmensch, begreift diese Stadt endlich, dass vor allem eine intakte Infrastruktur vonnöten ist, um sich mit dem Titel „Beethovenstadt“ als Kulturstandort in Konkurrenz mit anderen Städten profilieren zu können? Dazu braucht es zunächst funktionstüchtige Gebäude, wie sie andernorts selbstverständlich existieren oder (wieder)hergestellt werden. Man schaue nur nach Heidelberg, Augsburg, Dresden oder Oldenburg. Dazu braucht es eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Künste durch die Stadt, und zwar des Stadttheaters, der Museen wie auch der freien und privaten Kulturszene. Dazu braucht es ein profiliertes Beethovenfest. Und dazu braucht es ein Ende der lähmenden Kulturzukunftsdebatten sowie eine Kulturpolitik, die die Stadt strahlen und glänzen lässt, statt sie ständig mit neuen Querelen öffentlich herunter zu reden. Natürlich kann man auch etwas neu bauen, aber nur, wenn man vernünftig plant, realistisch die Kosten kalkuliert und weiß, welche Gebäude man wirklich für die Künste, für das Musikleben braucht und welche nicht. Von diesem Wissen scheint man in Bonn leider immer noch weit entfernt zu sein.

Brauchen wir wegen des Echopreises eine Debatte über die Freiheit der Kunst?

Seit der Vergabe des Echo 2018 an Kollegah und Farid Bang ist die Aufregung über deren Texte groß. Zurecht, das kann man nicht oft genug sagen. Doch nun beginnen einige eine Diskussion um die Kunstfreiheit und deren Grenzen. Da aber ist Vorsicht geboten.

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Es ist keine Frage: Die Texte der Rapper Kollegah und Farid Bang verletzen den Anstand, sind gekennzeichnet von Rassismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Sexismus und enthalten antisemitische Elemente. Sie sind geschmacklos und weitgehend unerträglich. Warum sie auch immer geschrieben werden, als Provokation, um zu schockieren oder auch nur aus kommerziellen Gründen, kann letztlich hier dahinstehen. Wer halbwegs seinen Verstand beieinander hat, kann sie nur ablehnen. Den Echopreis hätten die beiden Rapper nie bekommen dürfen.

Dennoch ist der wirtschaftliche Erfolg der Rapper nicht zu übersehen. Also ist die Frage, was wen veranlasst, das alles zu konsumieren. Offenkundig gibt es in der Gesellschaft eine Stimmung im besten Fall der Gleichgültigkeit gegenüber den beschriebenen Inhalten, die schon zu großer Besorgnis Anlass gibt. Noch und bei weitem schlimmer wäre es, wenn die Inhalte auf Zustimmung stießen. Ausschließen kann man das in Teilen der Gesellschaft heute nicht mehr. Umso mehr ist es erforderlich, dem Phänomen des Interesses an den Rapsongs und des damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolgs nachzugehen. Insofern hat die jetzige Debatte auch etwas Gutes. Man hätte sich allerdings manches Engagement von denen, die an der Echopreisvergabe beteiligt sind, etwas früher gewünscht, also eher als Auslöser der Debatte anstelle eines Rücktritts erst im Zuge der entstandenen öffentlichen Empörung. Und wieso gab es in der Veranstaltung am 12. April in Berlin keine standing ovations für Campino?

Natürlich darf man auch fragen, ob das, was Kollegah und Farid Bang da abliefern, Kunst ist? Vielleicht spart man sich das aber besser, weil diese Frage die Texte nur aufwertet. Von Interesse ist sie nämlich erst, wenn sich jemand entscheiden würde, gegen die Texte juristisch vorzugehen. Dazu bedürfte es der Anzeige eines Betroffenen wegen Beleidigung oder seiner Klage vor dem Zivilgericht, wegen der Verletzung eigener Persönlichkeitsrechte, auf Unterlassung der Verbreitung der Texte und Songs sowie ihrer öffentlichen Wiedergabe. Oder des juristischen Vorgehens der Staatsgewalt gegen diese Verbreitung und öffentliche Wiedergabe, etwa weil der Tatbestand des § 130 Strafgesetzbuch, also der der Volksverhetzung, erfüllt wäre. Dann nämlich erst müsste geklärt werden, ob die Kunstfreiheit die Texte vor einem juristischen Zugriff schützt. Solche juristischen Schritte aber haben bisher nicht stattgefunden, wohl wissend, dass das Ergebnis offen ist, ja wahrscheinlich der Prozess zugunsten der Rapper ausgehen müsste. Dieser rechtlich naheliegende Ausgang aber wäre fatal, genauso fatal allerdings wie das umgekehrte Ergebnis. Denn was ein Verbots-Urteil tatsächlich für die Kunstfreiheit, ein im Grundgesetz bewusst nicht unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt stehendes und deshalb sehr weitgehendes Grundrecht, an anderer Stelle bedeuten würde, ist kaum zu ermessen.

