Kein Kommissar für Kultur? Zur aktuellen Kulturpolitik der Europäischen Union

Die von der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgelegte Liste der neuen Kommissionsmitglieder sorgt für Unruhe. Auch aus den Kreisen der Kultur gibt es Proteste. Es sei ein falsches Signal, dass es kein Kommissionsmitglied gebe, das ausdrücklich die Zuständigkeit für „Kultur“ in seiner Amtsbezeichnung führe. Das mag man zu Recht kritisieren. Aber an der Kulturpolitik der Europäischen Union gäbe es manches zu beanstanden. Eine Kritik an der Namensgebung des verantwortlichen Ressorts greift da zu kurz.

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Man kennt es ja schon: Ob nun der Bund statt einer Ministerin für Kultur nur eine für Kultur und Medien zuständige, dem Kanzleramt zuzurechnende Staatsministerin beruft, ob eines der deutschen Länder die Zuständigkeit für Kultur lediglich einem Staatssekretär beim jeweiligen Ministerpräsidenten zuweist oder ob, wie eben jetzt, bei der geplanten Zusammensetzung der neuen EU-Kommission es an einem erkennbar für die Kultur zuständigen Kommissar fehlt, in Deutschland ist man sogleich in angemessener Form entrüstet. Mag diese Kritik im Falle der Länder, die immerhin in Deutschland Träger der Kulturhoheit sind, berechtigt sein, schon beim Bund ist in Sachen Kulturzuständigkeit von Ministerien eher Zurückhaltung geboten. Erst Recht gilt das in der EU, der durch das in Artikel 5 Abs. 3 des EU-Vertrags verankerte Subsidiaritätsprinzip noch größere Zurückhaltung auferlegt wird.

Andererseits ist nun nicht zu leugnen, dass gerade die Europäische Union sehr stark von der Kultur geprägt wird. Die Freiheit der Künste gilt als eine tragendes Element des Selbstverständnisses der EU und ihrer Bürger. Sie hat in der Grundrechtecharta der EU wie andere Freiheiten (Meinung, Wissenschaft, Versammlung) ihren ausdrücklichen Niederschlag gefunden (Artikel 13). Und gerne wird immer wieder ein Jean Monnet, dem Wegbereiter der Europäischen Union, zugeschriebenes Zitat bemüht. „Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen“, soll er gesagt haben. Auch wenn er es wohl nie gesagt hat, besser, als  mit der Wirtschaft zu beginnen, wäre es allemal gewesen.

Sei es, wie es sei. Nicht die Amtsbezeichnung der Kommissionsmitglieder ist das Problem, sondern die EU Kulturpolitik. Und da lohnt sich schon ein Blick auf die jetzt geplanten Zuständigkeiten. Das Ressort Kultur soll in das Ressort „Innovation und Jugend“ der Bulgarin Mariya Gabriel fallen. Über sie heißt es auf der offiziellen Internetseite der EU: Sie hat sich bisher als derzeitige EU-Kommissarin „mit Engagement und Energie für das Portfolio Digitales eingesetzt und übernimmt nun mit der Schaffung neuer Perspektiven für die junge Generation eine neue Aufgabe“.

Mit dieser Zuständigkeitsbeschreibung wird das eigentliche Problem erkennbar. Der Europäischen Union geht es nicht um Kultur, um Kunst noch weniger. Für die Europäische Union ist die Kultur eher nebensächlich. In Zukunft soll sie eben in Dienst gestellt werden, um neue „Perspektiven für die Junge Generation“ zu entwickeln. Viel deutlicher wird aber die Sicht der EU auf die Kultur beim Blick in das aktuelle Förderprogramm „Kreatives Europa“. Da wird zunächst als zu Förderndes nicht die Kultur, sondern die „Kulturbranche“ und in gleichem Atemzug der „audiovisuelle Sektor“ genannt. Das Programm unterteilt sich in die drei Bereiche „Unterprogramm Kultur“, „Unterprogramm Media“ und „Bereichsübergreifender Programmteil“. Wer sich alles genau ansieht, wird die Förderung der Künste vermissen. Im Vordergrund stehen „Plattformen“, „Netze“, „Koproduktionen“, „Vertriebsförderung“ oder, wie im übergreifenden Bereich unmissverständlich als förderbedürftig benannt wird,  „länderübergreifender Austausch von Erfahrungen und Know-how für neue Geschäfts- und Management-Modelle,…Vernetzung von Kultur- und Kreativorganisationen und Politikverantwortlichen,… gegebenenfalls unter Förderung der digitalen Vernetzung“. Ausdrücklich steht der größte Teil der Fördersumme für das „Unterprogramm Media“ zur Verfügung. Wundert sich da noch jemand, dass die EU dafür keinen ausdrücklich zuständigen Kommissar braucht, oder gerne auch eine Kommissarin?

Nicht nur das aber ist das Dilemma der EU-Kulturpolitik. Vielmehr geht es auch um die für Kultur zur Verfügung stehende Summe. Es sind 31 Prozent der gesamten Fördersumme von 1,46 Milliarden Euro, verteilt auf sieben Jahre versteht sich. Daraus ergeben sich im Durchschnitt etwa 65 Millionen Euro (für alle EU Länder gemeinsam) jährlich, ein Betrag, der in Deutschland gerade einmal dazu reichen würde, ein großes Opernhaus zu finanzieren. Vom Hocker reist das niemanden.

Auch sonst ist bei der EU leider reichlich Fehlanzeige in Sachen Kultur angesagt. Schon seit Jahren wird vieles beklagt: Der bürokratische Aufwand beim Abrufen der Fördermittel, völlig undurchsichtige Entscheidungsstrukturen bei deren Vergabe, erhebliche Behinderungen bei grenzübergreifenden Projekten, etwa im Steuerrecht oder im Sozialversicherungsrecht, unzulängliche urheberrechtliche Regelungen bei der Nutzung von künstlerischen Produkten im audiovisuellen Bereich. Für Letzteres gibt die neue EU-Richtlinie ersten Anlass zur Hoffnung auf Besserung (siehe dazu auf dieser Seite „Das neue EU-Urheberrecht und seine Bedeutung für die Theater und Orchester“). Aber ansonsten ist in den genannten Problemfeldern eher Tatenlosigkeit zu registrieren. Und was der Brexit für die Kultur bedeuten wird, ist auch kaum absehbar.

Doch gilt wie anderswo in der Politik auch: Nicht verzagen. Gerade im Zuge des in Europa sich immer weiterverbreitenden Rechtspopulismus ist die Verteidigung der Freiheit und gerade der Freiheit der Künste das Gegenmodell zu einer dumpfen Law-and-Order Politik, zu dem ewigen Geschwätz vom christlichen Abendland. Da ist mehr denn je die Europäische Union gefordert und mit ihr wir alle als europäische Bürger. Und wenn wir uns über die Ressortbezeichnungen in der neuen EU-Kommission erregen wollen, dann wäre es gerade deshalb angebracht, Bezeichnungen wie „Schützen, was Europa ausmacht“ zu kritisieren. Denn hierzu haben auch die Rechtspopulisten dezidierte Vorstellungen, die aber sicher nicht die der neuen Kommissionspräsidentin sein werden. Deswegen wäre da wohl ein klares Bekenntnis gefordert mit einer Ressortzuständigkeit für „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“. Da wäre dann auch die Kultur gut aufgehoben.

Lässt sich die Meinungsbildung in den sozialen Medien kontrollieren? Und sollten wir es tun?

Seit Rezo sein vor allem gegen die CDU gerichtetes Video veröffentlicht hat, herrscht Unruhe in der CDU-Zentrale. Das ist verständlich. Unverständlich ist die unbeholfene Reaktion der CDU auf dieses Video. Noch unverständlicher ist die Überlegung ihrer Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, das Netz irgendwelchen politischen Ausgewogenheitsverpflichtungen auszusetzen, wie sie etwa zur Sicherung von Meinungsvielfalt für den Rundfunk mehr oder weniger gelten. Das institutionalisierte Gemeinwesen muss heute damit leben, Anwürfen im Netz ausgesetzt zu sein: Private Unternehmen, staatliche Einrichtungen, Verbände, auch Kulturbetriebe. „Was tun?“ ist also für alle diese Institutionen eine immer schwieriger zu beantwortende Frage. Juristische Lösungen sind jedenfalls eher nicht in Sicht.

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Fake News, abwegige Positionen, radikales Denken jeder Art, im Netz ist alles zu finden und viel Schlimmeres. Die Rechtslage ist dabei eindeutig: Nur wenn gesetzliche Vorschriften verletzt werden, kann man dem zu Leibe rücken. Das aber ist schwierig genug, obwohl Gesetzesverletzungen im Netz fast schon zum Alltag gehören. Man muss sich nur einmal fragen, wie oft alleine Straftatbestände wie Beleidigung, üble Nachrede oder gar Verleumdung erfüllt sind. Subjektivität der zum Teil größeren Massen zugänglichen im Netz verbreiteten Meinungen ist aber in der Regel kein Gesetzesverstoß, ob einem nun die jeweilige Meinung gefällt oder nicht. Es gibt keine gesetzliche Bestimmung, die einzelnen Websites und Internet-Plattformen vorschreibt, eine von unterschiedlichen Meinungen geprägte Vielfalt sicherzustellen, wie es beispielsweise durch den  Rundfunkstaatsvertrag für den Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) festgelegt ist. Und eine solche Bestimmung für das Internet einzuführen, wie es zuweilen gefordert wird, ist mit Verlaub juristisch abwegig.

Der Rundfunkbegriff und die begrenzten Sendekapazitäten

Denn zum einen ist das, was Rezo beispielsweise in seinem Video verbreitet, kein Rundfunk. Wesentlich für den Rundfunk ist es, dass das Ausstrahlen der Sendung durch eine Rundfunkeinrichtung und das Empfangen dieser Sendung durch den Zuschauer gleichzeitigt geschieht. Hinzu kommt, dass Rundfunk einer gewissen Regelmäßigkeit mit einem entsprechenden Sendeplan bedarf. Diese Voraussetzungen mögen manche Streamingdienste, bei denen im Netz verbreitete Inhalte zeitgleich vom Nutzer wahrgenommen werden, durchaus erfüllen. Das hatte schon eine Verpflichtung zur Zulassung solcher Dienste durch eine der zuständigen Landesmedienanstalten zur Folge. Stellt jemand aber etwa einen einzelnen Videobeitrag ins Netz, der dann von jedem zu jeder Zeit abgerufen werden kann, dann handelt es sich bei einem solchen Video rundfunkrechtlich mangels der beiden genannten Voraussetzungen nicht um Rundfunk, sondern anknüpfend an das Urheberrecht nur um eine sogenannte öffentliche Zugänglichmachung.

Wenn nun unter Bezugnahme auf die kürzlich gemachten Äußerungen der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer einzelne Vertreter der in Deutschland praktizierten Rundfunkaufsicht fordern, auch diese öffentliche Zugänglichmachung von Ton- und Bildaufzeichnungen dem Rundfunkbegriff zu unterwerfen, dann ist das mehr als zweifelhaft. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Auch die regelmäßigen Streamingdienste sollten dem Rundfunkbegriff nicht mehr unterworfen sein. Denn als man die Verpflichtung zur inneren Meinungsvielfalt einzelner Rundfunkanbieter

im Rundfunkstaatsvertrag zu einer in Deutschland geltenden Rechtsvorschrift machte, ging man von einer frequenztechnisch und durch den Aufwand des Veranstaltens von Rundfunk bedingten Begrenztheit des Rundfunkangebots aus. Diese Begrenztheit, so befürchtete die verfassungsrechtliche Rechtsprechung, führe zu einer mangelnden Meinungsvielfalt bei der Verbreitung von Hörfunk und Fernsehen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Das Internet ist kein Rundfunk

 Ganz anders ist die Situation im Internet. Rezo nutzt das Internet, um seine Meinung kund zu tun, egal ob er im Internet streamt oder sein Video dort öffentlich zugänglich macht. Sie ist eine von tausenden subjektiven Meinungen, die im Netz verbreitet werden. Das heißt, dass im Netz eine Vielfalt der Meinungen vorherrscht, die eben nicht der öffentlichen Steuerung und Kontrolle oder irgendeiner Ausgewogenheitsregelung bedarf. Darin unterscheidet sich gerade das Internet vom Rundfunk. Jeder kann eben heute leicht seine Meinung per Video oder wie auch immer im Netz verbreiten. Zugegeben, damit sind Risiken verbunden. Es bleibt im Netz die Gefahr der einseitigen Information, weil viele nur die Meinungen abrufen, die sie hören möchten. Dem ist aber nur durch ausreichende Medienbildung, etwa in den Schulen, beizukommen. Eine solche Bildung muss den einzelnen Nutzer des Internets in die Lage versetzen, sich ein objektives Bild zu machen. Möglichkeiten dazu gibt es zuhauf, etwa bei den Angeboten von ARD und ZDF oder auch der großen Tageszeitungen und anderer seriöser Portale. Wenn der Einzelne dann diese im Netz und anderswo bestehenden Möglichkeiten nicht nutzt, ist das seine Sache. Es bleibt ja auch jedem unbenommen, im Printbereich zu lesen was er möchte. Zu regulieren ist in der Beziehung nichts.

