Was tun? Politik, Moral und Kultur

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete einst Heinrich Heine. Das war in den Zeiten des vorrevolutionären Deutschlands. Aber auch heute könnte der Satz kaum treffender sein: Diesel-Krise, Flüchtlingspolitik und eine aus den Fugen geratene CSU, die Gefahr geschlossener Grenzen, neue Zölle und jetzt auch noch ein Ausscheiden aus der Fußballweltmeisterschaft. Doch es gibt auch ermutigende Zeichen, nicht nur in den Theatern.

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Man vermag es ja alles nicht zu glauben, was die morgentliche Zeitungslektüre so zu Tage fördert. Wer das zu beschreiben sucht, weiß ja schon fast nicht mehr, wo er anfangen soll. Eigentlich ist es auch egal, will man die moralische Krise hierzulande begreifen. Es reicht schon der Blick zu VW und Audi. Da wird der Vorstandsvorsitzende von Audi verhaftet, weil er, so heißt es, Zeugen zu beeinflussen suchte, die seine frühe Kenntnis von der Diesel-Schummelei, die eben ein Betrug ist, bezeugen könnten. Ich habe mich schon seinerzeit, als bekannt wurde, wie mit zweifelhaften Aktivitäten Arbeitnehmervertreter gefügig gemacht wurden, gefragt, welche ethischen Standards denn eigentlich im VW-Konzern noch gelten. Was aber den Konzern zu einem planmäßigen Vortäuschen falscher Tatsachen mit dem Risiko eines Milliardenschadens veranlasst hat, bleibt nicht nur moralisch völlig unverständlich. Es ist auch schlicht das, was man gemeinhin als Geschäftsschädigung bezeichnet. Da scheinen bei den Verantwortlichen ein paar Sicherungen durchgebrannt zu sein.

Über die CSU

Womit man nahtlos zur CSU übergehen kann. Auch da scheint ja zeitweise jede Sicherung außer Kraft gesetzt zu sein. Man kann die Angst in Bayern vor einem Wahlerfolg der AfD nachvollziehen, niemand kann ihn sich wünschen. Aber wieso glaubt die CSU, sie könne einen solchen Wahlerfolg der AfD verhindern, indem sie genau deren Standpunkte fast blind nachplappert, bedauerlicherweise einschließlich des völlig inakzeptablen und unerträglichen Vokabulars. Im Zweifel wählt der Wähler doch das Original, auch rechts der Mitte. Zudem ist auch Bayern vorwiegend ein offenes, tolerantes Land, das christlich geprägt ist. Die dort lebenden Menschen haben nicht völlig den Verstand verloren. Sie werden außerdem hoffentlich wissen, was eine geschlossene Grenze zu Österreich wirtschaftlich und persönlich für sie bedeutet. Und sie werden dann auch wissen, dass die eigentliche Gefährdung unseres Gemeinwesens nicht von den Flüchtlingen ausgeht, sondern von den Rechtspopulisten, einschließlich solchen Regierungsverantwortlichen, die ohne Realitätssinn die Welt immer tiefer in einen Dauerkonflikt stürzen. Ja, auch von Herrn Trump ist hier zu sprechen.

Trump und TTIP

Der amerikanische Präsident treibt mit seiner Klimapolitik, mit seiner Haltung im Irankonflikt, aber auch mit seinen Zöllen fast alle zur Weißglut. Wir Kulturleute müssen uns jetzt schon die Frage gefallen lassen, ob der Widerstand gegen TTIP wirklich richtig war. Wäre es nicht besser gewesen, das Abkommen wäre zustande gekommen und wir hätten erfolgreich anderweitig versucht, die möglichen negativen Auswirkungen auf den Umweltschutz, den Verbraucherschutz und die Kulturfinanzierung zu verhindern. Schließlich leben wir in Europa, einer der größten und bedeutendsten Freihandelszonen der Welt, ohne dass das unseren gehobenen politischen Maßstäben ernsthaft Schaden zugefügt hätte, im Gegenteil. Jetzt kann Trump die deutsche Wirtschaft mit seiner Zoll- und Boykottpolitik erheblich in Schwierigkeiten bringen, was der Kulturfinanzierung hierzulande nicht helfen wird. Und was es politisch für eine Bedeutung hat, dass nun deutsche Unternehmen aus Angst vor nachteiligen Folgen ihres USA-Geschäfts sich in mancher Hinsicht auf Trumplinie begeben, kann noch keiner absehen. Ein offener Welthandel ist wichtig, weil er ein Gegengewicht zu einer verstiegenen, spießigen Politik eines engstirnigen Nationalismus ist. Wir sollten deshalb alle ein Interesse daran haben, ihn zu fördern.