Insofern ist auch davor zu warnen, jetzt die Verleihung des Echos an Kollegha und Farid Bang zum Anlass zu nehmen, eine Debatte über die Grenzen der Kunstfreiheit unnötigerweise zu beginnen. Dabei können nur viele verlieren, die Freiheit der Kunst allen voran, und gewinnen vor allem die Rapper, denen man eine aufwertende und deshalb falsche öffentliche Aufmerksamkeit zuteil werden ließe. Davon hatten sie durch die Preisverleihung schon zu viel.

Was wir aus dem Rücktritt von Chris Dercon lernen können.

Chris Dercon hat sein Amt als Intendant der Volksbühne Berlin aufgegeben. Kaum jemanden wird das überrascht haben. Überrascht hat allenfalls, wie Hals über Kopf es geschah. Der Vorgang wirft Fragen auf, auch solche, die bisher, soweit ersichtlich, nicht diskutiert werden.

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Kaum war Chris Dercon zum neuen Intendanten der Volksbühne Berlin berufen, regten sich die Widerstände. Es waren teils die Widerstände derer, die den ewigen Frank Castorf wollten, aber auch der üblichen Verdächtigen, die immer gegen alles sind, und von Kulturinteressierten, die sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft der Volksbühne machten. Schnell stellte sich heraus, dass vor allem eines geschehen war: Die – wie der jetzige Rücktritt – ebenso Hals über Kopf getroffene Entscheidung der Bestellung war von der Politik, konkret vom damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner, weder durchdacht und angemessen vorbereitet noch ausreichend kommuniziert worden. Man glaubte, das werde ein Selbstläufer. Und das Schlimmste war, dass Dercon es offenkundig auch selbst glaubte.

Damit stand das Ergebnis fest, bevor es überhaupt richtig losging. Dercon konnte nur scheitern, es sei denn, er hätte alles anders gemacht, als es die, die ihn berufen hatten, erwarteten. Er hätte sich also in den Theaterbetrieb stürzen müssen, wie es jeder tut, der als Intendant ein deutsches Stadt- oder Staatstheater übernimmt. Selbstverständlich hätte das bedeutet, dass es zu einem weitgehenden Umbau des Ensembles hätte kommen müssen, was schon genug Empörung ausgelöst hätte. Denn immer noch ist vielen nicht klar, dass der Austausch größerer Teile des künstlerischen Personals beim Intendantenwechsel der Weg ist, ein auf das gewisse Maß an Kontinuität verpflichtetes Ensemble-Theater vor der künstlerischen Erstarrung zu bewahren. Dercon hätte zur Spielzeiteröffnung ein Eröffnungswochenende präsentieren müssen mit zwei oder drei Neuinszenierungen, die seine künstlerische Handschrift hätten erkennen lassen und die der erste Grundstock für sein neues Repertoire hätten sein können und müssen. Aber nichts dergleichen. Man hatte ja auf Seiten der Politik die Vorstellung, das Stadttheater mal wieder neu zu erfinden, und glaubte, da sei jemand wie Dercon, aus Belgien kommend, einem Land mit einem anderen Theatersystem, genau der Richtige. Das ist jetzt nicht das erste Mal schief gegangen.

Nach wie vor gibt es in Teilen der Politik, aber auch in den Kreisen der Kulturschaffenden, solche, die glauben, man müsse das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater einer Art Rosskur unterziehen, dann entstehe etwas völlig Neues und künstlerisch weitaus Interessanteres. Das glaubte wohl auch Tim Renner. Und vielleicht hatten ihn einige in Berlin darin auch bestärkt. Um namhafte Kritiker des hierzulande üblichen (großartigen) Theatersystems zu finden, muss der Berliner ja nicht einmal seine Stadt verlassen. Wer aber Belege für die These sucht, es gelinge bei anderer Organisation des Theaterbetriebs künstlerisch alles oder auch nur einiges besser, wird es nicht leicht haben, vor allem nicht, wenn er sich fragt, was das denn für die soziale Lage der Künstler bedeutet. Über die wird ja gerade jetzt berechtigterweise viel diskutiert.

