Das Theatertreffen hat seine eigenen Besonderheiten. Einerseits wird es mit überschaubaren Beträgen vorwiegend aus Bundesmitteln finanziert. Eingeladen werden andererseits vor allem Theaterproduktionen von Stadt- und Staatstheatern. Die gäbe es nun einmal nicht ohne die in die Milliarden gehende Unterstützung von Kommunen und Ländern. Also wäre ohne diese föderal unterhaltene Theaterlandschaft beim Theatertreffen ziemlich tote Hose. Und immer werden deshalb die eingeladenen Produktionen nach der ersten Vorstellung angemessen geehrt. Das lässt man sich nicht nehmen, nachdem sich eine fachkundige Jury immerhin viel Mühe gegeben hat, unter jährlich etwa 1500 Neuproduktionen das Richtige für das Hauptstadt-Event Theatertreffen auszusuchen.
Doch wer glaubt, das deutsche Stadttheater werde deshalb von den Berliner Festspielen, zu denen auch das Theatertreffen gehört, hochgehalten, der irrt. Im November 2017 verglich Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele in einer Rede vor dem Bundesforum des Bündnisses der Freien Darstellenden Künste die Stadttheater mit der freien Szene und beschrieb beides mit Begriffspaaren wie „exkluxiv“ (für das Stadttheater) gegen „kooperativ“ (für die freie Szene), „Angestellte“ gegen „Unternehmer*innen“, „Kunst folgt Struktur“ gegen „Struktur folgt Kunst“, „Hocharbeiten“ gegen „Selbstermächtigung“. Hier also das althergebrachte Ensemble- und Repertoiretheater, dem Oberender immerhin bescheinigte, „nicht per se altmodisch, langweilig oder überflüssig“ zu sein. Dort die modernen Strukturen der freien Szene, die, so war sein Petitum, nun unbedingt von dem erkennbar so innovativ veranlagten Bund in Zukunft großzügig gefördert werden müsse. Und bei den Berliner Festspielen gab es Veranstaltungen mit Theatermachern aus dem Ausland, die belegen sollten, dass auf Projektbasis arbeitende, ausländische Theatersysteme sehr viel besser als das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater seien. Die von Institutionen wie Ensemble-Netzwerk so vehement mit Blick auf das Schauspiel aufgeworfene soziale Frage wurde in der Diskussion eher ausgeblendet.
Das alles muss man sich ein wenig vor Augen halten, wenn man sich jetzt die beiden Reden, die anlässlich der Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises gehalten wurden, ansieht. Es gibt eben seit Jahren diese gegen das Stadttheater gerichteten Impulse der Berliner Festspiele. Das relativiert die beiden Reden zwar etwas, erlaubt es aber nicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Dabei ist das, was Fabian Hinrichs gesagt hat, wohl doch etwas ernster zu nehmen als die Mitteilungen von Milo Rau.
Sieht man als Zuschauer einen guten Theaterabend, dann geht man davon aus, dass Regisseur, Dramaturg und die Schauspieler sich einen Text vorgenommen haben und gemeinsam überlegen, später daran arbeiten, diesen Text erfolgreich auf die Bühne zu bringen, nicht ohne in diese Arbeit ihre subjektive Sicht der Dinge einzubringen. Nicht immer gelingt das, und das mag zuweilen sicher, so Fabian Hinrichs, auch daran liegen, dass sich die Schauspieler nicht als eigenständige Persönlichkeit in den Arbeitsprozess eingebracht haben oder einbringen konnten. Liest man seine Rede genau, entpuppt sie sich damit doch als eine nicht zu überhörende Kritik am Regietheater („Regie-Gefängnis“). Besonders deutlich wird diese Kritik auch in einem Interview, das er am 5. Mai dieses Jahres dem Deutschlandfunk Kultur gegeben hat. Dort sagte Hinrichs, es sei notwendig, „ dass die Schauspieler eigenverantwortlicher werden und sich mehr Wissen aneignen und nicht nur die Schauspielerei, sondern in mehreren Welten zu Hause sind. Das heißt, dass sie mündiger werden, es gar keiner Regie mehr bedarf, sondern eines Autors, also das wäre die richtige Entwicklung. Leider geht es genau in die andere Richtung, dass sie willfähriges Werkzeug von narzisstisch schwer belasteten Menschen sind, die inszenieren.“ Und als Problem macht er dann gleich mit aus, dass es keine kräftigen Autoren mehr gebe.