Für eine neue Öffentlichkeitsarbeit von Politik, Wirtschaft und Institutionen

Wenn nun dem Rezo-Video rundfunkrechtlich nicht beizukommen ist und man das auch gar nicht versuchen sollte, dann stellt sich die Frage, wie sich die betroffenen Institutionen vor Angriffen im Netz, wie Rezo sie verbreitet hat, schützen können. Nun ließe sich einfach antworten, man müsse nur jedes politische und unternehmerische Handeln wieder stärker an ethischen Maßstäben orientieren, zumindest aber regelmäßig einer Überprüfung nach solchen Maßstäben unterziehen. Es ist ja in der Tat  so, dass in vielen Bereichen eine solche Orientierung verloren gegangen ist. Da aber oft unterschiedliche ethische Maßstäbe aufeinanderprallen, etwa Klimaschutz gegen Arbeitsplätze, ist das zuweilen schwieriger, als sich das manch einer vorstellt. Was aber gerade deshalb nicht stattfinden darf, ist die weitverbreitete, jede Glaubwürdigkeit zerstörende Praxis der Verbergung handfester Interessen, etwa der Gewinnmaximierung, hinter irgendwelchen ethischen Maßstäben, wie beispielsweise der Arbeitsplatzsicherung. Und da geht es um Öffentlichkeitsarbeit im weitesten Sinne.

Dort nämlich hat sich seit Jahrzehnten eine mehr als bedenkliche Neigung zur ungehemmten Schönfärberei  immer weiter eingeschlichen. Das gilt für die politischen Parteien genauso wie für die Wirtschaft. Einiges an Unsinn wird den Menschen tagtäglich „verkauft“ als geboten und unvermeidbar, als notwendig und nützlich. Mehr Ehrlichkeit, mehr Vorsicht bei der Vermittlung von inhaltlichen Zielsetzungen wäre schon ein großer Schritt nach vorn und würde es den Rezos der Social-Media-Welt deutlich schwerer machen. Es ist nicht akzeptabel, als Produzent umweltfreundlicher Autos nach außen aufzutreten und gleichzeitig die Umweltverträglichkeit der eigenen Dieselautos zu manipulieren. Man kann sich nicht glaubwürdig für den Frieden einsetzen und trotzdem Waffenlieferungen in Krisengebiete zulassen. Man kann die Gefahren von Produkten nicht einfach verschweigen. Das gilt nicht nur bei Zigaretten, wo man es fast schon übertreibt mit der Aufklärung, sondern auch bei schnellen Autos, Handys oder Alkohol.  Man kann eben nicht weiterhin den Leuten dauernd etwas vormachen. Widersprüche sind nur dann hinnehmbar, wenn sie offen zur Sprache gebracht werden, und zwar von den handelnden Personen, und sachlich erklärt werden können. Das heißt, dass sich Werbung und Öffentlichkeitsarbeit weitgehend von jeglicher Schönfärberei verabschieden müssen, aber auch, dass das Produkt (ob Ware oder Inhalt) dem, was der Öffentlichkeit vermittelt werden soll, stärker entsprechen muss. Um es auf den Punkt zu bringen: Im Umgang von Parteien, Unternehmen und Institutionen mit der Öffentlichkeit ist weniger verschleiernder Hochglanz und mehr Authentizität gefragt.

War das Rezo-Video in diesem Sinne authentisch?

Das ist die nun oft gestellte wichtige Frage. Sollte sich nämlich herausstellen, dass dieses Video nicht der emotionale, aber fundierte Ausbruch eines jungen Menschen über eine teils verfehlte Politik ist, sondern von interessierter Seite bewusst lanciert wurde, so hat dieses Video mit Authentizität aber so gut wie gar nichts zu tun. Vieles spricht mittlerweile dafür, dass es so ist. Für die Forderung nach mehr Ehrlichkeit in der öffentlichen Debatte wäre das ein fatales Signal. Das gilt erst recht, wenn hinter dem Video eine große Werbefirma stehen sollte, wie einige jetzt vermuten. Dann könnte man den Ärger in der CDU-Zentrale über dieses Video fast schon wieder verstehen.

Ein Blick zurück nach vorn; über die gescheiterte Berufung eines Schauspielintendanten in Köln und die Folgen

Köln und seine Intendanten, das ist so eine Art never ending story, eine Beziehungsgeschichte voller Verwerfungen und Intrigen. Generalmusikdirektoren weigerten sich, mit Intendanten zusammenzuarbeiten, forderten, wie kürzlich geschehen, sogar die Auflösung des Vertrages mit einer erfolgreichen Opernintendantin. Die Stadt erfand seinerzeit den Job eines Geschäftsführenden Intendanten, um den vorhandenen Kaufmännischen Direktor kaltzustellen (2002). Den Vertrag mit einer berufenen Intendantin ließ man vor Jahren (2003) platzen. Die Vorschläge einer hochbesetzten Findungskommission für eine Opernintendanz stampfte man in Grund und Boden (2007), der Oberbürgermeister wischte alles schließlich vom Tisch. Berufen wurde kurzerhand, mehr so aus der Hüfte, der Intendant aus Potsdam, um ihn dann nach etwa drei Jahren Amtszeit mit heftigen öffentlichen Scharmützeln wieder fristlos zu entlassen (2012). Und nun eine gescheiterte Berufung eines Schauspielintendanten. Kann es so weitergehen?

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Was bisher geschah

Vielleicht ist erst einmal ein wenig Aufklärung gefragt, die Licht ins Dunkel bringen kann. Etwa im Frühjahr vergangenen Jahres gab es bei mir aus dem Kulturdezernat in Köln einen Anruf, wie wir Theaterleute ihn zuweilen bekommen. Man suche einen neuen Schauspielintendanten, hieß es, der alte wolle 2021 aufhören, ja habe das sogar schriftlich und auch öffentlich erklärt. Ob ich denn ein paar Namen möglicher Kandidaten und Kandidatinnen nennen könne. Ich habe dann das getan, was ich, wenn es keine Ausschreibung gibt, immer getan habe: Nachgedacht und telefoniert, wer in Betracht kommen könnte. Danach habe ich Köln eine Reihe von Namen genannt, auf die später – nicht überraschend – auch andere gekommen sind. Es kochen ja alle in diesem Geschäft nur mit Wasser.

Der Name des Salzburger Intendanten kam, wie bereits der Deutschlandfunk zu berichten wusste, ins Gespräch, weil die Dezernentin ihn aus Stuttgart kannte. Es hätten da bei mir die Alarmglocken angehen müssen, hat neulich ein Pressevertreter aus Berlin mir entgegengehalten. Das sehr merkwürdige Gespräch zeichnete vor allem der Wille aus, mir soweit wie möglich nicht zuzuhören und unter Beweis zu stellen, dass man es ohnehin besser weiß. Also dachte ich mir nur: Warum sollten auch noch Glocken dazu läuten? So läuft es doch: Jeder, der gefragt wird, nennt Namen, die er kennt. Wie soll man auch Namen nennen, die man nicht kennt. Das ist für normal Sterbliche eher schwierig. Und im Übrigen war ich schon immer dafür, auch in die Intendantensuche für größere Häuser Kandidatinnen und Kandidaten mit einzubeziehen, die einen Stadttheaterbetrieb erfolgreich geleitet haben. So viele, die das dank ihres Talents können, es aber noch nie gemacht haben, gibt es ja nicht. Da sollte man solche, die unter Beweis gestellt haben, dass sie es können, nicht einfach beiseite schieben.

Dann vergingen Monate, von denen ich weiß, dass mit einigen Kandidaten gesprochen wurde. Im November bekam ich einen weiteren Anruf mit der Bitte, doch mit der Kulturdezernentin an Gesprächen teilzunehmen, in denen an der Aufgabe des Kölner Schauspielintendanten Interessierte der Oberbürgermeisterin vorgestellt werden sollten. Man wünsche sich bei diesen Gesprächen einen Teilnehmer, der helfen könne, der Oberbürgermeisterin ein genaueres Bild von den für die Schauspielintendanz in Betracht gezogenen Personen zu vermitteln. Ich habe eine kleine Aufwandsentschädigung erbeten, die mir in Aussicht gestellt wurde, und meine Teilnahme an den Gesprächen in alter Treue zu den Mitgliedern des von mir bis Ende 2016 geleiteten Bühnenvereins  zugesagt. Diese Gespräche verliefen dann in angenehmer Atmosphäre, ergaben auch für die Oberbürgermeisterin interessante Erkenntnisse und endeten mit dem Fazit, man werde weiter nachdenken und mit verschiedenen Personen in der Stadt Kontakt suchen.

Wieder etwa zwei Monate später hieß es, die Stadt habe sich entschieden, Carl Phillip von Maldegehem zum neuen Schauspielintendanten zu berufen. Man wolle nun in einem ersten Termin den Kandidaten persönlich den Vertretern der Ratsfraktionen vorstellen und anschließend der Presse. Auch hier würde man sich über meine Anwesenheit freuen. Bei (sicher nicht auszuschließenden) Nachfragen hinsichtlich der Kriterien für die Intendantenentscheidung könne ich hilfreich zur Verfügung stehen.

Der Termin mit den von den Bürgern der Stadt gewählten Vertretern der Ratsfraktionen und der ebenfalls direkt gewählten Oberbürgermeisterin (Stichwort demokratische Legitimation) verlief dann in guter und aufgeräumter Stimmung. Alle waren angetan von einem Intendanten, der sich, wie er sagte, in erster Linie den Bürgern der Stadt verpflichtet fühle und auch in Köln die Absicht habe, für diese Theater zu machen. Irgendjemand hat kürzlich geschrieben, das machten doch alle Intendanten. Mag sein, stimmt aber dann nicht, wenn sich die Anzahl der Theaterbesuche in manchmal bedenklichen Grenzen hält. Auch die Pressekonferenz lief weitgehend problemlos, wenn man mal von der Äußerung einer Journalistin absieht, die praktisch auf die Frage hinauslief, was denn einer aus der Provinz in Köln wolle. Ich habe mir erlaubt, mit einem Hinweis auf Bernd Wilms zu antworten. Der war als Intendant von Ulm nach Berlin gekommen und hat bekanntlich dort sehr erfolgreiches Theater gemacht.

Was nach der Kölner Pressekonferenz passierte, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Es gab – allerdings fast ausschließlich aus der Theater- und Kulturszene selbst – heftige Kritik an dem Kandidaten und dem Auswahlverfahren, bei der einigen Kritikern offenkundig der Begriff Gürtellinie und deren genaue Position weitgehend aus dem Blick geraten waren. Erst als Carl Philip von Maldeghem entnervt das Handtuch warf, besonnen sich einige vorwiegend außerhalb Kölns der Toleranz und schrieben, man hätte dem Kandidaten doch eine Chance geben können. Aber da war es zu spät. Und mittlerweile ließ sich der jetzige Intendant des Schauspiels Köln mit der Nachricht vernehmen, dass er doch noch länger als bis zum Ende der Spielzeit 2020/21 bleiben könne, was insofern überraschte, als ich stets auf Nachfragen hörte, ihm sei doch die Suche nach einem Nachfolger seit längerem bekannt.

Was aus der gescheiterten Kölner Intendantensuche folgt

Aus meiner Sicht stellen sich nun drei Fragen. Erstens: Welche Fähigkeiten braucht ein guter Intendant? Zweitens: Was ist die Aufgabe von Beratern? Und drittens: Was ist ein richtiges Verfahren?

Die Person

Ich habe bereits vor einiger Zeit, als die Debatte um die Berufung von Carl Philip von Maldegehem begann, in einem Interview mit dem Bonner Generalanzeiger und der Kölnischen Rundschau darauf hingewiesen, was einen guten Intendanten auszeichnet.  Da war der Sache aber schon mit Sachlichkeit nicht mehr beizukommen. Genannt habe ich ein paar Eigenschaften, die ich für selbstverständlich halte: Künstlerisches Augenmaß, künstlerisches Urteilsvermögen, soziale Kompetenz, Leitungskompetenz und Kommunikationstalent. Widersprochen hat mir bisher keiner. Dass Carl Philip von Maldeghem diese Eigenschaften mitbringt, steht für mich außer Zweifel. Das Gegenteil belegt hat bisher auch niemand.