Indem trotzdem immer wieder Intendanten ernannt werden, die von der sie berufenden Politik künstlerisch mit falschen und unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden, tut man nicht nur dem Theater keinen Gefallen. Man verheizt auch hervorragende Künstlerpersönlichkeiten auf unverantwortliche Weise. Zwar liegen alle Fälle anders. Aber der Rückzug von Matthias Lilienthal bei den Münchener Kammerspielen oder der von Staffan Holm seinerzeit beim Düsseldorfer Schauspielhaus sind zumindest ähnlich gelagert. Und auch die Stadt Trier hatte völlig falsche Vorstellungen von ihrem Theater, als sie den dann scheiternden Karl M. Sibelius zum Intendanten machte.

Schon ist wieder davon die Rede, am Stadttheater seien Experimente zum Scheitern verurteilt. Nichts ist abwegiger als das. Denn um Experimente geht es hier nicht, schon gar nicht um solche künstlerischer Art. Die sind am Stadttheater jederzeit möglich und finden statt. Wer Augen hat zu sehen, wird sie wahrnehmen. Nicht zuletzt für diese Experimentierfreudigkeit wird das deutsche Stadttheatersystem im Ausland bewundert. Sie darf man nicht verwechseln mit Systemfragen, die im Mantel künstlerischen Neuanfangs daherkommen. Vor solchen Fehleinschätzungen sind alle zu warnen, die Politiker genauso wie die, die sich zum Intendanten wählen lassen.

Zurück zu Dercon. Nun ist er abgetreten. Den letzten Kick zu dieser Entscheidung gaben wohl die von einem Rechercheteam bestehend aus Süddeutscher Zeitung und zwei ARD-Anstalten zutage geförderten Erkenntnisse, auch finanzieller Natur. Rechercheteam klingt immer gut. Selbst wenn das sicher den Medien nicht vorzuhalten ist, sie haben ihre der Aufklärung verpflichteten Aufgaben, irgendjemand muss die internen Informationen preisgegeben haben. Und derjenige konnte doch nur zwei Ziele verfolgen: Dass Dercon geht und das die, die ihn berufen haben, schlecht dastehen. Ziel erreicht, lässt sich da nur abschließend feststellen.

Der befristete Arbeitsvertrag und die Kunst

Seit dem Bundestagswahlkampf 2017 ist sie mal wieder in der Diskussion: Die befristete Beschäftigung. Auf der Suche nach geeigneten Themen, den Wähler auf die eigene Partei aufmerksam zu machen, machte die SPD den grundlos befristeten Arbeitsvertrag zum Problemfall des Arbeitslebens und forderte kategorisch dessen Abschaffung. Sehr viel ist in der von CDU, CSU und SPD jetzt ausgehandelten Koalitionsvereinbarung nicht davon übrig geblieben. Und doch ist das, was jetzt geregelt werden soll, wenn die Koalition kommt,
beachtenswert.

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„Wir wollen den Missbrauch bei den Befristungen abschaffen. Deshalb dürfen Arbeit-geber mit mehr als 75 Beschäftigten nur noch maximal 2,5 Prozent der Belegschaft sachgrundlos befristen. Bei Überschreiten dieser Quote gilt jedes weitere sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnis als unbefristet zustande gekommen. Die Quote ist jeweils auf den Zeitpunkt der letzten Einstellung ohne Sachgrund zu beziehen.

Die Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist nur noch für die Dauer von 18 statt bislang von 24 Monaten zulässig, bis zu dieser Gesamtdauer ist auch nur noch eine einmalige statt einer dreimaligen Verlängerung möglich.