Die Fußballweltmeisterschaft

Das Ausscheiden aus der Fußballweltmeisterschaft ist natürlich vergleichsweise harmlos. Fragen kann man aber, ob die Schwierigkeiten, die (nicht nur) in der deutschen Mannschaft festzustellen waren, ausschließlich sportlicher Natur sind. Oder haben vielleicht so wie VW, Teile der CSU und Trump auch einige Fußball-Funktionäre, Vereine, gar Spieler jegliches Maß und jegliche Mitte verloren? Es ist dem Sport auf Dauer nicht zuträglich, wenn er zu einem großen Geschäft wird und er vor Korruption, hemmungslosen Geldgeschäften und gesundheitlicher Gefährdung der Athleten keinen Halt mehr macht. Von aus den Fugen geratenen Fankurven mal ganz abgesehen. Auch hier könnte mehr Vernunft nicht schaden.

Das Theater

Und nun kommt das Theater als heilende Instanz? Es ist ja nach Schiller eine moralische Anstalt, lassen wir mal dahingestellt, ob es immer diesen Ansprüchen genügt. Aber es ringt zumindest um diese Rolle, schaut man sich nur an, wie sehr man vielerorts bemüht ist, im Sinne der Humanität für Aufklärung zu sorgen.

So haben die Münchener Kammerspiele etwa mit ihrer jüngsten Produktion „What they want to hear“ dem Zuschauer nicht nur eindringlich geschildert, was es heißt, in Deutschland ein Asylverfahren zu durchlaufen. Anhand des real auf der Bühne stehenden Raaed Al Kour, eines syrischen Flüchtlings, der seit über vier Jahren in Deutschland auf eine gerichtliche Entscheidung über seinen Asylantrag wartet, wird vielmehr auch deutlich, wie es wäre, wenn wir einen Flüchtling, nur weil er schon in einem anderen europäischen Land Schutz genießt, in dieses Land abschieben könnten. An diesem Theaterabend werden Videoaufnahmen gezeigt von den Willkommensbekundungen aus den ersten Tagen der in Deutschland ankommenden Flüchtlingsbewegung, Bilder, die einen fragen lassen, wie es in so kurzer Zeit zu einem derartigen Stimmungswandel kommen konnte, wenn man diese Bekundungen mit den heutigen Debatten vergleicht. Hier ließe sich vieles kritisch anmerken, vor allem zur Rolle der Medien, insbesondere hinsichtlich der vom Kulturrat zurecht gescholtenen Talkshows.

Oder das Bonner Stadttheater, das mit der Oper „Oberst Chabert“ die Geschichte eines Kriegsheimkehrers erzählt, der seine Identität nicht nachweisen kann, von der Gesellschaft, der er einst erfolgreich angehörte, deshalb nicht mehr aufgenommen wird und sich schließlich umbringt. Dieses Schicksal aus der Perspektive des Hier, also nicht eines Flüchtlings, erzählt lässt den Zuschauer umso deutlicher nachfühlen, was es bedeutet, irgendwo anzukommen, ohne jegliche Identität, ohne menschliche Zuwendung, ohne jegliches Gefühl der Integration. „Oberst Chabert“ ist im übrigen nicht die einzige Oper, in Bonn, die auf diese Weise aktuelle Fragen artikuliert. Schon „Echnaton“ wurde als die Geschichte einer Schülerin erzählt, die dem IS verfällt, und „I due Foscari“ als Beispiel für die zerstörerische Kraft der Medien, siehe oben. Und wenn das Bonner Contra-Kreis-Theater, ein Privattheater, die Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz „Willkommen“ spielt, ein Stück über eine Wohngemeinschaft, in die vorübergehend ein Flüchtling einziehen soll, dann hilft das auch, zu verstehen, worum es in der Flüchtlingsdebatte geht.

Die wahren Helden des Alltags

Doch die wahren Helden sitzen eigentlich noch woanders. Zum Beispiel Jaqueline Flory. Sie hat in München eine Initiative ins Leben gerufen, mit der in Flüchtlingslagern des Libanon Zeltschulen aufgebaut und unterhalten werden. Mit ihren eigenen Kindern ist sie dort selbst regelmäßig vor Ort. Das ist ein Engagement, das Mut machen kann, auch alle denen, die nicht ganz zu Unrecht glauben, dass man alles tun muss, um die Gründe für Menschen in Afrika, ihr Land zu verlassen, zu minimieren.

„Aus Fehlern lernen!“ Über die Kulturpolitik der SPD

Die SPD hat kürzlich eine Analyse ihres Bundestagswahlkampfs veröffentlicht. Diese Analyse trägt den bemerkenswerten Titel „Aus Fehlern lernen“. Das Kapitel 12 der Studie befasst sich mit der Frage, wo denn die geblieben sind, die in früheren Zeiten die SPD tatkräftig unterstützt haben, und macht als fehlende Gruppe auch die der Kulturschaffenden aus. Im Fazit diese Abschnittes wird gefordert, die Kontakte zu diesen, auch zu den Intellektuellen, in Zukunft regelmäßig zu suchen und zu pflegen. Aber reicht das?