Das alles ist mit Verlaub für jemanden, der, wie Hinrichs beim Deutschlandfunk von sich selbst sagt, nicht viel ins Theater geht, eine steile These, zumindest aber eine gewagte Verallgemeinerung. Dazu gibt es zu viele gute Produktionen, in denen Theater genau das ist, was Fabian Hinrichs fordert, ein Raum der Gegenwelt, ein Raum der Ahnung von Gemeinschaft, ein Raum der Wahrheit, ein Raum der Kunst und der Poesie. Ich jedenfalls empfinde es so. Dass das oft ein Verdienst der Schauspieler und Schauspielerinnen ist, keine Frage. Und dass dafür Benny Claessens ein wunderbares Beispiel ist, erst recht nicht. Auch nicht, dass es davon mehr geben könnte. Vielleicht muss man in der Tat die Rolle des Regisseurs überdenken. Vielleicht muss man sich wieder mehr auf das gut erzählte Stück besinnen. Vielleicht müssen die Theater (oder die Schauspielschulen) Schauspieler wieder mehr zum eigenen Denken veranlassen. Das alles sollte das Stadttheater tun und tut es. Es jedoch als „nachgestellte Tagesschau“, „ostelbische Kaserne“ oder „Proseminar“ zu bezeichnen, dazu besteht kein Anlass.
Erst recht verbietet es sich, dem deutschen Stadttheater „KZ-Manier“ nachzusagen und die Intendanten als „Lagerleiter“ zu verunglimpfen. Ein aus vielen Gründen ungeheuerlicher Vergleich! Diesen Satz hat Milo Rauch zwar zurückgenommen, was aber nichts daran ändert, dass er ihn in seiner Rede gesagt hat. Aber auch jenseits davon wimmelt es von Anwürfen wie „Söldnertum des Stadttheater-Schauspielers“, „Gemischtwarenladen“, „deutsches bürgerliches Theater“, bei dem es Spaß mache, „den exquisiten Rauchwirbeln, die über seinen Ruinen aufsteigen, zuzusehen“. Der Gegenentwurf zu diesem so überholt erscheinenden Stadttheater besteht für Milo Rau in einer Überhöhung des Schauspielers zu einer Größe, die in die eigene Autorenschaft mündet. “Er braucht keinen Regisseur, keinen Intendanten, keinen Text, außer vielleicht, um ihm bei der Arbeit behilflich zu sein“, sagte er in seiner Ansprache.
Was das genau heißt, erfährt man im Genter Manifest, dem soeben veröffentlichten Papier des Genter Stadttheaters, wo Milo Rau jetzt Intendant geworden ist. Es besteht aus zehn kurzen Thesen, in denen unter anderem gefordert wird, dass ein für eine Theaterproduktion vorliegender Text, auch ein Theaterstück, immer nur 20 Prozent der Vorstellungsdauer ausmachen darf. Was verbirgt sich eigentlich hinter dieser Forderung für eine Verachtung gegenüber den Autoren, denen Fabian Hinrichs immerhin eine zentrale Bedeutung zuspricht? Und wenn man das Urheberrecht ernst nehmen soll, und das muss man wohl, dann kann Milo Rau in seinem Genter Theater in Zukunft alle zeitgenössischen Texte oder solche, die noch urheberrechtlich geschützt sind, komplett vergessen, es sei denn, er findet genügend Autorinnen und Autoren, die zur Selbstamputation neigen. Bringt man es auf den Punkt, so heißt das Genter Manifest, dass Schauspieler alleine auf der Bühne etwas entwickeln und dann, wenn sie dafür einen vorhandenen Text nutzen, dieser nicht mehr urheberrechtlich geschützt sein darf, weil er mehr als ein Steinbruch nicht sein soll. Und damit geht man dann auf Reisen, denn das sagt das Genter Manifest auch: „Jede Inszenierung muss an mindestens 10 Orten in mindestens 3 Ländern gezeigt werden“. Das klingt wie eine Aufforderung zur Einladung der Produktionen. Werbebotschaft erfolgreich kommuniziert? Mag sein, dass das die Absicht der Berliner Rede war. Wie dem auch sei: Man darf das alles in Gent so handhaben, wir leben in einem freien Europa. Aber als Modell für ein Stadttheater in Kaiserslautern, Chemnitz oder Lübeck taugt das alles nicht. Im Übrigen: Auf der Internetseite des Stadttheater Gent werden für den Juni fünf Vorstellungen angekündigt, von der gleichen Produktion! Da lohnt sich zum Vergleich ein Blick auf den Spielplan eines Schauspielhauses in Deutschland.
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