Wir wollen nicht länger unendlich lange Ketten von befristeten Arbeitsverhältnissen hinnehmen. Eine Befristung eines Arbeitsverhältnisses ist dann nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein unbefristetes oder ein oder mehrere befristete Arbeitsverhältnisse mit einer Gesamtdauer von fünf oder mehr Jahren bestanden haben. Wir sind uns darüber einig, dass eine Ausnahmeregelung für den Sachgrund nach § 14 Abs. 1 Nr. 4 Teilzeit- und Befristungsgesetz wegen der Eigenart des Arbeitsverhältnisses (Künstler, Fußballer) zu treffen ist.“

So heißt es in der Koalitionsvereinbarung, die nun zwischen der SPD und CDU/CSU für eine mögliche Neuauflage der großen Koalition ausgehandelt wurde. Mit der Abschaffung des grundlos befristeten Arbeitsvertrags hat das nicht mehr viel zu tun, den Sachkennern in den Koalitionsgesprächen sei Dank. Denn diese radikale Veränderung der herrschenden Rechtslage war leider, mit Verlaub gesagt, eine eher abwegige Idee, die offensichtlich dazu diente, im Wahlkampf ein halbwegs griffiges Thema seitens der SPD zu präsentieren. Zudem wollte man ein Zeichen für die Entschlossenheit der SPD setzen, einen Teil der Arbeitsmarktreformen, die seitens der damaligen rot-grünen Koalition zur Jahrtausendwende realisiert worden waren, rückgängig zu machen. Das ist verständlich, jedoch leider ein falscher Ansatz. Aber der Reihe nach!

Der Sinn des grundlos befristeten Arbeitsvertrags

Der grundlos befristete Arbeitsvertrag wurde mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz zum 1. Januar 2001 eingeführt. Er sollte dazu dienen, den Arbeitgebern bei Bedarf die Entscheidung zu erleichtern, jemanden einzustellen, obwohl man zum Zeitpunkt der Einstellung noch nicht weiß, inwieweit man den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin auf Dauer braucht. Das war eine Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die gut und richtig war. Denn in vielen Fällen fehlte es bei einem vorübergehenden Mehrbedarf an Arbeitskräften an einem klar zeitlich abzugrenzenden Befristungsgrund, den man ansonsten für Befristungen von Arbeitsverhältnissen braucht. Das gilt vor allem für die zahlreichen kleineren Unternehmen. Zudem wurden die Arbeitsverhältnisse oft in unbefristete Verträge umgewandelt, sobald sich die eingestellte Arbeitskraft bewährt hatte und klar war, dass man für sie auf Dauer Verwendung hatte. Gerade jungen Menschen ermöglichte diese Regelung einen Einstieg in den Arbeitsmarkt, selbst wenn der erste grundlos befristete Vertrag nach spätestens zwei Jahren beendet wurde. Schließlich konnte man dann bei einer neuen Bewerbung schon einmal auf ein gewisses Maß an beruflicher Erfahrung verweisen.

Das alles abschaffen zu wollen, war also unüberlegt. Für viele, gerade Berufseinsteiger, würde aus der Alternative grundlos befristeter Arbeitsvertrag oder unbefristeter Vertrag die Alternative unbefristeter Arbeitsvertrag oder – eher wahrscheinlich – die Fortsetzung der Arbeitslosigkeit. Denn kein Arbeitgeber entscheidet sich bei einem vorübergehenden Mehrbedarf für einen unbefristeten Vertrag, wenn ein ausreichender Befristungsgrund nicht besteht oder man über die Eignung des Kandidaten unsicher ist, zumal im letzteren Fall die gesetzlich mögliche Probezeit von sechs Monaten sich in vielen Fällen komplizierterer Tätigkeiten als keinesfalls ausreichend erwiesen hat. Da greift jede Firma eher zur Anordnung von Überstunden des vorhandenen Personals. Und genau das sollte durch die gesetzliche Regelung des grundlos befristeten Arbeitsvertrags vermieden werden.

Insofern machen auch die nun in Aussicht genommenen Neuregelungen wenig Sinn. Die prozentuale Begrenzung von grundlos befristeten Arbeitsverträgen bei Unternehmen mit mehr als 75 Mitarbeitern führt einfach nur zu einer geringeren Bereitschaft der entsprechenden Arbeitgeber, Arbeitskräfte einzustellen. Die Verkürzung der möglichen Befristungsdauer von zwei Jahren auf 18 Monate hat zur Folge, dass der grundlos befristet tätige Arbeitnehmer, für den kein dauerhafter Bedarf besteht, schon nach 18 Monaten statt nach zwei Jahren den Betrieb verlassen muss. Glücklich wird er darüber nicht sein und SPD wählen wird er deshalb auch nicht.