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Wer schon etwas älter ist, wird sich erinnern: Es gab einmal eine Zeit, in der sich Kultur und SPD mehr als nahe standen. Das war vor allem die Zeit des Bundeskanzlers Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung 1969 alle Intellektuellen des Landes aufhorchen ließ mit dem Satz „Die Schule der Nation ist die Schule“. Damit suchte er nicht nur den alten Militarismus, der das Militär als Schule der Nation sah, abzustreifen, sondern betonte auch die politische Priorität der Bildung für alle. Das waren noch Zeiten! Daran anknüpfend formulierte der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann später den Slogan der „Kultur für alle“. Damals existierte eine Wählerinitiative der SPD, in der sich Schriftsteller wie Günter Grass und Heinrich Böll engagierten und die ein Forum für den intellektuellen Austausch zwischen Politik und Kultur bot. Nie werde ich beispielsweise die engagierten Debatten vergessen, die dort über den Neubau des neuen Bonner Bundestags geführt wurden. Und auch zu den Zeiten des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, mit denen es man ja links der Mitte nicht immer leicht hatte, war das Verhältnis immerhin so, dass 1981, also in seiner Regierungszeit, das Künstlersozialversicherungsgesetz verabschiedet wurde. Es bot erstmalig selbstständig tätigen Künstlern und Publizisten eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung, die bis heute national und international hoch geschätzt wird.

Aus dieser kurzen Beschreibung lassen sich bereits drei Anforderungen ableiten: Erstens geht es nicht nur um Kontaktpflege, sondern um einen inhaltlichen, breit und auf Dauer angelegten Diskurs zwischen der Politik und der Kulturszene. Zweitens muss man eine Politik machen, die die Kultur, das intellektuelle Klima im Lande stärkt und unterstützt. Und drittens müssen die Kulturschaffenden, die Intellektuellen an einem politischen Diskurs interessiert sein. An allen drei Voraussetzungen hat es in den letzten Jahren wohl eher gefehlt. Trotz mancher Begegnung, etwa in der Akademie der Künste, war doch eher eine gewisse politische Abstinenz der Kulturszene festzustellen. Man mokierte sich lieber über die politischen Zeitläufte als sich einer täglichen Debatte zu stellen. Das fiel um so leichter, als manches Treffen, das die Politik, auch die SPD organisierte, als das empfunden wurde, was es war, nämlich ein Bemühen um einen Kontakt, der dann besonders als gelungen galt, wenn man sich mit bekannten Namen aus Kunst und Kultur zu schmücken wusste. Doch das Entscheidende ist wohl das zu häufige Fehlen einer Politik im Sinne des geistigen Schaffens. Es fand sogar manches in der Kulturpolitik der SPD statt, was den Interessen von Kunst und Kultur diametral entgegenstand.

Man kommt nun nicht umhin, hier einige Worte über die Sparpolitik der letzten Jahre zu verlieren. Öffentliche Zuschüsse für Theater, Museen, Orchester wurden vielerorts, auch in seitens der SPD regierten Kommunen und Ländern, gekürzt oder zumindest eingefroren. Personalabbau, Gehaltsverzicht, Arbeitsverdichtung und Einschränkungen im künstlerischen Programm waren die Folge, wobei die Theater und Orchester nahezu als Einzige im öffentlich finanzierten Bereich Haustarifverträge mit Vergütungskürzungen vereinbarten. Ein für Kultur zuständiger, der SPD angehörender Minister in Sachsen-Anhalt kürzte die Mittel für die Landesbühne Eisleben in existenzgefährdender Weise, verbot ihr sogar, sich weiter Landesbühne zu nennen, und überließ es der AfD, sich für dieses Theater einzusetzen. In Mecklenburg-Vorpommern weigerte sich der SPD-Kulturminister über Jahre, die Zuschüsse für die kommunalen Theater und Orchester zu erhöhen und brachte damit sowohl die Betriebe als auch die sie tragenden Kommunen an den Rand der Verzweiflung; es ist gut, dass die Ministerpräsidentin der SPD, Manuela Schwesig, dem nun ein Ende bereitet hat. In Bonn verordneten die sozialdemokratischen Oberbürgermeister dem Theater einen Sparkurs ohnegleichen, um am Ende von der völlig sinnlosen Fusion des Bonner Opernhauses mit der Kölner Oper zu schwadronieren. Das alles versteht kein Kulturschaffender, aber auch kein kulturinteressierter Bürger, erst recht nicht angesichts der Tatsache, dass es auch andere Beispiele gibt. Der seinerzeitige Hamburger Erste Bürgermeister etwa gewann für die SPD nicht zuletzt die Wahl dadurch, dass er der katastrophalen Kulturpolitik seines der CDU angehörenden Vorgängers entgegentrat.