Intendant und Regisseur sind im Übrigen zwei unterschiedliche Berufe. Und Köln sucht keinen Chefregisseur, sondern einen Intendanten. Man hat oft weder dem Theater noch manchem  Regisseur einen Gefallen getan, wenn man ihn zum Intendanten gemacht hat. Gerne werden einem auch immer wieder Namen regieführender Persönlichkeiten zugerufen, von denen man beim Hineinhören in die Betriebe, in denen die betreffende Person tätig ist oder war, nicht gerade Ermutigendes vor allem über deren soziale Kompetenz erfährt. Durch dieses Gemisch an Informationen muss man sich erst einmal erfolgreich hindurch finden. Und man muss die Person finden, die von den oben genannten Eigenschaften das Meiste mitbringt. Welchen Eigenschaften da der Vorzug gewährt wird, das muss die Stadt entscheiden. Ihren Bürgern und nur ihren Bürgern gehört das Theater, nicht irgendwelchen besonders sich hervortuenden Einzelpersonen, schon gar nicht den Medien. Und nach den vielen Intendantenquerelen in Köln ist es verständlich, dass man zurzeit der sozialen Kompetenz sowie der Kommunikationsfähigkeit einen hohen Stellenwert einräumt, aber sicher nicht, ohne die künstlerischen Fähigkeiten unbeachtet zu lassen. Aber wer weiß denn so genau, was ein neuer Intendant mit seinem ja in Köln sehr viel höheren Schauspieletat als in Salzburg künstlerisch auf die Beine stellt. Gute Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen zu engagieren, ist keine Zauberei, vor allem wenn man das Geld dafür hat.

Die Beratung

Damit ist auch klar, was eine gute Beratung bei der Intendantensuche zu leisten hat. Sie ist nicht dazu da, einen bestimmten Kandidaten durchzusetzen. Gerade in diesem Punkt herrscht bei manchem, der als Experte hinzugezogen wird, ein erhebliches Missverständnis. Deshalb ist es so wichtig, sich genau zu überlegen, wen man heranzieht und wie man eine Findungskommission zusammensetzt. Man muss als Rechtsträger ein gewisses Maß an objektiver Beurteilung sicherstellen. Auch in diesem beratenden Gewerbe gibt es sehr subjektive Einschätzungen, zuweilen sogar handfeste subjektive Interessen, die zu fragwürdigen Ergebnissen führen können. Beispiele ließen sich nennen. Ziel der Beratung muss es jedenfalls sein, den Rechtsträger in die Lage zu versetzen, im besten Wissen über die Kandidaten und Kandidatinnen eine Entscheidung zu treffen, um die Person zu berufen, die er in seiner Stadt für richtig hält. Alles andere ist sachwidrig und unqualifiziert.

Das Verfahren

Die Kritik am Intendantenfindungsverfahren in Köln hat insoweit etwas Scheinheiliges, als es sich um ein Verfahren handelt, dass zuletzt in ähnlicher Weise in anderen großen Standorten, auch früher in Köln stattgefunden hat. In Köln wurde es sogar verbindlich festgeschrieben, wie man kürzlich aus dem Mund der Oberbürgermeisterin öffentlich hören konnte. Kritik an solchen Verfahren wurde von denen, die sich jetzt so sehr nach außen auf die Verfahrensfrage kaprizieren, früher nicht geäußert. Dass jemand auf meine Ausführungen, die auf dieser Internetseite schon seit Mitte 2017 zum Thema zu finden sind (siehe „Über die Intendantenwahl“), reagiert hätte, habe ich nicht feststellen können. Nun aber wissen es alle besser, obwohl es offensichtlich ist, dass in der Verfahrensfrage das Ei des Kolumbus bisher kaum gefunden wurde. Mit und ohne Findungskommission sind Intendantenwahlen schon gelungen, aber auch eben weniger gelungen. So fuhr man mit hochbesetzter Findungskommission eine Intendantensuche für die Semperoper in Dresden an die Wand (von Serge Dorny trennte man sich trotz abgeschlossenem Vertrag schon vor Dienstantritt), ohne Findungskommission eine für das Düsseldorfer Schauspielhaus (Staffan Holm gab nach gut einem Jahr auf). Und in Wuppertal wurde für die Suche nach einer Schauspielintendantin einiges Geld für einen Headhunter ausgegeben, ohne dass man diese Methode als erfolgreich bezeichnen kann. Die Intendantin warf nach kurzer Zeit wieder das Handtuch.

Zudem gilt: Je größer ein Haus ist, für das ein Intendant gefunden werden soll, desto größer ist auch das öffentliche Interesse daran. Das macht es so schwierig, weil viele, deren Namen in Betracht käme, bei großen Häusern nichts mehr scheuen, als dass ihr Name zu früh in der Zeitung steht, durchgestochen von jemandem, der genau diesen oder jenen Kandidaten oder eine bestimmte Kandidatin verhindern will. Hat es alles schon gegeben.

Schlussbemerkung

Man sieht, die Dinge sind mal wieder komplizierter, als es sich manch einer, der sich zum leichtfertigen Statement hinreißen lässt, denkt. Das gilt umso mehr, als ein Weg gefunden werden muss zwischen den Interessen des Publikums und den Erwartungen des Feuilletons. Denn keineswegs stimmen diese beiden Positionen stets überein. Das hat ja mittlerweile auch der eine oder andere der kommentierenden Zunft bemerkt. Der Versuch, diesen Weg in Köln zu finden, ist sicher nicht in jeder Beziehung als gelungen zu bezeichnen. Aber der größte Schaden wurde aus meiner Sicht dadurch angerichtet, dass die Chance, einen Intendanten zu berufen, der mit einer Leitungserfahrung in einem größeren Privattheater eine andere Vita hat als bei Schauspielintendanten großer Häuser üblich, durch Voreingenommenheit und zum Teil unsachliche Kritik an Person und Verfahren vertan wurde. Das ist bedauerlich. Denn wer den Stand der Schauspielkunst in Deutschland beobachtet, kann wahrlich nicht behaupten, dass für das Publikum, um das es ja geht, das Feld zur vollen Zufriedenheit bestellt ist. Mal etwas anders zu wagen, wäre eine gute Alternative gewesen.

Über die künstlerische Freiheit öffentlicher Kultureinrichtungen

Die CSU erregt sich über den Aufruf der Münchener Kammerspiele und ihres Intendanten Matthias Lilienthal zur Demonstration gegen den Rechtsruck hierzulande, die im Juli unter dem Titel „#Ausgehetzt“ in München mit Beteiligung von Zigtausenden von Menschen stattfand. Der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet sagt seine Teilnahme an Veranstaltungen der durch das Land NRW wirtschaftlich und indirekt auch organisatorisch getragenen Ruhrtriennale ab, weil dort die Band „Young Fathers“, die sich zur israelkritischen BDS-Bewegung bekennt, auftreten sollte (und nun gar nicht auftritt). Das wirft Fragen nach der Freiheit der Kunst öffentlicher Kulturinstitutionen auf. Was dürfen sie, was nicht, ist zu klären.

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Eigentlich ist eine öffentlich getragene Kultureinrichtung wie etwa ein Stadt- oder Staatstheatertheater, ein städtisches Sinfonieorchester oder Museum ein Fremdkörper. Zum einen ist sie öffentlich organisiert, meist als Regiebetrieb, also als Teil der öffentlichen Verwaltung, oder als eher selbstständiger, aber dennoch städtischer Eigenbetrieb bzw. als öffentlich getragene GmbH. Zum anderen produziert sie Kunst, genießt also den Schutz eines eigentlich gegen den Staat gerichteten Freiheitsrechts, hier des Rechts der Freiheit der Kunst. Dieses Grundrecht erfährt durch Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz eine besondere Stärkung. Es kann nicht einmal, wie es bei anderen Grundrechten möglich ist, durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden, ist also ein sogenanntes schrankenloses Grundrecht. Dementsprechend muss die künstlerische Freiheit nur zurückstehen, wenn kollidierendes Verfassungsrecht, das schützenswerte Grundrecht eines anderen oder andere wichtige Güter von Verfassungsrang das gebieten.

Dieses Spannungsverhältnis wird in der Regel dadurch aufgelöst, dass dem künstlerischen Leiter der öffentlichen Kultureinrichtung die Befugnis eingeräumt wird, künstlerische Entscheidungen autonom zu treffen. Für den Intendanten eines Theaters (oder Theaterfestivals) bedeutet das, dass er vor allem über den Spielplan, die engagierten Künstler und die Besetzung von Rollen frei entscheiden kann. Der öffentliche Träger hat keine Möglichkeit, in diese Entscheidungen einzugreifen, und darf eine solche auch nicht haben. Alles andere wäre mit Artikel 5 Grundgesetz nicht zu vereinbaren. Zudem liegt gerade in der freien künstlerischen Gestaltungsmöglichkeit der Reiz für das Publikum.

Die Auseinandersetzung um die Einladung der „Young Fathers“ durch die Ruhrtriennale bewegt sich genau in diesem Bereich. Diese Einladung ist zunächst eine künstlerische Entscheidung der Intendantin, eine Entscheidung, die von verschiedenen Überlegungen getragen sein mag. Sie ist durchaus wegen des Engagements der Band für die israelkritische BDS-Bewegung diskussionsbedürftig. An dieser Diskussion kann sich selbstverständlich auch der Ministerpräsident des Landes NRW beteiligen. Und er sollte das sogar tun.  Mit der Entscheidung, die Ruhrfestspiele wegen der Einladung der Band nicht zu besuchen, schießt Laschet jedoch über das Ziel in zweifacher Hinsicht hinaus. Einmal übt er damit als Träger der Triennale öffentlichen Druck auf die Intendantin aus, was angesichts des oben beschriebenen Spannungsverhältnisses zwischen staatlicher Trägerschaft und Freiheit der Kunst äußerst fragwürdig ist. Außerdem rückt er die Leitung des Festivals mit dem von ihm gebrauchten Antisemitismus-Argument in die eine Ecke, wo sie nun beileibe nicht hingehört. Zwar ist die Entscheidung Laschets juristisch nicht zu beanstanden, weil sie nicht rechtlicher Natur ist. Sie lässt aber leider mangelndes Verständnis für die künstlerische Freiheit und für eine offene Debattenkultur vermissen. Diese Kultur zu pflegen ist aber gerade auch angesagt, wenn es um das Verhalten und die Einstellung von Künstlern jenseits ihres künstlerischen Schaffens geht. Kunst und Künstler bedürfen der Diskussion, Auftrittsverbot oder Auftrittsboykott müssen die auf extreme Fälle beschränkte Ausnahme bleiben.

Schwieriger ist die juristische Beurteilung schon bezogen auf die Münchener Kammerspiele und die Mitunterzeichnung des Aufrufs zur Demonstration „#Ausgehetzt“. Denn hier geht es zunächst nicht um eine künstlerische Entscheidung des Intendanten. Hier geht es vielmehr um die Frage, wie weit die dem Theater und seiner Leitung zustehende Kunstfreiheit reicht, wenn es um Meinungsäußerungen unterschiedlicher Art geht. In der Diskussion der vergangenen Jahre hat das vor allem eine Rolle in der Debatte vor Ort über eine von dem jeweiligen Theaterträger in Aussicht genommene oder sogar beschlossene Kürzung der öffentlichen Zuschüsse gespielt. Darf das Theater öffentlich dagegen Stellung beziehen, ja den Träger sogar scharf kritisieren oder gebietet es die Loyalität zum eigenen Träger, diese Debatte hinter verschlossenen Türen zu führen, wie mancher Oberbürgermeister immer wieder forderte? Hier lautet die eindeutige Antwort: Der Intendant darf sich in dieser Frage deutlich öffentlich positionieren, zumal die meisten Intendantenverträge den Passus enthalten, dass der Intendant  das Theater „nach außen vertritt“.

Doch der Demonstrationsaufruf geht weiter als eine Kritik an der Theaterpolitik des Trägers. Öffentliche Kultureinrichtungen, vor allem Theater, sind aber nun einmal öffentliche Diskursräume. Sie werden bewusst von der öffentlichen Hand vorgehalten und finanziert, um zur Meinungsbildung der Bevölkerung beizutragen. Daraus ergibt sich bis zu einem gewissen Grad das Recht und die Pflicht, politisch Position zu beziehen, vor allem, wenn es um Demokratie, Menschenrechte und ähnlich wichtige Rechtsgüter geht. Wo die Grenze liegt und wo sie überschritten wird, ist eine Frage des Einzelfalls. Im Falle des Demonstrationsaufrufs der Münchener Kammerspiele kann eine solche Grenzverletzung kaum angenommen werden. Der Demonstrationsaufruf benennt zum einen als Zielsetzung eindeutig die demokratische Grundordnung, Bildung und Aufklärung, die Einhaltung von Menschenrechten, den gerechten Welthandel, die Behebung der Wohnungsnot und die Gleichberechtigung.  Zum anderen wurde die augenblickliche Leitung der Münchener Kammerspiele eindeutig mit dem Wunsch nach einer stärkeren politischen Positionierung des Theaters berufen. Schon gleich zu Beginn der Intendanz realisierte Lilienthal diesen Auftrag mit seinem urbanen Projekt der „ShabbyShabby Apartments“, das gegen den überhitzten Münchener Wohnungsmarkt ein Zeichen setzte.