Das Problem der Dauerbefristung

So ist wohl auch den Koalitionsverhandlern schnell klar geworden, dass das eigentliche Problem ganz woanders liegt, nämlich beim begründet befristeten Arbeitsvertrag. Das moderne Arbeitsrecht sieht heute für diejenigen, die in einem festen Arbeitsverhältnis stehen, zahlreiche Gestaltungsvarianten ihres Arbeitslebens vor. Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Arbeitsbefreiung, etwa die der Elternzeit oder der Großelternzeit. Das Sabbatjahr wird immer populärer. Die arbeitnehmerseits gewünschten Umwandlungen von Vollzeitverträgen in Teilzeitverträge nehmen zu und werden im Sinne von Work-Life-Balance weiter zunehmen. Im öffentlichen Bereich werden Haushaltsmittel mehr und mehr nur befristet zur Verfügung gestellt, etwa für bestimmte Projekte vor allem in der Kunst. Das alles hat schon heute dazu geführt, dass die Anzahl der begründet befristeten Arbeitsverträge nicht nur rapide zugenommen hat, sondern wegen der Möglichkeit, Kettenarbeitsverträge abzuschließen, haben diese begründet befristeten Verträge auch eine erhebliche, weit über zwei Jahre hinausgehende Ausdehnung erfahren. In großen Unternehmen findet sich eben immer ein Befristungsgrund, die öffentliche Hand ist mit den wiederholten Befristungen der Lehrerbeschäftigung dafür das beste oder besser gesagt das schlechteste Beispiel. Das alles ist das viel größere Problem als der heute schon auf höchstens zwei Jahre begrenzte grundlos befristete Vertrag, weil zunehmend Arbeitskräfte eingestellt werden, die sich durch begründete Dauerbefristungen bis in ein fortgeschrittenes Alter in befristeten Arbeitsverträgen befinden.

Also wurde in den Koalitionsverhandlungen dieses Thema durch die beabsichtigte Begrenzung der begründet befristeten Arbeitsverträge bewusst angegangen. Denn je mehr wir die Möglichkeit einräumen, das Arbeitsleben dauerhaft Angestellter flexibel zu gestalten, desto mehr müssen sich die Arbeitgeber die Frage stellen, ob diese von den Arbeitnehmern genutzten Flexibilisierungen nicht die Notwendigkeit zur Folge haben, ihre Belegschaft generell auszuweiten, statt dauernd befristet Ersatzkräfte einzustellen. Insoweit ist es richtig, den Kettenarbeitsverträgen nach einer gewissen Zeit den Riegel vorzuschieben, um die Arbeitgeber zu einer sachgerechteren Personalplanung zu veranlassen.

Der befristete Arbeitsvertrag von Künstlern

Soweit Künstlerinnen und Künstler, also Schauspieler, Sänger, Tänzer und andere, vor allem im Theater beschäftigt werden, werden sie befristet beschäftigt. Das ist keine grundlose Befristung. Sie folgt vielmehr aus dem in der Koalitionsvereinbarung zitierten § 14 Abs. 1 Nr. 4 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Diese Vorschrift sieht als Befristungsgrund die Art der Tätigkeit vor, stellt also gerade nicht auf den vorübergehenden Bedarf einer Arbeitskraft ab. Vielmehr liegt der Grund für die Befristung – etwa beim Theaterkünstler – in dem Abwechslungsbedürfnis der Zuschauer und in der bei Besetzung von Rollen zu beachtenden Freiheit der Kunst. Das ist ein Grundrecht, das ein Theaterunternehmen für sich selbstverständlich in Anspruch nehmen darf und muss. Es ist durch langjährige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bestätigt, interessanterweise schon vor Inkrafttreten des Teilzeit- und Befristungsgesetzes.