Und wie sieht es in der Gesetzgebung aus? Kein SPD-Arbeitsminister, auch nicht Olaf Scholz, schaffte es in den Zeiten der großen Koalition das Problem des Arbeitslosengeldes für im Kulturbereich besonders häufig kurzfristig Beschäftigte wirklich zu lösen. Denn deren Anzahl ist allein in den Stadttheatern während der letzten 25 Jahre von 8.000 Verträgen auf fast 28.000 Verträge gestiegen. Im Urheberrecht wird immer wieder die Notwendigkeit heruntergebetet, die Künstler und Kreativen vor unerlaubter Nutzung ihres Schaffens zu schützen, ohne dass man bis heute einen vernünftigen, praktikablen Ausgleich zwischen den Urheberinteressen und den Verwerterinteressen zustande gebracht hat. Obwohl beispielsweise alle darstellenden Künstler und alle Veranstalter gerne mit Aufzeichnungen ihrer Arbeit im Netz werben, fehlt es bis heute an einer dringend notwendigen entsprechenden Schrankenregelung. Und über die schwierige bildungspolitische Situation, also die Lage von Schulen und Universitäten, könnte auch noch manches schlechte Beispiel für eine verfehlte Politik hinzugefügt werden, nicht zuletzt die Versäumnisse angesichts eines zum Teil katastrophalen baulichen Zustands der Gebäude.

Was tun? Es lohnt sich in mancher Hinsicht, nach Frankreich zu schauen. Was immer man über Macron denken mag, er macht auch Fehler, aber er hat mit seinem engagierten proeuropäischen Kurs und dem darauf aufbauenden Wahlkampf einen Enthusiasmus auch bei vielen Intellektuellen hervorgerufen, wie es seinerzeit Willy Brandt mit seiner Ostpolitik geschafft hat. Man darf es also nicht vergessen: Als Grundlage für eine die Menschen begeisternde Politik, die der auf Angst und Ressentiments setzenden Politik der Rechtspopulisten entgegentritt, braucht man zukunftsweisende Ideen, auch solche der Hoffnung. Die können nur mit der Kultur hierzulande, nicht gegen sie entwickelt und durchgesetzt werden. So war es auch in den 1970er Jahren. An dieser Stelle schläft man rechtsaußen im Übrigen nicht. Die Nichte von Marie Le Pen, der Vorsitzenden des Front National, heute Rassemblement National, Marion Maréchal, hat gerade in Lyon das Institut des sciences sociales, economiques et politiques gegründet, das vor allem dazu dienen soll, rechte intellektuelle Kräfte zu sammeln, um so der geistigen Vorherrschaft der Linken in der französischen Politik entgegenzutreten.

Man sieht gerade daran, dass es höchste Zeit wird, auf die linken und aufgeklärten Kreise in Europa, auch in Deutschland zuzugehen. Will das die SPD nicht anderen überlassen, muss sie mehr ändern als ihre Kontaktpflege. Sie muss sich an die Spitze einer Bewegung des Europäischen Fortschritts, der Freiheit, der Gewaltlosigkeit, des Sozialen Ausgleichs, des inneren und äußeren Friedens und einer von Humanität geprägten Welt setzen. Ohne die, die für Kunst und Kultur, für Wissen und Bildung in unserem Lande stehen, wird ihr das nicht gelingen. Und auch nicht ohne eine allerorten den Künsten zugewandte Kulturpolitik.

Kommunale Kulturpolitik, aber was macht Bonn?

Die Stadt Bonn ist eine der wichtigsten und erfolgreichsten Städte in NRW. Während jedoch die meisten Kommunen hierzulande die Bedeutung der Künste für ihr städtisches Leben schon lange bemerkt haben, taumelt die alte Bundeshauptstadt von einem kulturpolitischen Debakel ins andere. Die Frage ist, wie es weitergehen soll.

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Erst leistet sich Bonn eine jahrelange Debatte über den schon früh als aussichtslos erkennbaren Neubau einer angeblich vollständig privat finanzierten Konzerthalle. Nicht zuletzt dadurch verzögert sich die nun begonnene Renovierung der vorhandenen und durchaus bewährten, unter Denkmalschutz stehenden Beethovenhalle so, dass sie nunmehr für das 2020 zu feiernde Beethovenjubiläum nicht mehr fertig wird. Dennoch will man sich als Geburtsstadt Beethovens feiern und nennt sich stolz „Beethovenstadt Bonn“. Frei nach dem Motto „Event statt Nachdenken“ hadern Teile der Stadt mit der erfolgreichen intellektuellen und künstlerischen Profilierung des Beethovenfests durch die jetzige Festspielleiterin. Die Renovierung des städtischen Opernhauses und der als Schauspielhaus fungierenden Kammerspiele wird vor sich hergeschoben, weil man plötzlich die Überlegung anstellt, ein neues Theater zu bauen, möglichst, wie einige schon wieder fordern, mit neuer Konzerthalle. Gleichzeitig plant die Stadt spätestens 2023 den laufenden Etat des Stadttheaters um weitere jährlich 3,5 Millionen Euro zu kürzen. Nun hat ein Gutachten dem ohnehin schon finanziell durch die bisherigen Kürzungen der städtischen Mittel bedrängten Theater bestätigt, dass da praktisch nichts mehr an Einsparungen zu holen ist, wolle man nicht das Niveau des künstlerischen Angebots herunterfahren. Und was passiert? Erst einmal nichts außer etwas merkwürdige Reaktionen.