Die kurze Analyse zeigt, die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut, gibt auch öffentlich getragenen Kultureinrichtungen einen erheblichen Freiraum und sollte sorgsam behandelt werden. Es ist ein Stück einer gelebten Demokratie, die es offenkundig mehr denn je zu verteidigen gilt.

Was tun? Politik, Moral und Kultur

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete einst Heinrich Heine. Das war in den Zeiten des vorrevolutionären Deutschlands. Aber auch heute könnte der Satz kaum treffender sein: Diesel-Krise, Flüchtlingspolitik und eine aus den Fugen geratene CSU, die Gefahr geschlossener Grenzen, neue Zölle und jetzt auch noch ein Ausscheiden aus der Fußballweltmeisterschaft. Doch es gibt auch ermutigende Zeichen, nicht nur in den Theatern.

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Man vermag es ja alles nicht zu glauben, was die morgentliche Zeitungslektüre so zu Tage fördert. Wer das zu beschreiben sucht, weiß ja schon fast nicht mehr, wo er anfangen soll. Eigentlich ist es auch egal, will man die moralische Krise hierzulande begreifen. Es reicht schon der Blick zu VW und Audi. Da wird der Vorstandsvorsitzende von Audi verhaftet, weil er, so heißt es, Zeugen zu beeinflussen suchte, die seine frühe Kenntnis von der Diesel-Schummelei, die eben ein Betrug ist, bezeugen könnten. Ich habe mich schon seinerzeit, als bekannt wurde, wie mit zweifelhaften Aktivitäten Arbeitnehmervertreter gefügig gemacht wurden, gefragt, welche ethischen Standards denn eigentlich im VW-Konzern noch gelten. Was aber den Konzern zu einem planmäßigen Vortäuschen falscher Tatsachen mit dem Risiko eines Milliardenschadens veranlasst hat, bleibt nicht nur moralisch völlig unverständlich. Es ist auch schlicht das, was man gemeinhin als Geschäftsschädigung bezeichnet. Da scheinen bei den Verantwortlichen ein paar Sicherungen durchgebrannt zu sein.

Über die CSU

Womit man nahtlos zur CSU übergehen kann. Auch da scheint ja zeitweise jede Sicherung außer Kraft gesetzt zu sein. Man kann die Angst in Bayern vor einem Wahlerfolg der AfD nachvollziehen, niemand kann ihn sich wünschen. Aber wieso glaubt die CSU, sie könne einen solchen Wahlerfolg der AfD verhindern, indem sie genau deren Standpunkte fast blind nachplappert, bedauerlicherweise einschließlich des völlig inakzeptablen und unerträglichen Vokabulars. Im Zweifel wählt der Wähler doch das Original, auch rechts der Mitte. Zudem ist auch Bayern vorwiegend ein offenes, tolerantes Land, das christlich geprägt ist. Die dort lebenden Menschen haben nicht völlig den Verstand verloren. Sie werden außerdem hoffentlich wissen, was eine geschlossene Grenze zu Österreich wirtschaftlich und persönlich für sie bedeutet. Und sie werden dann auch wissen, dass die eigentliche Gefährdung unseres Gemeinwesens nicht von den Flüchtlingen ausgeht, sondern von den Rechtspopulisten, einschließlich solchen Regierungsverantwortlichen, die ohne Realitätssinn die Welt immer tiefer in einen Dauerkonflikt stürzen. Ja, auch von Herrn Trump ist hier zu sprechen.

Trump und TTIP

Der amerikanische Präsident treibt mit seiner Klimapolitik, mit seiner Haltung im Irankonflikt, aber auch mit seinen Zöllen fast alle zur Weißglut. Wir Kulturleute müssen uns jetzt schon die Frage gefallen lassen, ob der Widerstand gegen TTIP wirklich richtig war. Wäre es nicht besser gewesen, das Abkommen wäre zustande gekommen und wir hätten erfolgreich anderweitig versucht, die möglichen negativen Auswirkungen auf den Umweltschutz, den Verbraucherschutz und die Kulturfinanzierung zu verhindern. Schließlich leben wir in Europa, einer der größten und bedeutendsten Freihandelszonen der Welt, ohne dass das unseren gehobenen politischen Maßstäben ernsthaft Schaden zugefügt hätte, im Gegenteil. Jetzt kann Trump die deutsche Wirtschaft mit seiner Zoll- und Boykottpolitik erheblich in Schwierigkeiten bringen, was der Kulturfinanzierung hierzulande nicht helfen wird. Und was es politisch für eine Bedeutung hat, dass nun deutsche Unternehmen aus Angst vor nachteiligen Folgen ihres USA-Geschäfts sich in mancher Hinsicht auf Trumplinie begeben, kann noch keiner absehen. Ein offener Welthandel ist wichtig, weil er ein Gegengewicht zu einer verstiegenen, spießigen Politik eines engstirnigen Nationalismus ist. Wir sollten deshalb alle ein Interesse daran haben, ihn zu fördern.

Die Fußballweltmeisterschaft

Das Ausscheiden aus der Fußballweltmeisterschaft ist natürlich vergleichsweise harmlos. Fragen kann man aber, ob die Schwierigkeiten, die (nicht nur) in der deutschen Mannschaft festzustellen waren, ausschließlich sportlicher Natur sind. Oder haben vielleicht so wie VW, Teile der CSU und Trump auch einige Fußball-Funktionäre, Vereine, gar Spieler jegliches Maß und jegliche Mitte verloren? Es ist dem Sport auf Dauer nicht zuträglich, wenn er zu einem großen Geschäft wird und er vor Korruption, hemmungslosen Geldgeschäften und gesundheitlicher Gefährdung der Athleten keinen Halt mehr macht. Von aus den Fugen geratenen Fankurven mal ganz abgesehen. Auch hier könnte mehr Vernunft nicht schaden.

Das Theater

Und nun kommt das Theater als heilende Instanz? Es ist ja nach Schiller eine moralische Anstalt, lassen wir mal dahingestellt, ob es immer diesen Ansprüchen genügt. Aber es ringt zumindest um diese Rolle, schaut man sich nur an, wie sehr man vielerorts bemüht ist, im Sinne der Humanität für Aufklärung zu sorgen.

So haben die Münchener Kammerspiele etwa mit ihrer jüngsten Produktion „What they want to hear“ dem Zuschauer nicht nur eindringlich geschildert, was es heißt, in Deutschland ein Asylverfahren zu durchlaufen. Anhand des real auf der Bühne stehenden Raaed Al Kour, eines syrischen Flüchtlings, der seit über vier Jahren in Deutschland auf eine gerichtliche Entscheidung über seinen Asylantrag wartet, wird vielmehr auch deutlich, wie es wäre, wenn wir einen Flüchtling, nur weil er schon in einem anderen europäischen Land Schutz genießt, in dieses Land abschieben könnten. An diesem Theaterabend werden Videoaufnahmen gezeigt von den Willkommensbekundungen aus den ersten Tagen der in Deutschland ankommenden Flüchtlingsbewegung, Bilder, die einen fragen lassen, wie es in so kurzer Zeit zu einem derartigen Stimmungswandel kommen konnte, wenn man diese Bekundungen mit den heutigen Debatten vergleicht. Hier ließe sich vieles kritisch anmerken, vor allem zur Rolle der Medien, insbesondere hinsichtlich der vom Kulturrat zurecht gescholtenen Talkshows.

Oder das Bonner Stadttheater, das mit der Oper „Oberst Chabert“ die Geschichte eines Kriegsheimkehrers erzählt, der seine Identität nicht nachweisen kann, von der Gesellschaft, der er einst erfolgreich angehörte, deshalb nicht mehr aufgenommen wird und sich schließlich umbringt. Dieses Schicksal aus der Perspektive des Hier, also nicht eines Flüchtlings, erzählt lässt den Zuschauer umso deutlicher nachfühlen, was es bedeutet, irgendwo anzukommen, ohne jegliche Identität, ohne menschliche Zuwendung, ohne jegliches Gefühl der Integration. „Oberst Chabert“ ist im übrigen nicht die einzige Oper, in Bonn, die auf diese Weise aktuelle Fragen artikuliert. Schon „Echnaton“ wurde als die Geschichte einer Schülerin erzählt, die dem IS verfällt, und „I due Foscari“ als Beispiel für die zerstörerische Kraft der Medien, siehe oben. Und wenn das Bonner Contra-Kreis-Theater, ein Privattheater, die Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz „Willkommen“ spielt, ein Stück über eine Wohngemeinschaft, in die vorübergehend ein Flüchtling einziehen soll, dann hilft das auch, zu verstehen, worum es in der Flüchtlingsdebatte geht.

Die wahren Helden des Alltags

Doch die wahren Helden sitzen eigentlich noch woanders. Zum Beispiel Jaqueline Flory. Sie hat in München eine Initiative ins Leben gerufen, mit der in Flüchtlingslagern des Libanon Zeltschulen aufgebaut und unterhalten werden. Mit ihren eigenen Kindern ist sie dort selbst regelmäßig vor Ort. Das ist ein Engagement, das Mut machen kann, auch alle denen, die nicht ganz zu Unrecht glauben, dass man alles tun muss, um die Gründe für Menschen in Afrika, ihr Land zu verlassen, zu minimieren.

„Aus Fehlern lernen!“ Über die Kulturpolitik der SPD

Die SPD hat kürzlich eine Analyse ihres Bundestagswahlkampfs veröffentlicht. Diese Analyse trägt den bemerkenswerten Titel „Aus Fehlern lernen“. Das Kapitel 12 der Studie befasst sich mit der Frage, wo denn die geblieben sind, die in früheren Zeiten die SPD tatkräftig unterstützt haben, und macht als fehlende Gruppe auch die der Kulturschaffenden aus. Im Fazit diese Abschnittes wird gefordert, die Kontakte zu diesen, auch zu den Intellektuellen, in Zukunft regelmäßig zu suchen und zu pflegen. Aber reicht das?

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Wer schon etwas älter ist, wird sich erinnern: Es gab einmal eine Zeit, in der sich Kultur und SPD mehr als nahe standen. Das war vor allem die Zeit des Bundeskanzlers Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung 1969 alle Intellektuellen des Landes aufhorchen ließ mit dem Satz „Die Schule der Nation ist die Schule“. Damit suchte er nicht nur den alten Militarismus, der das Militär als Schule der Nation sah, abzustreifen, sondern betonte auch die politische Priorität der Bildung für alle. Das waren noch Zeiten! Daran anknüpfend formulierte der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann später den Slogan der „Kultur für alle“. Damals existierte eine Wählerinitiative der SPD, in der sich Schriftsteller wie Günter Grass und Heinrich Böll engagierten und die ein Forum für den intellektuellen Austausch zwischen Politik und Kultur bot. Nie werde ich beispielsweise die engagierten Debatten vergessen, die dort über den Neubau des neuen Bonner Bundestags geführt wurden. Und auch zu den Zeiten des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, mit denen es man ja links der Mitte nicht immer leicht hatte, war das Verhältnis immerhin so, dass 1981, also in seiner Regierungszeit, das Künstlersozialversicherungsgesetz verabschiedet wurde. Es bot erstmalig selbstständig tätigen Künstlern und Publizisten eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung, die bis heute national und international hoch geschätzt wird.

Aus dieser kurzen Beschreibung lassen sich bereits drei Anforderungen ableiten: Erstens geht es nicht nur um Kontaktpflege, sondern um einen inhaltlichen, breit und auf Dauer angelegten Diskurs zwischen der Politik und der Kulturszene. Zweitens muss man eine Politik machen, die die Kultur, das intellektuelle Klima im Lande stärkt und unterstützt. Und drittens müssen die Kulturschaffenden, die Intellektuellen an einem politischen Diskurs interessiert sein. An allen drei Voraussetzungen hat es in den letzten Jahren wohl eher gefehlt. Trotz mancher Begegnung, etwa in der Akademie der Künste, war doch eher eine gewisse politische Abstinenz der Kulturszene festzustellen. Man mokierte sich lieber über die politischen Zeitläufte als sich einer täglichen Debatte zu stellen. Das fiel um so leichter, als manches Treffen, das die Politik, auch die SPD organisierte, als das empfunden wurde, was es war, nämlich ein Bemühen um einen Kontakt, der dann besonders als gelungen galt, wenn man sich mit bekannten Namen aus Kunst und Kultur zu schmücken wusste. Doch das Entscheidende ist wohl das zu häufige Fehlen einer Politik im Sinne des geistigen Schaffens. Es fand sogar manches in der Kulturpolitik der SPD statt, was den Interessen von Kunst und Kultur diametral entgegenstand.

