Als vor vielen Jahren das Tanztheater Pina Bausch entschied, sich vom Wuppertaler Stadttheater zu lösen und selbstständig zu werden, gab es neben großer Zustimmung auch ein gehöriges Maß an Skepsis. Schließlich war eine der größten Choreografinnen, die Deutschland je hervorgebracht hat, von einem Stadttheaterintendanten, Arno Wüstenhöfer, entdeckt, gefördert und gegen damalige Angriffe des Wuppertaler Publikums erfolgreich in Schutz genommen worden. Und viele fragten sich, was wohl geschehen werde, wenn die Prinzipalin einmal nicht mehr sei. Niemand ahnte damals, wie schnell diese Situation eintreten würde. Und es kam wie es kommen musste: Als Pina Bausch starb, war die Nachfolge ungeregelt und ein Intendant, der sich angesichts der plötzlich eingetretenen Vakanz der Lage annahm, war nicht da. Das lag daran, dass man eben die Company aus dem städtischen Betrieb herausgelöst hatte, aber auch daran, dass die Stadt Wuppertal in den vergangenen Jahren alles getan hatte, um einer kraftvollen künstlerischen Leitung des Stadttheaters das Leben schwer zu machen. Mit oder ohne Verselbstständigung des Tanztheaters war also erst einmal eine gewisse Hängepartie angesagt, die man zwar erfolgreich nutzte, um die Stücke Pina Bauschs zu spielen, die aber auch stets mit der Gefahr verbunden war, zum Tanzmuseum zu werden.
Ein Neuanfang war somit mehr als überfällig. Nun hat man ihn gewagt und das ist der neuen künstlerischen Leiterin hoch anzurechnen. Unangebracht ist es, an eine solche Produktion zu hohe Erwartungen zu stellen. Etwas Neues muss nicht gleich mit einem großen Wurf beginnen. Vielmehr ist vorsichtiges Herantasten gefragt. Und wie hätte man ein solches Herantasten besser zum Ausdruck bringen können als mit dem vielsagenden, dennoch aber vorsichtigen und zögerlichen Beginn des Abends.
Die Tänzerinnen und Tänzer tasten sich hintereinander auf die Bühne, und zwar auf Stühlen, die von hinten nach vorne durchgereicht werden. Einer vor dem anderen wird aufgestellt und dient der weiteren Bewegung der Company nach vorn, bis man die andere Seite der Bühne erreicht, nicht ohne dass die letzte Tänzerin jeweils den letzten Stuhl wieder nach vorne durchreicht. Dabei stützt man sich gegenseitig, lässt mal dem einen oder der anderen den Vortritt, nicht ohne helfende Handreichung, die vor dem Absturz vom Stuhl bewahren soll. Wer dachte in dem Moment, schon wegen der Stühle, nicht an Café Müller, wer nicht an den dahinfließenden „season march“ als Kontrast zu diesem wohl bewusst etwas sperrig gestalteten Neuanfang.
Überhaupt entpuppte sich der Abend als ein stetes Ringen um die Identität, vor allem um das Bewältigen der Anstrengung, ja der Selbstüberforderung, zu der der Mensch bekanntlich dabei neigt. Der Stuhl, der eigentlich dem bequemen Sitzen, der Entspannung des ermüdeten Körpers dienen soll, muss auf der Lehne stehend zu einer schwierigen, akrobatischen Übung herhalten, bei der ein Tänzer unter Aufgebot seines ganzen Gleichgewichtssinns auf dem Stuhl balanciert. Das Kochen verlangt nahezu übermenschliche Fähigkeiten, besteht aus einem Multitasking, bei dem die Köchin mehr als zwei Arme braucht, um ein Gericht zuzubereiten. Zwei große Rollen wirken wie Krücken und hindern den Träger am Gehen, lassen ihn wie einen Krüppel erscheinen. Eine Frau zerrt einen Baum auf einen aus Schaumgummi bestehenden schwarzen, trostlosen Berg, um ihn oben einzupflanzen. Später wird der Baum dann wieder von einem Mann (!) herausgerissen und in den Abgrund geworfen. Es geht also auch um die Rolle der Geschlechter, wenn etwa der Mann gierig das zubereitete Essen verschlingt und die Frau neben ihm gelangweilt am Rotwein nippt. Wenn Mann sich am Ende des Abends abplagt mit dem völlig absurden gleichzeitigen Abtransport von zehn Stühlen auf dem Buckel und Frau auf dahingleitenden Rollen versucht, neben ihm zu schweben. Gemeinsames haben und finden sie nicht. Oder wenn Frauen sich auf einem umgedrehten Tisch, der auf Rollen liegt, durch solidarisches Ruckeln fortbewegen und die Chance dieser Fortbewegung weit früher entdecken als die Männer auf dem zweiten umgedrehten Tisch. In all das mischt sich Biblisches, Mythologisches und Erotik als Teil der Identitätsfindung. Und Leichtigkeit kommt dann auf, wenn sich zum in Moll gehaltenen Walzer von Khachaturian fast das einzige Mal großer tänzerischer Schwung entfaltet, ein melancholischer und zugleich beglückender Moment.
So verlässt man auch das Theater, schwankend zwischen Nachdenklichkeit und Melancholie, aber keinesfalls enttäuscht. In der von mir besuchten Vorstellung gab es dann auch einen lang anhaltenden Beifall begleitet von großem Jubel der erkennbar anwesenden Fangemeinde, der signalisieren sollte: Weiter so, ihr seid auf einem guten Weg.
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