Schon vor einiger Zeit war zum Gutachten aus Kreisen der CDU in dieser Stadt zu hören, dann lasse sich das bisherige Niveau eben nicht halten. Jetzt lässt sich die Bonner Jamaika-Koalition mit der schwammigen Ankündigung vernehmen, man wolle das Gutachten ergebnisoffen diskutieren. Einige reden von der Schließung der Sparte Schauspiel, nachdem die Sparte Tanz schon vor einigen Jahren einem Gastspielbetrieb geopfert wurde. Die in eine neue Konzerthalle etwas vernarrte SPD lobt sich mit ihrer Haltung, ohnehin gegen eine umfassende Renovierung der Beethovenhalle gewesen zu sein, um jedenfalls pünktlich zum Beethovenjubiläum fertig zu werden. Alles klingt ein wenig wie in Absurdistan.

Wann, so fragt sich der erstaunte Kulturmensch, begreift diese Stadt endlich, dass vor allem eine intakte Infrastruktur vonnöten ist, um sich mit dem Titel „Beethovenstadt“ als Kulturstandort in Konkurrenz mit anderen Städten profilieren zu können? Dazu braucht es zunächst funktionstüchtige Gebäude, wie sie andernorts selbstverständlich existieren oder (wieder)hergestellt werden. Man schaue nur nach Heidelberg, Augsburg, Dresden oder Oldenburg. Dazu braucht es eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Künste durch die Stadt, und zwar des Stadttheaters, der Museen wie auch der freien und privaten Kulturszene. Dazu braucht es ein profiliertes Beethovenfest. Und dazu braucht es ein Ende der lähmenden Kulturzukunftsdebatten sowie eine Kulturpolitik, die die Stadt strahlen und glänzen lässt, statt sie ständig mit neuen Querelen öffentlich herunter zu reden. Natürlich kann man auch etwas neu bauen, aber nur, wenn man vernünftig plant, realistisch die Kosten kalkuliert und weiß, welche Gebäude man wirklich für die Künste, für das Musikleben braucht und welche nicht. Von diesem Wissen scheint man in Bonn leider immer noch weit entfernt zu sein.

Was wir aus dem Rücktritt von Chris Dercon lernen können.

Chris Dercon hat sein Amt als Intendant der Volksbühne Berlin aufgegeben. Kaum jemanden wird das überrascht haben. Überrascht hat allenfalls, wie Hals über Kopf es geschah. Der Vorgang wirft Fragen auf, auch solche, die bisher, soweit ersichtlich, nicht diskutiert werden.

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Kaum war Chris Dercon zum neuen Intendanten der Volksbühne Berlin berufen, regten sich die Widerstände. Es waren teils die Widerstände derer, die den ewigen Frank Castorf wollten, aber auch der üblichen Verdächtigen, die immer gegen alles sind, und von Kulturinteressierten, die sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft der Volksbühne machten. Schnell stellte sich heraus, dass vor allem eines geschehen war: Die – wie der jetzige Rücktritt – ebenso Hals über Kopf getroffene Entscheidung der Bestellung war von der Politik, konkret vom damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner, weder durchdacht und angemessen vorbereitet noch ausreichend kommuniziert worden. Man glaubte, das werde ein Selbstläufer. Und das Schlimmste war, dass Dercon es offenkundig auch selbst glaubte.

Damit stand das Ergebnis fest, bevor es überhaupt richtig losging. Dercon konnte nur scheitern, es sei denn, er hätte alles anders gemacht, als es die, die ihn berufen hatten, erwarteten. Er hätte sich also in den Theaterbetrieb stürzen müssen, wie es jeder tut, der als Intendant ein deutsches Stadt- oder Staatstheater übernimmt. Selbstverständlich hätte das bedeutet, dass es zu einem weitgehenden Umbau des Ensembles hätte kommen müssen, was schon genug Empörung ausgelöst hätte. Denn immer noch ist vielen nicht klar, dass der Austausch größerer Teile des künstlerischen Personals beim Intendantenwechsel der Weg ist, ein auf das gewisse Maß an Kontinuität verpflichtetes Ensemble-Theater vor der künstlerischen Erstarrung zu bewahren. Dercon hätte zur Spielzeiteröffnung ein Eröffnungswochenende präsentieren müssen mit zwei oder drei Neuinszenierungen, die seine künstlerische Handschrift hätten erkennen lassen und die der erste Grundstock für sein neues Repertoire hätten sein können und müssen. Aber nichts dergleichen. Man hatte ja auf Seiten der Politik die Vorstellung, das Stadttheater mal wieder neu zu erfinden, und glaubte, da sei jemand wie Dercon, aus Belgien kommend, einem Land mit einem anderen Theatersystem, genau der Richtige. Das ist jetzt nicht das erste Mal schief gegangen.