Man kommt nun nicht umhin, hier einige Worte über die Sparpolitik der letzten Jahre zu verlieren. Öffentliche Zuschüsse für Theater, Museen, Orchester wurden vielerorts, auch in seitens der SPD regierten Kommunen und Ländern, gekürzt oder zumindest eingefroren. Personalabbau, Gehaltsverzicht, Arbeitsverdichtung und Einschränkungen im künstlerischen Programm waren die Folge, wobei die Theater und Orchester nahezu als Einzige im öffentlich finanzierten Bereich Haustarifverträge mit Vergütungskürzungen vereinbarten. Ein für Kultur zuständiger, der SPD angehörender Minister in Sachsen-Anhalt kürzte die Mittel für die Landesbühne Eisleben in existenzgefährdender Weise, verbot ihr sogar, sich weiter Landesbühne zu nennen, und überließ es der AfD, sich für dieses Theater einzusetzen. In Mecklenburg-Vorpommern weigerte sich der SPD-Kulturminister über Jahre, die Zuschüsse für die kommunalen Theater und Orchester zu erhöhen und brachte damit sowohl die Betriebe als auch die sie tragenden Kommunen an den Rand der Verzweiflung; es ist gut, dass die Ministerpräsidentin der SPD, Manuela Schwesig, dem nun ein Ende bereitet hat. In Bonn verordneten die sozialdemokratischen Oberbürgermeister dem Theater einen Sparkurs ohnegleichen, um am Ende von der völlig sinnlosen Fusion des Bonner Opernhauses mit der Kölner Oper zu schwadronieren. Das alles versteht kein Kulturschaffender, aber auch kein kulturinteressierter Bürger, erst recht nicht angesichts der Tatsache, dass es auch andere Beispiele gibt. Der seinerzeitige Hamburger Erste Bürgermeister etwa gewann für die SPD nicht zuletzt die Wahl dadurch, dass er der katastrophalen Kulturpolitik seines der CDU angehörenden Vorgängers entgegentrat.

Und wie sieht es in der Gesetzgebung aus? Kein SPD-Arbeitsminister, auch nicht Olaf Scholz, schaffte es in den Zeiten der großen Koalition das Problem des Arbeitslosengeldes für im Kulturbereich besonders häufig kurzfristig Beschäftigte wirklich zu lösen. Denn deren Anzahl ist allein in den Stadttheatern während der letzten 25 Jahre von 8.000 Verträgen auf fast 28.000 Verträge gestiegen. Im Urheberrecht wird immer wieder die Notwendigkeit heruntergebetet, die Künstler und Kreativen vor unerlaubter Nutzung ihres Schaffens zu schützen, ohne dass man bis heute einen vernünftigen, praktikablen Ausgleich zwischen den Urheberinteressen und den Verwerterinteressen zustande gebracht hat. Obwohl beispielsweise alle darstellenden Künstler und alle Veranstalter gerne mit Aufzeichnungen ihrer Arbeit im Netz werben, fehlt es bis heute an einer dringend notwendigen entsprechenden Schrankenregelung. Und über die schwierige bildungspolitische Situation, also die Lage von Schulen und Universitäten, könnte auch noch manches schlechte Beispiel für eine verfehlte Politik hinzugefügt werden, nicht zuletzt die Versäumnisse angesichts eines zum Teil katastrophalen baulichen Zustands der Gebäude.

Was tun? Es lohnt sich in mancher Hinsicht, nach Frankreich zu schauen. Was immer man über Macron denken mag, er macht auch Fehler, aber er hat mit seinem engagierten proeuropäischen Kurs und dem darauf aufbauenden Wahlkampf einen Enthusiasmus auch bei vielen Intellektuellen hervorgerufen, wie es seinerzeit Willy Brandt mit seiner Ostpolitik geschafft hat. Man darf es also nicht vergessen: Als Grundlage für eine die Menschen begeisternde Politik, die der auf Angst und Ressentiments setzenden Politik der Rechtspopulisten entgegentritt, braucht man zukunftsweisende Ideen, auch solche der Hoffnung. Die können nur mit der Kultur hierzulande, nicht gegen sie entwickelt und durchgesetzt werden. So war es auch in den 1970er Jahren. An dieser Stelle schläft man rechtsaußen im Übrigen nicht. Die Nichte von Marie Le Pen, der Vorsitzenden des Front National, heute Rassemblement National, Marion Maréchal, hat gerade in Lyon das Institut des sciences sociales, economiques et politiques gegründet, das vor allem dazu dienen soll, rechte intellektuelle Kräfte zu sammeln, um so der geistigen Vorherrschaft der Linken in der französischen Politik entgegenzutreten.

Man sieht gerade daran, dass es höchste Zeit wird, auf die linken und aufgeklärten Kreise in Europa, auch in Deutschland zuzugehen. Will das die SPD nicht anderen überlassen, muss sie mehr ändern als ihre Kontaktpflege. Sie muss sich an die Spitze einer Bewegung des Europäischen Fortschritts, der Freiheit, der Gewaltlosigkeit, des Sozialen Ausgleichs, des inneren und äußeren Friedens und einer von Humanität geprägten Welt setzen. Ohne die, die für Kunst und Kultur, für Wissen und Bildung in unserem Lande stehen, wird ihr das nicht gelingen. Und auch nicht ohne eine allerorten den Künsten zugewandte Kulturpolitik.

Kommunale Kulturpolitik, aber was macht Bonn?

Die Stadt Bonn ist eine der wichtigsten und erfolgreichsten Städte in NRW. Während jedoch die meisten Kommunen hierzulande die Bedeutung der Künste für ihr städtisches Leben schon lange bemerkt haben, taumelt die alte Bundeshauptstadt von einem kulturpolitischen Debakel ins andere. Die Frage ist, wie es weitergehen soll.

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Erst leistet sich Bonn eine jahrelange Debatte über den schon früh als aussichtslos erkennbaren Neubau einer angeblich vollständig privat finanzierten Konzerthalle. Nicht zuletzt dadurch verzögert sich die nun begonnene Renovierung der vorhandenen und durchaus bewährten, unter Denkmalschutz stehenden Beethovenhalle so, dass sie nunmehr für das 2020 zu feiernde Beethovenjubiläum nicht mehr fertig wird. Dennoch will man sich als Geburtsstadt Beethovens feiern und nennt sich stolz „Beethovenstadt Bonn“. Frei nach dem Motto „Event statt Nachdenken“ hadern Teile der Stadt mit der erfolgreichen intellektuellen und künstlerischen Profilierung des Beethovenfests durch die jetzige Festspielleiterin. Die Renovierung des städtischen Opernhauses und der als Schauspielhaus fungierenden Kammerspiele wird vor sich hergeschoben, weil man plötzlich die Überlegung anstellt, ein neues Theater zu bauen, möglichst, wie einige schon wieder fordern, mit neuer Konzerthalle. Gleichzeitig plant die Stadt spätestens 2023 den laufenden Etat des Stadttheaters um weitere jährlich 3,5 Millionen Euro zu kürzen. Nun hat ein Gutachten dem ohnehin schon finanziell durch die bisherigen Kürzungen der städtischen Mittel bedrängten Theater bestätigt, dass da praktisch nichts mehr an Einsparungen zu holen ist, wolle man nicht das Niveau des künstlerischen Angebots herunterfahren. Und was passiert? Erst einmal nichts außer etwas merkwürdige Reaktionen.

Schon vor einiger Zeit war zum Gutachten aus Kreisen der CDU in dieser Stadt zu hören, dann lasse sich das bisherige Niveau eben nicht halten. Jetzt lässt sich die Bonner Jamaika-Koalition mit der schwammigen Ankündigung vernehmen, man wolle das Gutachten ergebnisoffen diskutieren. Einige reden von der Schließung der Sparte Schauspiel, nachdem die Sparte Tanz schon vor einigen Jahren einem Gastspielbetrieb geopfert wurde. Die in eine neue Konzerthalle etwas vernarrte SPD lobt sich mit ihrer Haltung, ohnehin gegen eine umfassende Renovierung der Beethovenhalle gewesen zu sein, um jedenfalls pünktlich zum Beethovenjubiläum fertig zu werden. Alles klingt ein wenig wie in Absurdistan.

Wann, so fragt sich der erstaunte Kulturmensch, begreift diese Stadt endlich, dass vor allem eine intakte Infrastruktur vonnöten ist, um sich mit dem Titel „Beethovenstadt“ als Kulturstandort in Konkurrenz mit anderen Städten profilieren zu können? Dazu braucht es zunächst funktionstüchtige Gebäude, wie sie andernorts selbstverständlich existieren oder (wieder)hergestellt werden. Man schaue nur nach Heidelberg, Augsburg, Dresden oder Oldenburg. Dazu braucht es eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Künste durch die Stadt, und zwar des Stadttheaters, der Museen wie auch der freien und privaten Kulturszene. Dazu braucht es ein profiliertes Beethovenfest. Und dazu braucht es ein Ende der lähmenden Kulturzukunftsdebatten sowie eine Kulturpolitik, die die Stadt strahlen und glänzen lässt, statt sie ständig mit neuen Querelen öffentlich herunter zu reden. Natürlich kann man auch etwas neu bauen, aber nur, wenn man vernünftig plant, realistisch die Kosten kalkuliert und weiß, welche Gebäude man wirklich für die Künste, für das Musikleben braucht und welche nicht. Von diesem Wissen scheint man in Bonn leider immer noch weit entfernt zu sein.

Was wir aus dem Rücktritt von Chris Dercon lernen können.

Chris Dercon hat sein Amt als Intendant der Volksbühne Berlin aufgegeben. Kaum jemanden wird das überrascht haben. Überrascht hat allenfalls, wie Hals über Kopf es geschah. Der Vorgang wirft Fragen auf, auch solche, die bisher, soweit ersichtlich, nicht diskutiert werden.

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Kaum war Chris Dercon zum neuen Intendanten der Volksbühne Berlin berufen, regten sich die Widerstände. Es waren teils die Widerstände derer, die den ewigen Frank Castorf wollten, aber auch der üblichen Verdächtigen, die immer gegen alles sind, und von Kulturinteressierten, die sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft der Volksbühne machten. Schnell stellte sich heraus, dass vor allem eines geschehen war: Die – wie der jetzige Rücktritt – ebenso Hals über Kopf getroffene Entscheidung der Bestellung war von der Politik, konkret vom damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner, weder durchdacht und angemessen vorbereitet noch ausreichend kommuniziert worden. Man glaubte, das werde ein Selbstläufer. Und das Schlimmste war, dass Dercon es offenkundig auch selbst glaubte.

Damit stand das Ergebnis fest, bevor es überhaupt richtig losging. Dercon konnte nur scheitern, es sei denn, er hätte alles anders gemacht, als es die, die ihn berufen hatten, erwarteten. Er hätte sich also in den Theaterbetrieb stürzen müssen, wie es jeder tut, der als Intendant ein deutsches Stadt- oder Staatstheater übernimmt. Selbstverständlich hätte das bedeutet, dass es zu einem weitgehenden Umbau des Ensembles hätte kommen müssen, was schon genug Empörung ausgelöst hätte. Denn immer noch ist vielen nicht klar, dass der Austausch größerer Teile des künstlerischen Personals beim Intendantenwechsel der Weg ist, ein auf das gewisse Maß an Kontinuität verpflichtetes Ensemble-Theater vor der künstlerischen Erstarrung zu bewahren. Dercon hätte zur Spielzeiteröffnung ein Eröffnungswochenende präsentieren müssen mit zwei oder drei Neuinszenierungen, die seine künstlerische Handschrift hätten erkennen lassen und die der erste Grundstock für sein neues Repertoire hätten sein können und müssen. Aber nichts dergleichen. Man hatte ja auf Seiten der Politik die Vorstellung, das Stadttheater mal wieder neu zu erfinden, und glaubte, da sei jemand wie Dercon, aus Belgien kommend, einem Land mit einem anderen Theatersystem, genau der Richtige. Das ist jetzt nicht das erste Mal schief gegangen.