Für den deutschen Ensemble-Betrieb ist die genannte Befristungsmöglichkeit von tragender Bedeutung. Sie führt dazu, dass nach dem für die künstlerischen Mitarbeiter der Theater geltenden Tarifvertrag, dem Normalvertrag Bühne, zum Beispiel ein Schauspieler in der Regel einen Vertrag für eine oder mehrere Spielzeiten bekommt, der sich automatisch um eine Spielzeit verlängert, wenn keine der beiden Seiten des Arbeitsvertrages rechtzeitig eine sogenannte, gerichtlich kaum überprüfbare Nichtverlängerungsmitteilung ausspricht. Dies zu tun, ist arbeitgeberseits jedoch eingeschränkt, also nur – so der Normalvertrag Bühne – bis zum 15. Beschäftigungsjahr, in bestimmten Fällen bis zum 19. Beschäftigungsjahr möglich. Gäbe es diese Befristungsmöglichkeit nicht, könnten alternativ die Arbeitsverträge nur mit der im Ausland üblichen Begründung befristet werden, nämlich mit der zeitlichen Begrenzung des künstlerischen Projekts, für das der Künstler tätig wird. Das würde in Deutschland zu einer weit weniger sozialen Absicherung der künstlerischen Theatermitarbeiter führen, da sie anstelle einer durchgehenden Beschäftigung über mehrere Jahre immer nur projektbezogen beschäftigt würden und zwischen diesen Beschäftigungen arbeitslos wären. Diese periodische Arbeitslosigkeit müsste dann durch die Arbeitslosenversicherung aufgefangen werden, was die Sozialversicherung in Frankreich, wo im Theater nur die projektbezogene Befristung von Arbeitsverträgen stattfindet, rund eine Milliarde Euro kostet, ein Betrag, der etwa der Hälfte der deutschen öffentlichen Theaterförderung entspricht.

Angesichts dessen ist es zu unterstützen, dass die Koalitionsvereinbarung bei der in Aussicht genommenen Einschränkung des Kettenarbeitsvertrags ausdrücklich eine Ausnahme für die wegen der Art ihrer Tätigkeit befristeten Arbeitsverträge von vor allem am Theater beschäftigten Künstlern vorsieht.

Schlussbemerkung

Die Betrachtung zeigt, dass der befristete Arbeitsvertrag ein kompliziertes und unverzichtbares Instrument zur Steuerung des Arbeitsmarkts sowohl im Interesse der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber ist. Niemand sollte ihn leichtfertig aufs Spiel setzen. Und vielleicht ist er deshalb, zumindest bei der im Wahlkampf üblichen undifferenzierter Betrachtungsweise, auch als Wahlkampfthema ungeeignet.

Putin, die Russen und die Kunst, das VI. Cultural Forum in Sankt Petersburg

Zum sechsten Mal fand Mitte November das Cultural Forum in Sankt Petersburg statt, mit vielen russischen Kulturschaffenden und internationalen Gästen aus den unterschiedlichen Sektionen. Theater, Musik, Ballett, Film, Museum und vieles mehr sind Thema dieser groß angelegten Konferenz, die aber international kaum Beachtung findet, auch nicht in Deutschland. Immerhin gab sich auch diesmal der russische Präsident Vladimir Putin selbst die Ehre und sprach bei der öffentlichen Gala ein Grußwort. Hier ein Bericht von einem Besuch mit unterschiedlichen Eindrücken.

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Die Reise beginnt mit Hindernissen. Nicht nur ein verpasster Hinflug, vielmehr ist schon Wochen vorher ein Visum zu besorgen. Dazu waren Krankenversicherungs-bescheinigung und Einkommensnachweis erforderlich. Man kommt ohne Geld also nicht nach Russland. Wieso ich schon ein Visum ab dem Mittwoch wolle, der Kongress beginne erst am Donnerstag, werde ich noch gefragt. Ja, aber man müsse doch noch anreisen, erlaube ich mir festzustellen, schließlich erreiche man Petersberg ja nicht wie den nächsten Supermarkt mit dem Fahrrad. Erkennbar ist mein Gegenüber etwas erstaunt über diese Bemerkung, lächelt mir aber den Satz zu, es gehe schon alles in Ordnung. Das Visum wird dann wie gewünscht ausgestellt, aber nur, nachdem man erst einmal seinen Reisepass für eine Woche vertrauensvoll der Visastelle der Russischen Föderation überlassen hat. Die Ausstellung des Visums für den Vortag der Konferenz erweist sich später als segensreich. Eine Kollegin, die auch zur Konferenz will, muss bei der Einreise nach Russland eine halbe Stunde im Petersburger Flughafen ausharren, bis es 24 Uhr Ortszeit ist. Erst dann darf sie einreisen, weil ihr Visum erst ab dem neuen Tag gilt. So sieht der europäisch-russische Alltag leider heute aus.