Nach wie vor gibt es in Teilen der Politik, aber auch in den Kreisen der Kulturschaffenden, solche, die glauben, man müsse das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater einer Art Rosskur unterziehen, dann entstehe etwas völlig Neues und künstlerisch weitaus Interessanteres. Das glaubte wohl auch Tim Renner. Und vielleicht hatten ihn einige in Berlin darin auch bestärkt. Um namhafte Kritiker des hierzulande üblichen (großartigen) Theatersystems zu finden, muss der Berliner ja nicht einmal seine Stadt verlassen. Wer aber Belege für die These sucht, es gelinge bei anderer Organisation des Theaterbetriebs künstlerisch alles oder auch nur einiges besser, wird es nicht leicht haben, vor allem nicht, wenn er sich fragt, was das denn für die soziale Lage der Künstler bedeutet. Über die wird ja gerade jetzt berechtigterweise viel diskutiert.

Indem trotzdem immer wieder Intendanten ernannt werden, die von der sie berufenden Politik künstlerisch mit falschen und unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden, tut man nicht nur dem Theater keinen Gefallen. Man verheizt auch hervorragende Künstlerpersönlichkeiten auf unverantwortliche Weise. Zwar liegen alle Fälle anders. Aber der Rückzug von Matthias Lilienthal bei den Münchener Kammerspielen oder der von Staffan Holm seinerzeit beim Düsseldorfer Schauspielhaus sind zumindest ähnlich gelagert. Und auch die Stadt Trier hatte völlig falsche Vorstellungen von ihrem Theater, als sie den dann scheiternden Karl M. Sibelius zum Intendanten machte.

Schon ist wieder davon die Rede, am Stadttheater seien Experimente zum Scheitern verurteilt. Nichts ist abwegiger als das. Denn um Experimente geht es hier nicht, schon gar nicht um solche künstlerischer Art. Die sind am Stadttheater jederzeit möglich und finden statt. Wer Augen hat zu sehen, wird sie wahrnehmen. Nicht zuletzt für diese Experimentierfreudigkeit wird das deutsche Stadttheatersystem im Ausland bewundert. Sie darf man nicht verwechseln mit Systemfragen, die im Mantel künstlerischen Neuanfangs daherkommen. Vor solchen Fehleinschätzungen sind alle zu warnen, die Politiker genauso wie die, die sich zum Intendanten wählen lassen.

Zurück zu Dercon. Nun ist er abgetreten. Den letzten Kick zu dieser Entscheidung gaben wohl die von einem Rechercheteam bestehend aus Süddeutscher Zeitung und zwei ARD-Anstalten zutage geförderten Erkenntnisse, auch finanzieller Natur. Rechercheteam klingt immer gut. Selbst wenn das sicher den Medien nicht vorzuhalten ist, sie haben ihre der Aufklärung verpflichteten Aufgaben, irgendjemand muss die internen Informationen preisgegeben haben. Und derjenige konnte doch nur zwei Ziele verfolgen: Dass Dercon geht und das die, die ihn berufen haben, schlecht dastehen. Ziel erreicht, lässt sich da nur abschließend feststellen.

Putin, die Russen und die Kunst, das VI. Cultural Forum in Sankt Petersburg

Zum sechsten Mal fand Mitte November das Cultural Forum in Sankt Petersburg statt, mit vielen russischen Kulturschaffenden und internationalen Gästen aus den unterschiedlichen Sektionen. Theater, Musik, Ballett, Film, Museum und vieles mehr sind Thema dieser groß angelegten Konferenz, die aber international kaum Beachtung findet, auch nicht in Deutschland. Immerhin gab sich auch diesmal der russische Präsident Vladimir Putin selbst die Ehre und sprach bei der öffentlichen Gala ein Grußwort. Hier ein Bericht von einem Besuch mit unterschiedlichen Eindrücken.

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Die Reise beginnt mit Hindernissen. Nicht nur ein verpasster Hinflug, vielmehr ist schon Wochen vorher ein Visum zu besorgen. Dazu waren Krankenversicherungs-bescheinigung und Einkommensnachweis erforderlich. Man kommt ohne Geld also nicht nach Russland. Wieso ich schon ein Visum ab dem Mittwoch wolle, der Kongress beginne erst am Donnerstag, werde ich noch gefragt. Ja, aber man müsse doch noch anreisen, erlaube ich mir festzustellen, schließlich erreiche man Petersberg ja nicht wie den nächsten Supermarkt mit dem Fahrrad. Erkennbar ist mein Gegenüber etwas erstaunt über diese Bemerkung, lächelt mir aber den Satz zu, es gehe schon alles in Ordnung. Das Visum wird dann wie gewünscht ausgestellt, aber nur, nachdem man erst einmal seinen Reisepass für eine Woche vertrauensvoll der Visastelle der Russischen Föderation überlassen hat. Die Ausstellung des Visums für den Vortag der Konferenz erweist sich später als segensreich. Eine Kollegin, die auch zur Konferenz will, muss bei der Einreise nach Russland eine halbe Stunde im Petersburger Flughafen ausharren, bis es 24 Uhr Ortszeit ist. Erst dann darf sie einreisen, weil ihr Visum erst ab dem neuen Tag gilt. So sieht der europäisch-russische Alltag leider heute aus.