Nach wie vor gibt es in Teilen der Politik, aber auch in den Kreisen der Kulturschaffenden, solche, die glauben, man müsse das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater einer Art Rosskur unterziehen, dann entstehe etwas völlig Neues und künstlerisch weitaus Interessanteres. Das glaubte wohl auch Tim Renner. Und vielleicht hatten ihn einige in Berlin darin auch bestärkt. Um namhafte Kritiker des hierzulande üblichen (großartigen) Theatersystems zu finden, muss der Berliner ja nicht einmal seine Stadt verlassen. Wer aber Belege für die These sucht, es gelinge bei anderer Organisation des Theaterbetriebs künstlerisch alles oder auch nur einiges besser, wird es nicht leicht haben, vor allem nicht, wenn er sich fragt, was das denn für die soziale Lage der Künstler bedeutet. Über die wird ja gerade jetzt berechtigterweise viel diskutiert.

Indem trotzdem immer wieder Intendanten ernannt werden, die von der sie berufenden Politik künstlerisch mit falschen und unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden, tut man nicht nur dem Theater keinen Gefallen. Man verheizt auch hervorragende Künstlerpersönlichkeiten auf unverantwortliche Weise. Zwar liegen alle Fälle anders. Aber der Rückzug von Matthias Lilienthal bei den Münchener Kammerspielen oder der von Staffan Holm seinerzeit beim Düsseldorfer Schauspielhaus sind zumindest ähnlich gelagert. Und auch die Stadt Trier hatte völlig falsche Vorstellungen von ihrem Theater, als sie den dann scheiternden Karl M. Sibelius zum Intendanten machte.

Schon ist wieder davon die Rede, am Stadttheater seien Experimente zum Scheitern verurteilt. Nichts ist abwegiger als das. Denn um Experimente geht es hier nicht, schon gar nicht um solche künstlerischer Art. Die sind am Stadttheater jederzeit möglich und finden statt. Wer Augen hat zu sehen, wird sie wahrnehmen. Nicht zuletzt für diese Experimentierfreudigkeit wird das deutsche Stadttheatersystem im Ausland bewundert. Sie darf man nicht verwechseln mit Systemfragen, die im Mantel künstlerischen Neuanfangs daherkommen. Vor solchen Fehleinschätzungen sind alle zu warnen, die Politiker genauso wie die, die sich zum Intendanten wählen lassen.

Zurück zu Dercon. Nun ist er abgetreten. Den letzten Kick zu dieser Entscheidung gaben wohl die von einem Rechercheteam bestehend aus Süddeutscher Zeitung und zwei ARD-Anstalten zutage geförderten Erkenntnisse, auch finanzieller Natur. Rechercheteam klingt immer gut. Selbst wenn das sicher den Medien nicht vorzuhalten ist, sie haben ihre der Aufklärung verpflichteten Aufgaben, irgendjemand muss die internen Informationen preisgegeben haben. Und derjenige konnte doch nur zwei Ziele verfolgen: Dass Dercon geht und das die, die ihn berufen haben, schlecht dastehen. Ziel erreicht, lässt sich da nur abschließend feststellen.

Putin, die Russen und die Kunst, das VI. Cultural Forum in Sankt Petersburg

Zum sechsten Mal fand Mitte November das Cultural Forum in Sankt Petersburg statt, mit vielen russischen Kulturschaffenden und internationalen Gästen aus den unterschiedlichen Sektionen. Theater, Musik, Ballett, Film, Museum und vieles mehr sind Thema dieser groß angelegten Konferenz, die aber international kaum Beachtung findet, auch nicht in Deutschland. Immerhin gab sich auch diesmal der russische Präsident Vladimir Putin selbst die Ehre und sprach bei der öffentlichen Gala ein Grußwort. Hier ein Bericht von einem Besuch mit unterschiedlichen Eindrücken.

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Die Reise beginnt mit Hindernissen. Nicht nur ein verpasster Hinflug, vielmehr ist schon Wochen vorher ein Visum zu besorgen. Dazu waren Krankenversicherungs-bescheinigung und Einkommensnachweis erforderlich. Man kommt ohne Geld also nicht nach Russland. Wieso ich schon ein Visum ab dem Mittwoch wolle, der Kongress beginne erst am Donnerstag, werde ich noch gefragt. Ja, aber man müsse doch noch anreisen, erlaube ich mir festzustellen, schließlich erreiche man Petersberg ja nicht wie den nächsten Supermarkt mit dem Fahrrad. Erkennbar ist mein Gegenüber etwas erstaunt über diese Bemerkung, lächelt mir aber den Satz zu, es gehe schon alles in Ordnung. Das Visum wird dann wie gewünscht ausgestellt, aber nur, nachdem man erst einmal seinen Reisepass für eine Woche vertrauensvoll der Visastelle der Russischen Föderation überlassen hat. Die Ausstellung des Visums für den Vortag der Konferenz erweist sich später als segensreich. Eine Kollegin, die auch zur Konferenz will, muss bei der Einreise nach Russland eine halbe Stunde im Petersburger Flughafen ausharren, bis es 24 Uhr Ortszeit ist. Erst dann darf sie einreisen, weil ihr Visum erst ab dem neuen Tag gilt. So sieht der europäisch-russische Alltag leider heute aus.

Der Auftakt

In Petersburg angekommen werden die Gäste des Forums dennoch mit einer Limousine aus württembergischer Herstellung abgeholt, trotz aller europäischen Wirtschaftssanktionen. Immerhin ist es schon nach Mitternacht, als wir das Hotel erreichen. Und doch werden wir von den freundlich bis resoluten Damen der staatlichen Akademie Capella noch über den Verlauf des nächsten Tages unterrichtet. Wir sind eingeladen in die Sektion Musik des Cultural Forums und die tagt eben in dieser Akademie. Morgen früh gehe es los mit einem Termin bei Maestro Chernushenko, der sich am folgenden Tag als eine Art Urgestein der Akademie herausstellt. Chernushenko ist 81 Jahre alt, seit 1974 künstlerischer Direktor und Chefdirigent der Konzerthalle der Akademie; er ist dort bereits ausgebildet worden. Freundlich erzählt er von den Aktivitäten seines Instituts, dem berühmten hier ausgebildeten Chor, seinem Orchester, der Ausbildungsarbeit insgesamt. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Papiere und Noten, in seinem Büro gibt es weder einen Computer noch ein Telefon. Er ist ein Stück Musikgeschichte Russlands und als solches macht er halt nicht jeden modernistischen Kram mit. Ans Aufhören scheint er nicht zu denken. Beim Hinausgehen sagt noch eine russische Gesprächsteilnehmerin, in Russland sei es durchaus üblich, dass solche Positionen so etwas wie „vererbt“ würden, an Familienmitglieder natürlich. So hat auch das neue Russland durchaus etwas Feudalistisches.

Die Podien: Orchester, Musik, Revolution

Dann folgen Podien, die das Konferenzgeschehen bestimmen. Sie sind wie so oft in solchen Zusammenkünften zunächst die Aneinanderreihung von Keynotes. Wer sich erhoffte, es werde dann auch Diskussionen im Plenum geben, sieht sich getäuscht, jedenfalls in der Sektion Musik. Als mein Kollege vom britischen Orchesterverband ABO und ich einige eher zukunftsweisende Überlegungen zur Situation der Orchester vortragen, ernten wir erstaunte Blicke. Doch selbst die These, um ein erfolgreicher Orchestermusiker zu sein, müsse man mehr können, als sein Instrument hervorragend zu spielen, man brauche soziale und kommunikative Kompetenzen, Kenntnisse über Selbstvermarktungsstrategien, die von den Konservatorien zu vermitteln seien, regt sich kein Widerspruch, obwohl solche Thesen im eher konservativen Musikmilieu Russlands absolutes Neuland sind. Ebenso wenig beim Vorschlag, man müsse im Konzert zu neuen Präsentationsformen kommen. Lebhaft wird es erst – zumindest auf dem Podium – , als der russischen Komponistin Nastasya Khrushcheva in der Diskussion über die Revolution und die Musik ein wenig der Kragen platzt und sie dem gesammelten Podium die steile These entgegenschleudert, in der neuen Musik herrsche immer Revolution. Nachher im Konzert der von Revolutionsgedanken geprägten Musik sitzt sie dann bei einer Eigenkomposition selbst am Flügel und man versteht ihren Anspruch der Autonomie der Kunst. Bemerkenswert bei diesem Konzert die Leistung des russischen Northern Symphonie Orchestra unter Leitung des Italieners Fabio Mastrangelo, das sich hervorragend auf die sehr unterschiedliche Musik – Beethoven, Schostakowitsch, Mossolow – einstellt. Vor allem ist hier ein ernsthaftes künstlerisches Engagement für die gespielte Musik zu hören. Das Orchester kann sich jedenfalls mit dem am folgenden Abend unter der Leitung ihres Chefdirigenten Valery Gergijew auftretenden Mariinsky Orchester mehr als messen.

Putin, die Künstler und Serebrenikow

Am besagten folgenden Abend kommt auch Vladimir Putin, allerdings irgendwie zu spät. Geduldig warten die Besucher des Gala-Abends, Ankündigungen für den Grund eines um eine Stunde verzögerten Anfangs der Veranstaltung, den das Publikum gelassen hinnimmt, finden nicht statt. Auch hinsichtlich des Ausbleibens des Starpianisten Daniil Tifonow kein Wort der Erklärung. Der russische Präsident betritt schließlich unter dem Jubel seiner russischen Anhänger, die er in der Kulturbranche hat – viele Künstler, die während der Konferenz auftreten, haben einen offenen an ihn gerichteten Brief, in dem der Annexion der Krim zugestimmt wird, unterschrieben – den Saal. Er hält seine Ansprache, in der es vor allem um die verbindende Kraft des künstlerischen Schaffens geht. Kultur, Kunst und Erziehung seien, so sagt er, eine Antwort auf die Herausforderungen der Barbarei, der Intoleranz und des aggressiven Radikalismus, die die Zivilisation bedrohen. Man mag über Putin denken, wie man will, diese Rede ist inhaltlich so, wie Kulturleute es sich wünschen. Als dann zu Beginn der Veranstaltung noch ein Video gezeigt wird, das auflistet, welche Steigerung von Kulturausgaben die Russische Föderation auf den Weg gebracht hat, wird einem von den vielen kulturellen Höhenflügen angesichts bekannter Realitäten ein wenig schwindelig; denn in keiner der Veranstaltungen, zumindest der in der Sektion Musik, wird der Fall Kirill Serebrennikow auch nur erwähnt. Dieser Fall spricht eine andere Sprache, jedenfalls nicht die der Ansprache Putins. Der russische Regisseur steht bekanntlich seit einigen Monaten in Russland unter Hausarrest. Ihm wird vorgeworfen, dass öffentliche Gelder, die seinem Theater zur Verfügung standen, nicht ordnungsgemäß verwendet wurden. Geklärt ist offenkundig nichts, und Eile, die Klärung herbeizuführen, scheint auch niemand zu haben. Fragt man hinter den Kulissen nach, ob denn die Vorwürfe überhaupt stimmten, erhält man in der Regel ausweichende Antworten. Die Angelegenheit sei schwer zu beurteilen, man wisse nicht, was von der Sache zu halten sei, heißt es meist. Es sei im Übrigen nicht nur gegen den namhaften Regisseur, der durch den Hausarrest gehindert wurde, an der Staatsoper Stuttgart Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zu inszenieren, vorgegangen worden, sondern auch gegen den zuständigen Beamten im Kulturministerium, wird von russischer Seite berichtet. Auf meine Frage, ob die Angelegenheit denn öffentlich diskutiert werde, wird geantwortet, ja sehr wohl und zwar ziemlich kontrovers. In der Tat werde ich dann in einem Zeitungsinterview auf den Fall Serebrennikow angesprochen. Die Journalistin hat die öffentliche Erklärung der deutschen Opernkonferenz, in der die Aufhebung des Hausarrestes verlangt wird, wahrgenommen. Als auch ich einfordere, man möge doch die Dinge jetzt bitte zügigst aufklären, damit der Regisseur so bald wie möglich wieder seiner Arbeit nachgehen könne, ist den ungläubigen Blicken zu entnehmen, dass damit wohl leider so schnell nicht zu rechnen ist.

