Was wir aus dem Rücktritt von Chris Dercon lernen können.

Chris Dercon hat sein Amt als Intendant der Volksbühne Berlin aufgegeben. Kaum jemanden wird das überrascht haben. Überrascht hat allenfalls, wie Hals über Kopf es geschah. Der Vorgang wirft Fragen auf, auch solche, die bisher, soweit ersichtlich, nicht diskutiert werden.

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Kaum war Chris Dercon zum neuen Intendanten der Volksbühne Berlin berufen, regten sich die Widerstände. Es waren teils die Widerstände derer, die den ewigen Frank Castorf wollten, aber auch der üblichen Verdächtigen, die immer gegen alles sind, und von Kulturinteressierten, die sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft der Volksbühne machten. Schnell stellte sich heraus, dass vor allem eines geschehen war: Die – wie der jetzige Rücktritt – ebenso Hals über Kopf getroffene Entscheidung der Bestellung war von der Politik, konkret vom damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner, weder durchdacht und angemessen vorbereitet noch ausreichend kommuniziert worden. Man glaubte, das werde ein Selbstläufer. Und das Schlimmste war, dass Dercon es offenkundig auch selbst glaubte.

Damit stand das Ergebnis fest, bevor es überhaupt richtig losging. Dercon konnte nur scheitern, es sei denn, er hätte alles anders gemacht, als es die, die ihn berufen hatten, erwarteten. Er hätte sich also in den Theaterbetrieb stürzen müssen, wie es jeder tut, der als Intendant ein deutsches Stadt- oder Staatstheater übernimmt. Selbstverständlich hätte das bedeutet, dass es zu einem weitgehenden Umbau des Ensembles hätte kommen müssen, was schon genug Empörung ausgelöst hätte. Denn immer noch ist vielen nicht klar, dass der Austausch größerer Teile des künstlerischen Personals beim Intendantenwechsel der Weg ist, ein auf das gewisse Maß an Kontinuität verpflichtetes Ensemble-Theater vor der künstlerischen Erstarrung zu bewahren. Dercon hätte zur Spielzeiteröffnung ein Eröffnungswochenende präsentieren müssen mit zwei oder drei Neuinszenierungen, die seine künstlerische Handschrift hätten erkennen lassen und die der erste Grundstock für sein neues Repertoire hätten sein können und müssen. Aber nichts dergleichen. Man hatte ja auf Seiten der Politik die Vorstellung, das Stadttheater mal wieder neu zu erfinden, und glaubte, da sei jemand wie Dercon, aus Belgien kommend, einem Land mit einem anderen Theatersystem, genau der Richtige. Das ist jetzt nicht das erste Mal schief gegangen.

Nach wie vor gibt es in Teilen der Politik, aber auch in den Kreisen der Kulturschaffenden, solche, die glauben, man müsse das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater einer Art Rosskur unterziehen, dann entstehe etwas völlig Neues und künstlerisch weitaus Interessanteres. Das glaubte wohl auch Tim Renner. Und vielleicht hatten ihn einige in Berlin darin auch bestärkt. Um namhafte Kritiker des hierzulande üblichen (großartigen) Theatersystems zu finden, muss der Berliner ja nicht einmal seine Stadt verlassen. Wer aber Belege für die These sucht, es gelinge bei anderer Organisation des Theaterbetriebs künstlerisch alles oder auch nur einiges besser, wird es nicht leicht haben, vor allem nicht, wenn er sich fragt, was das denn für die soziale Lage der Künstler bedeutet. Über die wird ja gerade jetzt berechtigterweise viel diskutiert.

Indem trotzdem immer wieder Intendanten ernannt werden, die von der sie berufenden Politik künstlerisch mit falschen und unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden, tut man nicht nur dem Theater keinen Gefallen. Man verheizt auch hervorragende Künstlerpersönlichkeiten auf unverantwortliche Weise. Zwar liegen alle Fälle anders. Aber der Rückzug von Matthias Lilienthal bei den Münchener Kammerspielen oder der von Staffan Holm seinerzeit beim Düsseldorfer Schauspielhaus sind zumindest ähnlich gelagert. Und auch die Stadt Trier hatte völlig falsche Vorstellungen von ihrem Theater, als sie den dann scheiternden Karl M. Sibelius zum Intendanten machte.

Schon ist wieder davon die Rede, am Stadttheater seien Experimente zum Scheitern verurteilt. Nichts ist abwegiger als das. Denn um Experimente geht es hier nicht, schon gar nicht um solche künstlerischer Art. Die sind am Stadttheater jederzeit möglich und finden statt. Wer Augen hat zu sehen, wird sie wahrnehmen. Nicht zuletzt für diese Experimentierfreudigkeit wird das deutsche Stadttheatersystem im Ausland bewundert. Sie darf man nicht verwechseln mit Systemfragen, die im Mantel künstlerischen Neuanfangs daherkommen. Vor solchen Fehleinschätzungen sind alle zu warnen, die Politiker genauso wie die, die sich zum Intendanten wählen lassen.

Zurück zu Dercon. Nun ist er abgetreten. Den letzten Kick zu dieser Entscheidung gaben wohl die von einem Rechercheteam bestehend aus Süddeutscher Zeitung und zwei ARD-Anstalten zutage geförderten Erkenntnisse, auch finanzieller Natur. Rechercheteam klingt immer gut. Selbst wenn das sicher den Medien nicht vorzuhalten ist, sie haben ihre der Aufklärung verpflichteten Aufgaben, irgendjemand muss die internen Informationen preisgegeben haben. Und derjenige konnte doch nur zwei Ziele verfolgen: Dass Dercon geht und das die, die ihn berufen haben, schlecht dastehen. Ziel erreicht, lässt sich da nur abschließend feststellen.

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