Der Auftakt

In Petersburg angekommen werden die Gäste des Forums dennoch mit einer Limousine aus württembergischer Herstellung abgeholt, trotz aller europäischen Wirtschaftssanktionen. Immerhin ist es schon nach Mitternacht, als wir das Hotel erreichen. Und doch werden wir von den freundlich bis resoluten Damen der staatlichen Akademie Capella noch über den Verlauf des nächsten Tages unterrichtet. Wir sind eingeladen in die Sektion Musik des Cultural Forums und die tagt eben in dieser Akademie. Morgen früh gehe es los mit einem Termin bei Maestro Chernushenko, der sich am folgenden Tag als eine Art Urgestein der Akademie herausstellt. Chernushenko ist 81 Jahre alt, seit 1974 künstlerischer Direktor und Chefdirigent der Konzerthalle der Akademie; er ist dort bereits ausgebildet worden. Freundlich erzählt er von den Aktivitäten seines Instituts, dem berühmten hier ausgebildeten Chor, seinem Orchester, der Ausbildungsarbeit insgesamt. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Papiere und Noten, in seinem Büro gibt es weder einen Computer noch ein Telefon. Er ist ein Stück Musikgeschichte Russlands und als solches macht er halt nicht jeden modernistischen Kram mit. Ans Aufhören scheint er nicht zu denken. Beim Hinausgehen sagt noch eine russische Gesprächsteilnehmerin, in Russland sei es durchaus üblich, dass solche Positionen so etwas wie „vererbt“ würden, an Familienmitglieder natürlich. So hat auch das neue Russland durchaus etwas Feudalistisches.

Die Podien: Orchester, Musik, Revolution

Dann folgen Podien, die das Konferenzgeschehen bestimmen. Sie sind wie so oft in solchen Zusammenkünften zunächst die Aneinanderreihung von Keynotes. Wer sich erhoffte, es werde dann auch Diskussionen im Plenum geben, sieht sich getäuscht, jedenfalls in der Sektion Musik. Als mein Kollege vom britischen Orchesterverband ABO und ich einige eher zukunftsweisende Überlegungen zur Situation der Orchester vortragen, ernten wir erstaunte Blicke. Doch selbst die These, um ein erfolgreicher Orchestermusiker zu sein, müsse man mehr können, als sein Instrument hervorragend zu spielen, man brauche soziale und kommunikative Kompetenzen, Kenntnisse über Selbstvermarktungsstrategien, die von den Konservatorien zu vermitteln seien, regt sich kein Widerspruch, obwohl solche Thesen im eher konservativen Musikmilieu Russlands absolutes Neuland sind. Ebenso wenig beim Vorschlag, man müsse im Konzert zu neuen Präsentationsformen kommen. Lebhaft wird es erst – zumindest auf dem Podium – , als der russischen Komponistin Nastasya Khrushcheva in der Diskussion über die Revolution und die Musik ein wenig der Kragen platzt und sie dem gesammelten Podium die steile These entgegenschleudert, in der neuen Musik herrsche immer Revolution. Nachher im Konzert der von Revolutionsgedanken geprägten Musik sitzt sie dann bei einer Eigenkomposition selbst am Flügel und man versteht ihren Anspruch der Autonomie der Kunst. Bemerkenswert bei diesem Konzert die Leistung des russischen Northern Symphonie Orchestra unter Leitung des Italieners Fabio Mastrangelo, das sich hervorragend auf die sehr unterschiedliche Musik – Beethoven, Schostakowitsch, Mossolow – einstellt. Vor allem ist hier ein ernsthaftes künstlerisches Engagement für die gespielte Musik zu hören. Das Orchester kann sich jedenfalls mit dem am folgenden Abend unter der Leitung ihres Chefdirigenten Valery Gergijew auftretenden Mariinsky Orchester mehr als messen.