Das Jubiläum der Oktoberrevolution

Das VI. Cultural Forum findet in Russlands früherer Hauptstadt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution statt. Gefeiert wird die Revolution jedoch nicht. Es wird mehr ihrer gedacht. In drei großen Räumen der Eremitage, deren wesentlicher Teil ja der in der Revolution gestürmte Winterpalast der früheren Zaren ist, ist dem Jahrhundertereignis eine Ausstellung gewidmet. Wer sie sich genau ansieht, hat den Eindruck, es gehe dort mindestens ebenso sehr um die Zarenfamilie Romanow, deren Leben und Repräsentations-Pflichten in Videos ausgiebig gezeigt werden, was immer das zu bedeuten hat. Erst etwas versteckt findet man in der Eremitage einen anderen Raum, in dem ein Video über hungernde, frierende Menschen, die damals, vor der Revolution in den Straßen Petersburgs lagen, gezeigt wird. Auch Putin erwähnt das Jubiläum in seiner Ansprache mit keinem Wort. Wohl aber die kulturellen Errungenschaften von Petersburg, zu denen natürlich auch, er erwähnt das ausdrücklich, die hier arbeitenden Schriftsteller gehören. So macht man sich am Ende des Aufenthalts in Sankt Petersburg in die Wohnungen von Dostojewski und Puschkin auf. Den Häusern ist gleich anzumerken, wie sehr die Russen das Schaffen ihrer großen Literaten verehren. Fast andächtig bewegen sich die Besucher durch die zum Museum ausgebauten Räume. Es ist genau das, was jeden Besucher Russlands immer aufs Neue an diesem Land fasziniert: Seine Liebe zur Kunst, zur Musik und zur Literatur. Wir sollten das in unserem Verhältnis zu Russland nicht unterschätzen. Aber wir sollten auch auf die Erkenntnis drängen, dass diese Liebe ohne die Freiheit nichts wert ist. Das und nichts anderes lehrt uns der Fall Serebrennikow.

Theater und Orchester nach der Wende: Gratwanderung zwischen Reformerwartungen, Übergangsfinanzierung und Realitätssinn

Mehr als 25 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen, viel Zeit, in der die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft zusammenwachsen konnte. Leicht war das alles nicht und ohne Blessuren ist es auch nicht vonstatten gegangen. Der Artikel, der 2016 im kulturpolitischen Jahrbuch der Kulturpolitischen Gesellschaft erschienen ist, wirft ein Licht auf diese schwierige Zeit und analysiert die kulturpolitische Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte.

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16. Juni 1990. Hauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins in Duisburg. August Everding, der wortgewaltige damalige Generalintendant der Bayerischen Staatstheater und Präsident des Bühnenvereins tut das, was er am liebsten tut: Eine Rede halten. Darin hieß es:

„Wer beginnt in diesen Tagen seine Rede nicht mit dem Hinweis auf die großen Zeiten, in denen wir gerade leben. Auch der Deutsche Bühnenverein ist am Geschehen nicht vorbeigegangen. Wir haben mit den Kollegen der DDR in Berlin diskutiert. Viele Landesverbände haben Solidaritätsaktivitäten gestartet und viele einzelne Theater haben im Austausch mit den Kollegen kooperiert. In der DDR ist der Bühnenbund gegründet worden… Dann wird sich bald die Frage stellen, ob es nicht nur einen Verein geben soll. Meine Damen und Herren, diese Frage haben nicht wir zuerst gestellt, aber wir müssen uns auf eine Antwort vorbereiten. Die DDR hat 16 Millionen Einwohner, 69 Theater, darunter Kinder- und Puppentheater…. Wir (die alte Bundesrepublik, der Verf.) haben 63 Millionen Einwohner (und) 150 Theater…. Der Vergleich ist nicht ganz statthaft, aber doch interessant… Es kommen schwere Zeiten auf unsere Kollegen zu…“

Everding war in dieser Hauptversammlung nicht der einzige Redner. Auch Gabriele Muschter, von Mai bis Oktober 1990 Staatssekretärin im Kulturministerium der DDR, kam zu Wort. Sie spricht „über die Sorgen und Nöte, die fast alle Theater in der DDR jetzt haben,“ und führt weiter aus: „Gründe, Theater zu schließen, sehen wir nicht, denn gerade sie waren durch die Geschichte hindurch geistige Zentren im Leben der Kommunen. Im Gegenteil, ich denke, es ist zu überlegen, ob es nicht auch wichtig ist, die eigenartigen kulturellen Strukturen, die mit einem Stück leidvoller DDR-Geschichte zu tun haben, in den Einigungsprozess einzubringen.“ Und doch geht es in ihrer Ansprache dann um „Verwaltungsapparat verkleinern“, „personelle Veränderungen“, darum, dass sich „Ensembles freimachen müssen von unnötigem Verwaltungsballast und unfähigen Leitungen“, und dass „Künstler künftig über andere Wege und Formen zu ihrer Arbeit kommen müssen.“

Das beschrieb ohne Umschweife die Ausgangslage für das Zusammenwachsen der deutschen Theaterlandschaft. Dennoch sprach man im Juni 1990 nur von einer Zusammenarbeit zwischen dem Bühnenbund, der unmittelbar nach 1989 auf dem Territorium der früheren DDR gegründet worden war, und dem schon bereits nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder ins Leben gerufenen Deutschen Bühnenverein. Von Vereinigung beider Organisationen war zunächst nicht die Rede. Schließlich war es aber dann am 21. Oktober 1990 doch soweit: Bühnenverein und Bühnenbund taten sich zum Deutschen Bühnenverein zusammen und machten die Gestaltung der zukünftigen Theaterlandschaft in Deutschland zu ihrer gemeinsamen Aufgabe. Und der Orchesterlandschaft! Denn der Deutsche Bühnenverein war schon immer auch der Verband der Orchesterunternehmen, dem bis heute an die 100 große Klangkörper angehören.

Aufbruch und Reformerwartungen

Was das für die Theater in der früheren DDR hieß, hatte Arnold Petersen, damals Intendant des Nationaltheaters Mannheim, in einem Interview mit „Theater heute“ bereits im September 1990 formuliert. Zwar sprach er von einem Neuaufbau, von neuen Strukturen und warnte davor, dass die dortigen Theater, damit meinte er die in der DDR, „jetzt einfach so an die westdeutschen Verhältnisse anknüpfen.“ Es gebe ja nicht einmal Rechtsträger, also Länder und Gemeinden, die sich für die Theater und Orchester verantwortlich fühlten. In Stralsund und Weimar habe man ihm erzählt, spätestens im November seien die dortigen Theaterbetriebe pleite. Und dann stellte er die Frage, ob man den bisher in der DDR für die Mitarbeiter der Theater geltenden Rahmenkollektivvertrag nicht zumindest insoweit auf die Theater und Orchester in den alten Bundesländern übertragen könne, als in Zukunft für alle Theatermitarbeiter ein einheitlicher Tarifvertrag gelten solle. Er spielte damit auf die Kritik der Theaterintendanten im Westen an, sieben unterschiedliche Tarifverträge in einem Drei-Sparten-Theater anwenden zu müssen. Fraglich erschien ihm an einem solchen dem Rahmenkollektivvertrag entsprechenden einheitlichen Tarifvertrag nur, dass auch die künstlerischen Mitarbeiter der Theater in der früheren DDR unbefristete Arbeitsverträge hatten, was jeden aus künstlerischen Gründen notwendigen Austausch des künstlerischen Personals letztlich nicht zuließ.

Auch die Dramaturgische Gesellschaft äußerte sich im Februar 1991 zur deutschen Theatersituation. Sie sprach von „Angst und Verunsicherung“, die sich in den Theatern der früheren DDR breitmachten. „Kleinmütigkeit, Buchhalterei und Defensiv-Verhalten müssen abgebaut werden. Die gegenwärtige Debatte ist gekennzeichnet durch Schließungs-Fantasien,“ hieß es in ihrer Stellungnahme. Und auch hier wurden Reformillusionen geschürt, indem man feststellte: „Die derzeitige Umbruchsituation ist die einmalige Chance, die Organisation der Theaterarbeit umzustrukturieren, das Tarifsystem des westdeutschen Theaters nicht nur nach Plan zu übertragen, sondern die Kombination der progressiven Elemente beider Arbeitssysteme zu wagen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen, das den besonderen Bedingungen der Produktion und Präsentation von Theater Rechnung trägt.“

Die Rolle der Übergangsfinanzierung des Bundes

Die finanziellen Probleme, vor denen sowohl Petersen als auch Muschter warnten, wurden aufgefangen durch die ab 1991 gewährte Übergangsfinanzierung des Bundes für die Kultur in den dann entstehenden neuen Ländern. Mit 900 Millionen DM im Jahr startete man in diese Übergangsfinanzierung, um sie dann im Laufe der nachfolgenden Jahre langsam zu reduzieren und schließlich auslaufen zu lassen. Da die Theater und Orchester zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil von dieser Übergangsfinanzierung profitierten, hatte diese praktisch zur Folge, dass viele der Strukturen in den neuen Ländern erhalten bleiben konnten. Ja, zuweilen sahen sich einzelne Rechtsträger in den neuen Ländern dazu berufen, diese Strukturen noch zu verfestigen, etwa dadurch, dass manchem Orchester eine relativ hohe Vergütung zugesagt wurde. Warnungen, das werde man sich in Zukunft, spätestens nach Auslaufen der Übergangsfinanzierung des Bundes, nicht leisten können, wurden gerne in den Wind geschlagen.

So merkwürdig es klingt: Die Übergangsfinanzierung des Bundes für die Kultur in den Neuen Ländern hat also nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sämtliche oben dargestellten Erwartungen, die Vereinigung der deutschen Theater-und Orchesterlandschaft zu einer Systemreform zu nutzen, zunächst unerfüllt blieben. Zwar mag dies auch daran gelegen haben, das bis heute niemand in der Lage ist, zum Ensemble-und Repertoirebetrieb, wie er sowohl in der alten Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR bereits das typische Stadttheater auszeichnete, eine ernsthafte Alternative zu entwickeln, zumindest keine ernsthafte Alternative, die sowohl den künstlerischen Ansprüchen der Theater und Orchester einerseits als auch den Bedürfnissen nach sozialer Absicherung von Mitarbeitern andererseits in ausreichendem Maße gerecht wird. Schon deshalb entwickelte seinerzeit die Bereitschaft, die juristischen Rahmenbedingungen, die für die Theater und Orchester in der alten Bundesrepublik Deutschland galten, auf die neuen Länder zu übertragen, eine zunehmende Dynamik. Entscheidend aber war: Die Übergangsfinanzierung des Bundes erlaubte es, diese juristischen Rahmenbedingungen zu finanzieren.

Zudem nahm nach der dann tatsächlich vollzogenen Wiedervereinigung und der Übertragung des westlichen Rechtssystems auf die neuen Länder die Erwartung zu, auch spezifische tarifliche Regelungen, die auf der Grundlage dieses Rechtssystems entstanden waren, in die dortigen Theater und Orchester zu übernehmen. Und es kam zu einem regen Austausch von künstlerischen Beschäftigten zwischen Ost und West bzw. West und Ost, was zur Folge hatte, dass sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite die Notwendigkeit gesehen wurde, zu gleichlautenden tariflichen Regelungen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland zu gelangen.

Die Übernahme der Theater-Tarifverträge in die neuen Länder

Bereits im Laufe des Jahres 1990 begannen also die Verhandlungen zwischen dem Bühnenverein und der Musikergewerkschaft, der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) mit dem Ziel, den Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) auf die Theater – und Orchesterbetriebe der neuen Bundesländer zu übertragen. Parallel dazu fanden Verhandlungen zwischen Bühnenverein und Künstlergewerkschaften statt, nämlich der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO). Diese Verhandlungen bezogen sich auf die tariflichen Regelungen des künstlerischen Personals. Schon wenige Monate später, also bereits 1991, wurde eine Einigung erzielt, der entsprechend sämtliche tariflichen Theater- und Orchester-Regelungen – mit Ausnahme der Vergütungen, die erst im Laufe der Jahre eine Angleichung erfuhren – auf das damals sogenannte Beitrittsgebiet übertragen wurden. Für die Theater war dies insoweit von großem Vorteil, als die für das künstlerische Personal geltenden tariflichen Regelungen im Sinne der künstlerischen Freiheit außerordentlich flexibel sind. Keine feste Arbeitszeitregelung sowie in weiten Teilen ein befristeter Arbeitsvertrag als Regelvertrag und für Solisten nur eine Mindestgage, also kein Gagengefüge, sind hier als wesentliche Regelungs-Materie zu nennen.

In den Verhandlungen gab es dennoch zwei Aspekte, die deutlich werden lassen, wie zwiespältig diese Übertragung durchaus war.