Der Auftakt

In Petersburg angekommen werden die Gäste des Forums dennoch mit einer Limousine aus württembergischer Herstellung abgeholt, trotz aller europäischen Wirtschaftssanktionen. Immerhin ist es schon nach Mitternacht, als wir das Hotel erreichen. Und doch werden wir von den freundlich bis resoluten Damen der staatlichen Akademie Capella noch über den Verlauf des nächsten Tages unterrichtet. Wir sind eingeladen in die Sektion Musik des Cultural Forums und die tagt eben in dieser Akademie. Morgen früh gehe es los mit einem Termin bei Maestro Chernushenko, der sich am folgenden Tag als eine Art Urgestein der Akademie herausstellt. Chernushenko ist 81 Jahre alt, seit 1974 künstlerischer Direktor und Chefdirigent der Konzerthalle der Akademie; er ist dort bereits ausgebildet worden. Freundlich erzählt er von den Aktivitäten seines Instituts, dem berühmten hier ausgebildeten Chor, seinem Orchester, der Ausbildungsarbeit insgesamt. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Papiere und Noten, in seinem Büro gibt es weder einen Computer noch ein Telefon. Er ist ein Stück Musikgeschichte Russlands und als solches macht er halt nicht jeden modernistischen Kram mit. Ans Aufhören scheint er nicht zu denken. Beim Hinausgehen sagt noch eine russische Gesprächsteilnehmerin, in Russland sei es durchaus üblich, dass solche Positionen so etwas wie „vererbt“ würden, an Familienmitglieder natürlich. So hat auch das neue Russland durchaus etwas Feudalistisches.

Die Podien: Orchester, Musik, Revolution

Dann folgen Podien, die das Konferenzgeschehen bestimmen. Sie sind wie so oft in solchen Zusammenkünften zunächst die Aneinanderreihung von Keynotes. Wer sich erhoffte, es werde dann auch Diskussionen im Plenum geben, sieht sich getäuscht, jedenfalls in der Sektion Musik. Als mein Kollege vom britischen Orchesterverband ABO und ich einige eher zukunftsweisende Überlegungen zur Situation der Orchester vortragen, ernten wir erstaunte Blicke. Doch selbst die These, um ein erfolgreicher Orchestermusiker zu sein, müsse man mehr können, als sein Instrument hervorragend zu spielen, man brauche soziale und kommunikative Kompetenzen, Kenntnisse über Selbstvermarktungsstrategien, die von den Konservatorien zu vermitteln seien, regt sich kein Widerspruch, obwohl solche Thesen im eher konservativen Musikmilieu Russlands absolutes Neuland sind. Ebenso wenig beim Vorschlag, man müsse im Konzert zu neuen Präsentationsformen kommen. Lebhaft wird es erst – zumindest auf dem Podium – , als der russischen Komponistin Nastasya Khrushcheva in der Diskussion über die Revolution und die Musik ein wenig der Kragen platzt und sie dem gesammelten Podium die steile These entgegenschleudert, in der neuen Musik herrsche immer Revolution. Nachher im Konzert der von Revolutionsgedanken geprägten Musik sitzt sie dann bei einer Eigenkomposition selbst am Flügel und man versteht ihren Anspruch der Autonomie der Kunst. Bemerkenswert bei diesem Konzert die Leistung des russischen Northern Symphonie Orchestra unter Leitung des Italieners Fabio Mastrangelo, das sich hervorragend auf die sehr unterschiedliche Musik – Beethoven, Schostakowitsch, Mossolow – einstellt. Vor allem ist hier ein ernsthaftes künstlerisches Engagement für die gespielte Musik zu hören. Das Orchester kann sich jedenfalls mit dem am folgenden Abend unter der Leitung ihres Chefdirigenten Valery Gergijew auftretenden Mariinsky Orchester mehr als messen.