In dem für die Musiker geltenden TVK existierte schon damals ein § 51, heute § 53 TVK. Diese Vorschrift enthält einen kostenintensiven Sozialplan für den Fall der Verkleinerung oder Auflösung eines Orchesters. Umstritten war es, inwieweit diese Vorschrift auch für die Orchester in den neuen Ländern gelten sollte. Denn schließlich wussten alle, dass die vereinigte Republik von der DDR umfangreiche Orchesterstrukturen geerbt hatte, die, wie oben bereits erwähnt, durch die Übergangsfinanzierung des Bundes teilweise auch noch arbeitnehmerfreundlich aufgebessert worden waren. Zwar konnte man sich schließlich darauf verständigen, dass besagter § 51 TVK in einer Übergangszeit nicht für die Orchester in den neuen Ländern gelten sollte. Jedoch gelang es in dieser Übergangszeit nicht, die Orchesterstrukturen derartig zurückzuführen, dass sie sich heute auf einem problemlos finanzierbaren Niveau befänden. Bemerkenswert aber war, dass sich damals auf Arbeitgeberseite die Haltung breit machte, man möge doch § 51 TVK ruhig für die Orchester der neuen Bundesländer gelten lassen, weil die Sozialplanregelung der genannten Vorschrift den Rechtsträgern ihre Neigung, Orchester zu verkleinern oder gar aufzulösen, zu teuer werden lasse. So diene die Sozialplanregelung praktisch dem Erhalt der Orchester in den neuen Ländern, eine Rechnung, die bis zum gewissen Grad durchaus aufgegangen ist.

Ähnlich verhielt es sich mit der so genannten 15-Jahre-Regelung in den für das künstlerische Personal der Theater geltenden und auf die neuen Länder übertragenen Künstlertarifverträgen. Diese Regelung legt fest, dass nach einer 15 Jahre andauernden Beschäftigung der bestehende Arbeitsvertrag nichts mehr beendet werden kann, enthält also einen Beendigungsschutz (der im Übrigen heute unter bestimmten Voraussetzungen erst nach 19 Jahren greift). Nach einer Beschäftigung von dieser Dauer kann also nur noch eine inhaltliche Veränderung des Arbeitsvertrages – sei es hinsichtlich der Tätigkeit, sei es hinsichtlich der Vergütung – arbeitgeberseits herbeigeführt werden. Für die im künstlerischen Bereich der Theater beschäftigten Mitarbeiter bedeutete eine Übertragung der Vorschrift auf die Theater der neuen Länder, dass alle Schauspieler, Sänger, Tänzer und andere Bühnenkünstler, die in einem DDR-Theater bereits 15 Jahre beschäftigt waren, nicht mehr entlassen werden konnten. Gerade mit Rücksicht auf eine durchaus überhöhte Besetzung der Ensembles der DDR-Theater war dies außerordentlich bedenklich. Interessanterweise sprachen sich aber auch hier viele Arbeitgeber aus den betroffenen Theatern für eine solche Übertragung aus, weil sie der Auffassung waren, ein Theater könne nicht mehr geschlossen werden, wenn es über eine hohe Anzahl von nicht mehr aufzulösende Arbeitsverträgen mit künstlerischen Mitarbeitern verfüge. Und so kam es dann zu der Übertragung der so genannten 15-Jahre-Regelung auf die Theater der neuen Länder, was natürlich später die Betriebe ebenfalls vor erhebliche Finanzierungschwierigkeiten stellen sollte.

Die Finanzierungsschwierigkeiten nehmen zu – der Haustarifvertrag mit Gehaltsverzicht

Wie konnte man diese Finanzierungsschwierigkeiten nun bewältigen? Sehr schnell stellte sich heraus, dass zu den gegebenen tariflichen Regelungen viele, vor allem kleinere Theater oder Orchester in den neuen Ländern nicht zu betreiben waren. Die Sorge, aus der angespannten finanziellen Situation könnte sich doch die Schließung einzelner Einrichtungen ergeben, nahm erheblich zu, als der Berliner Senat 1993 das Schillertheater und mit ihm das Schlossparktheater im Westteil der Stadt schloss. Sie ließ bei den Gewerkschaften die Bereitschaft entstehen, für Theater und Orchester in den neuen Ländern haustarifvertraglich teilweise erhebliche Kürzungen der Vergütungen zu vereinbaren, um im Gegenzug betriebsbedingte Beendigungen von Arbeitsverhältnissen in diesen Haustarifverträgen auszuschließen. Am Anfang war man der Überzeugung, diese Haustarifverträge seien ein vorübergehender Zustand für einzelne Betriebe. Man nahm an, während der Laufzeit des Haustarifvertrages werde im jeweiligen Betrieb durch sogenannte natürliche Fluktuation (Ruhestand, Wechsel an ein anderes Theater) das Personal sozialverträglich abgebaut, so dass nach Auslaufen des Haustarifvertrags an alle wieder die flächentarifvertragliche Vergütung gezahlt werden könnte. Diese Annahme erwies sich aus zwei Gründen als trügerisch. Erstens stellte sich in vielen Fällen heraus, dass nicht jede freiwerdende Stelle unbesetzt bleiben konnte, wollte man den bisherigen Spielbetrieb aufrechterhalten. So kam es zwar zu einem Personalabbau, der aber keineswegs ausreichte, um nach Auslaufen des Haustarifvertrages die notwendige Vergütungsanpassung vorzunehmen. Zweitens hatte man nicht erkannt, dass an manchen Standorten dauerhaft ein Theater oder Orchester nicht zu den bisherigen flächentarifvertraglichen Bedingungen unterhalten werden konnte. Insoweit wurden die Haustarifverträge regelmäßig wieder verlängert, so dass bis heute der größte Teil der Theater- und Orchestermitarbeiter in den neuen Ländern einen Gehaltsverzicht leistet.

Die Fusion und dann doch: Die Reform

Parallel dazu wurden zwei weitere Entwicklungen eingeleitet. Man prüfte zum einen an manchen Standorten, ob es möglich sein könnte, Theater und/oder Orchester miteinander zu fusionieren. Zu solchen Fusionen kam es etwa in Altenburg/Gera, Greifswald/Stralsund, Halberstadt/Quedlinburg, Freiberg/Döbeln oder Plauen/Zwickau. Als dann Ende der neunzehnhundertneunziger Jahre im Freistaat Thüringen die Fusion des Nationaltheaters Weimar mit dem städtischen Theater Erfurt ins Gespräch kam, stellte sich schnell heraus, dass solchen Fusionsüberlegungen aus politischen Gründen Grenzen gesetzt waren. Vor allem das Nationaltheater Weimar konterte diese Überlegungen mit dem so genannten „Weimarer Modell“, das gerade mit Rücksicht auf die eingangs zitierten Reformbestrebungen viel öffentliche Aufmerksamkeit erreichte. Bei genauem Hinsehen entpuppte sich dieses Modell jedoch letztlich als ein Haustarifvertrag mit Gehaltsverzicht. Das hatte für die Theater und Orchester in den neuen Ländern weitreichende Bedeutung, weil damit die Haustarifverträge, die für einzelne Theater und Orchester in den neuen Ländern bisher meist hinter verschlossenen Türen abgeschlossen worden waren, ein hohes Maß an politischer Aufmerksamkeit erfuhren und hoffähig wurden. Auch dies hat dazu beigetragen, dass sich die Praxis, mit Haustarifverträgen die Vergütungen herunterzufahren, in den Theatern und Orchestern der neuen Länder verfestigte.

Die zweite Entwicklung lag in der dann doch eingeleiteten Reform der öffentlich getragenen Theater und Orchester. Sie ist insofern interessant, als mit dieser Reform dann schließlich doch an die oben geschilderten, nach der Wiedervereinigung geäußerten Reformerwartungen zumindest teilweise angeknüpft wurde. Zur Einleitung einer solchen Reform hatte der Bühnenverein Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre einige Papiere vorgelegt, die zusammengefasst zwei Vorschläge enthielten: Entbürokratisierung und Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. Während die erste Maßnahme durch die Betriebe selbst herbeigeführt werden musste, etwa durch die Herauslösung von Theatern aus der städtischen oder staatlichen Verwaltung oder auch nur durch die Rationalisierung von – teilweise infolge von personalvertretungs- bzw. betriebsverfassungsrechtlichen Vereinbarungen bestehenden – theater- und orchesterinternen Arbeitsabläufen, erwies sich die zweite Maßnahme als deutlich schwieriger. Trotz einiger vor allem vom Bühnenverein formulierter Vorschläge gesetzlicher Änderungen zeigte sich die Politik in dieser Frage äußerst zurückhaltend.

Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen der Theater und Orchester konnten also nur herbeigeführt werden durch eine mehr oder weniger massive Umgestaltung von tariflichen und vergleichbaren Regelungen. Dieser hochkomplizierte Prozess fand dann in der Zeit bis 2009 vor allem mit dem Ziel einer Flexibilisierung von Arbeits-und Produktionsbedingungen statt. So kam es 2002 zum Abschluss eines vollständig neuen Tarifvertrags für das künstlerische Personal, der insgesamt fünf zuvor geltende Tarifverträge zu einem Tarifvertrag, dem Normalvertrag Bühne (NV Bühne), zusammenfasste. Am 31. Oktober 2009 wurde dann ein ebenfalls reformierter Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) abgeschlossen. Auch die zwischen dem Deutschen Bühnenverein und dem Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage abgeschlossene sogenannte Regelsammlung, in der die Konditionen für die Übertragung von Aufführungsrechten einschließlich der zu zahlenden Urhebervergütung festgelegt sind, wurde durch die Neufassung vom 1. August 2005 wesentlich verändert. Parallel dazu reformierte auch der öffentliche Dienst seine Tarifverträge, was insoweit für die öffentlich getragenen Theater von Bedeutung war, als dass das nichtkünstlerische Personal dieser Betriebe auf der Grundlage der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes beschäftigt wird. Sämtliche Maßnahmen ermöglichten es, im Laufe der gleichen Zeit die Anzahl der Arbeitsplätze in den öffentlich getragenen Theaterbetrieben (einschließlich ihrer Orchester) ganz Deutschlands von seinerzeit 45.000 Mitarbeitern auf heute etwa 39.000 zu reduzieren. Dabei blieb das künstlerische Angebot der genannten Institutionen zwar weitgehend erhalten. In vielen Theatern wurde aber erkennbar, dass die sich aus dem Personalabbau ergebenden Probleme zu veränderten Produktionsweisen führten, etwa durch einen deutlicher dem Stagione angelehnten Spielplan mit stärkerem Projektcharakter. Daraus ergab sich wiederum die Konsequenz, dass die Anzahl der unständig Beschäftigten der Theater und Orchester in der gesamten Bundesrepublik Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre ca. 8000 Verträgen auf heute etwa 25.000 Verträge zunahm.

Zu fragen ist nun, ob diejenigen, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine Reform der öffentlich getragenen Theater und Orchester im Auge hatten, tatsächlich diese Veränderung wollten. Denn mittlerweile macht sich die Erkenntnis breit, dass das, was Reform sein sollte, tatsächlich nichts anderes war, als eine Verschlechterung von sozialen Bedingungen im Bereich der darstellenden Kunst. Und so ist es nicht verwunderlich, dass nun Gegenkräfte zu wirken beginnen. Sie liegen nicht nur in einem sich wieder verstärkenden gewerkschaftlichen Engagement, sondern auch in der Gründung verschiedener auf größere Gerechtigkeit bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen der Theater abzielende Initiativen. Ernste Bestrebungen, die Arbeitsbedingungen im Bereich der darstellenden Kunst wieder zu verbessern, sind auch bezogen auf Arbeitgeberseite nicht mehr zu übersehen, bedenkt man alleine, dass zu Beginn der laufenden Spielzeit 2015/16 die für Solisten, also etwa Schauspieler, geltende tarifliche Mindestgage von monatlich 1.650 € auf 1.765 € brutto heraufgesetzt wurde. Und verhandelt wird schon jetzt über eine weitere Steigerung.

Fazit

Am Ende lässt sich feststellen: Die Theater-und Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland, mittlerweile auf der deutschen Liste des immateriellen Kulturerbes, konnte durch die schweren Zeiten finanzieller Zwänge der Wiedervereinigung nicht ernsthaft in Gefahr gebracht werden wenngleich nicht ganz ohne Blessuren, wie etwa auch der Schließung der Mitteldeutschen Landesbühne in Wittenberg oder des Kleisttheaters in Frankfurt/Oder. Veränderungen im Betrieb dieser Kulturinstitutionen sowie Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen trugen und tragen wesentlich dazu bei. Was bis heute in den neuen Ländern fehlt, ist eine parallel dazu sich aufbauende aus Privattheatern und freien Gruppen bestehende Theaterszene. Entscheidend ist jedoch, dass es die Theater und Orchester in Deutschland geschafft haben, sich so weiterzuentwickeln, dass künstlerisch ein vielfältiges Programm gewährleistet ist und dass im künstlerischen Schaffen ein Unterschied zwischen Theatern und Orchestern in West und Ost weitgehend nicht mehr besteht.