Putin, die Künstler und Serebrenikow

Am besagten folgenden Abend kommt auch Vladimir Putin, allerdings irgendwie zu spät. Geduldig warten die Besucher des Gala-Abends, Ankündigungen für den Grund eines um eine Stunde verzögerten Anfangs der Veranstaltung, den das Publikum gelassen hinnimmt, finden nicht statt. Auch hinsichtlich des Ausbleibens des Starpianisten Daniil Tifonow kein Wort der Erklärung. Der russische Präsident betritt schließlich unter dem Jubel seiner russischen Anhänger, die er in der Kulturbranche hat – viele Künstler, die während der Konferenz auftreten, haben einen offenen an ihn gerichteten Brief, in dem der Annexion der Krim zugestimmt wird, unterschrieben – den Saal. Er hält seine Ansprache, in der es vor allem um die verbindende Kraft des künstlerischen Schaffens geht. Kultur, Kunst und Erziehung seien, so sagt er, eine Antwort auf die Herausforderungen der Barbarei, der Intoleranz und des aggressiven Radikalismus, die die Zivilisation bedrohen. Man mag über Putin denken, wie man will, diese Rede ist inhaltlich so, wie Kulturleute es sich wünschen. Als dann zu Beginn der Veranstaltung noch ein Video gezeigt wird, das auflistet, welche Steigerung von Kulturausgaben die Russische Föderation auf den Weg gebracht hat, wird einem von den vielen kulturellen Höhenflügen angesichts bekannter Realitäten ein wenig schwindelig; denn in keiner der Veranstaltungen, zumindest der in der Sektion Musik, wird der Fall Kirill Serebrennikow auch nur erwähnt. Dieser Fall spricht eine andere Sprache, jedenfalls nicht die der Ansprache Putins. Der russische Regisseur steht bekanntlich seit einigen Monaten in Russland unter Hausarrest. Ihm wird vorgeworfen, dass öffentliche Gelder, die seinem Theater zur Verfügung standen, nicht ordnungsgemäß verwendet wurden. Geklärt ist offenkundig nichts, und Eile, die Klärung herbeizuführen, scheint auch niemand zu haben. Fragt man hinter den Kulissen nach, ob denn die Vorwürfe überhaupt stimmten, erhält man in der Regel ausweichende Antworten. Die Angelegenheit sei schwer zu beurteilen, man wisse nicht, was von der Sache zu halten sei, heißt es meist. Es sei im Übrigen nicht nur gegen den namhaften Regisseur, der durch den Hausarrest gehindert wurde, an der Staatsoper Stuttgart Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zu inszenieren, vorgegangen worden, sondern auch gegen den zuständigen Beamten im Kulturministerium, wird von russischer Seite berichtet. Auf meine Frage, ob die Angelegenheit denn öffentlich diskutiert werde, wird geantwortet, ja sehr wohl und zwar ziemlich kontrovers. In der Tat werde ich dann in einem Zeitungsinterview auf den Fall Serebrennikow angesprochen. Die Journalistin hat die öffentliche Erklärung der deutschen Opernkonferenz, in der die Aufhebung des Hausarrestes verlangt wird, wahrgenommen. Als auch ich einfordere, man möge doch die Dinge jetzt bitte zügigst aufklären, damit der Regisseur so bald wie möglich wieder seiner Arbeit nachgehen könne, ist den ungläubigen Blicken zu entnehmen, dass damit wohl leider so schnell nicht zu rechnen ist.

Das Jubiläum der Oktoberrevolution

Das VI. Cultural Forum findet in Russlands früherer Hauptstadt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution statt. Gefeiert wird die Revolution jedoch nicht. Es wird mehr ihrer gedacht. In drei großen Räumen der Eremitage, deren wesentlicher Teil ja der in der Revolution gestürmte Winterpalast der früheren Zaren ist, ist dem Jahrhundertereignis eine Ausstellung gewidmet. Wer sie sich genau ansieht, hat den Eindruck, es gehe dort mindestens ebenso sehr um die Zarenfamilie Romanow, deren Leben und Repräsentations-Pflichten in Videos ausgiebig gezeigt werden, was immer das zu bedeuten hat. Erst etwas versteckt findet man in der Eremitage einen anderen Raum, in dem ein Video über hungernde, frierende Menschen, die damals, vor der Revolution in den Straßen Petersburgs lagen, gezeigt wird. Auch Putin erwähnt das Jubiläum in seiner Ansprache mit keinem Wort. Wohl aber die kulturellen Errungenschaften von Petersburg, zu denen natürlich auch, er erwähnt das ausdrücklich, die hier arbeitenden Schriftsteller gehören. So macht man sich am Ende des Aufenthalts in Sankt Petersburg in die Wohnungen von Dostojewski und Puschkin auf. Den Häusern ist gleich anzumerken, wie sehr die Russen das Schaffen ihrer großen Literaten verehren. Fast andächtig bewegen sich die Besucher durch die zum Museum ausgebauten Räume. Es ist genau das, was jeden Besucher Russlands immer aufs Neue an diesem Land fasziniert: Seine Liebe zur Kunst, zur Musik und zur Literatur. Wir sollten das in unserem Verhältnis zu Russland nicht unterschätzen. Aber wir sollten auch auf die Erkenntnis drängen, dass diese Liebe ohne die Freiheit nichts wert ist. Das und nichts anderes lehrt uns der Fall Serebrennikow.