Putin, die Künstler und Serebrenikow

Am besagten folgenden Abend kommt auch Vladimir Putin, allerdings irgendwie zu spät. Geduldig warten die Besucher des Gala-Abends, Ankündigungen für den Grund eines um eine Stunde verzögerten Anfangs der Veranstaltung, den das Publikum gelassen hinnimmt, finden nicht statt. Auch hinsichtlich des Ausbleibens des Starpianisten Daniil Tifonow kein Wort der Erklärung. Der russische Präsident betritt schließlich unter dem Jubel seiner russischen Anhänger, die er in der Kulturbranche hat – viele Künstler, die während der Konferenz auftreten, haben einen offenen an ihn gerichteten Brief, in dem der Annexion der Krim zugestimmt wird, unterschrieben – den Saal. Er hält seine Ansprache, in der es vor allem um die verbindende Kraft des künstlerischen Schaffens geht. Kultur, Kunst und Erziehung seien, so sagt er, eine Antwort auf die Herausforderungen der Barbarei, der Intoleranz und des aggressiven Radikalismus, die die Zivilisation bedrohen. Man mag über Putin denken, wie man will, diese Rede ist inhaltlich so, wie Kulturleute es sich wünschen. Als dann zu Beginn der Veranstaltung noch ein Video gezeigt wird, das auflistet, welche Steigerung von Kulturausgaben die Russische Föderation auf den Weg gebracht hat, wird einem von den vielen kulturellen Höhenflügen angesichts bekannter Realitäten ein wenig schwindelig; denn in keiner der Veranstaltungen, zumindest der in der Sektion Musik, wird der Fall Kirill Serebrennikow auch nur erwähnt. Dieser Fall spricht eine andere Sprache, jedenfalls nicht die der Ansprache Putins. Der russische Regisseur steht bekanntlich seit einigen Monaten in Russland unter Hausarrest. Ihm wird vorgeworfen, dass öffentliche Gelder, die seinem Theater zur Verfügung standen, nicht ordnungsgemäß verwendet wurden. Geklärt ist offenkundig nichts, und Eile, die Klärung herbeizuführen, scheint auch niemand zu haben. Fragt man hinter den Kulissen nach, ob denn die Vorwürfe überhaupt stimmten, erhält man in der Regel ausweichende Antworten. Die Angelegenheit sei schwer zu beurteilen, man wisse nicht, was von der Sache zu halten sei, heißt es meist. Es sei im Übrigen nicht nur gegen den namhaften Regisseur, der durch den Hausarrest gehindert wurde, an der Staatsoper Stuttgart Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zu inszenieren, vorgegangen worden, sondern auch gegen den zuständigen Beamten im Kulturministerium, wird von russischer Seite berichtet. Auf meine Frage, ob die Angelegenheit denn öffentlich diskutiert werde, wird geantwortet, ja sehr wohl und zwar ziemlich kontrovers. In der Tat werde ich dann in einem Zeitungsinterview auf den Fall Serebrennikow angesprochen. Die Journalistin hat die öffentliche Erklärung der deutschen Opernkonferenz, in der die Aufhebung des Hausarrestes verlangt wird, wahrgenommen. Als auch ich einfordere, man möge doch die Dinge jetzt bitte zügigst aufklären, damit der Regisseur so bald wie möglich wieder seiner Arbeit nachgehen könne, ist den ungläubigen Blicken zu entnehmen, dass damit wohl leider so schnell nicht zu rechnen ist.

Das Jubiläum der Oktoberrevolution

Das VI. Cultural Forum findet in Russlands früherer Hauptstadt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution statt. Gefeiert wird die Revolution jedoch nicht. Es wird mehr ihrer gedacht. In drei großen Räumen der Eremitage, deren wesentlicher Teil ja der in der Revolution gestürmte Winterpalast der früheren Zaren ist, ist dem Jahrhundertereignis eine Ausstellung gewidmet. Wer sie sich genau ansieht, hat den Eindruck, es gehe dort mindestens ebenso sehr um die Zarenfamilie Romanow, deren Leben und Repräsentations-Pflichten in Videos ausgiebig gezeigt werden, was immer das zu bedeuten hat. Erst etwas versteckt findet man in der Eremitage einen anderen Raum, in dem ein Video über hungernde, frierende Menschen, die damals, vor der Revolution in den Straßen Petersburgs lagen, gezeigt wird. Auch Putin erwähnt das Jubiläum in seiner Ansprache mit keinem Wort. Wohl aber die kulturellen Errungenschaften von Petersburg, zu denen natürlich auch, er erwähnt das ausdrücklich, die hier arbeitenden Schriftsteller gehören. So macht man sich am Ende des Aufenthalts in Sankt Petersburg in die Wohnungen von Dostojewski und Puschkin auf. Den Häusern ist gleich anzumerken, wie sehr die Russen das Schaffen ihrer großen Literaten verehren. Fast andächtig bewegen sich die Besucher durch die zum Museum ausgebauten Räume. Es ist genau das, was jeden Besucher Russlands immer aufs Neue an diesem Land fasziniert: Seine Liebe zur Kunst, zur Musik und zur Literatur. Wir sollten das in unserem Verhältnis zu Russland nicht unterschätzen. Aber wir sollten auch auf die Erkenntnis drängen, dass diese Liebe ohne die Freiheit nichts wert ist. Das und nichts anderes lehrt uns der Fall Serebrennikow.

Theater und Orchester nach der Wende: Gratwanderung zwischen Reformerwartungen, Übergangsfinanzierung und Realitätssinn

Mehr als 25 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen, viel Zeit, in der die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft zusammenwachsen konnte. Leicht war das alles nicht und ohne Blessuren ist es auch nicht vonstatten gegangen. Der Artikel, der 2016 im kulturpolitischen Jahrbuch der Kulturpolitischen Gesellschaft erschienen ist, wirft ein Licht auf diese schwierige Zeit und analysiert die kulturpolitische Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte.

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16. Juni 1990. Hauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins in Duisburg. August Everding, der wortgewaltige damalige Generalintendant der Bayerischen Staatstheater und Präsident des Bühnenvereins tut das, was er am liebsten tut: Eine Rede halten. Darin hieß es:

„Wer beginnt in diesen Tagen seine Rede nicht mit dem Hinweis auf die großen Zeiten, in denen wir gerade leben. Auch der Deutsche Bühnenverein ist am Geschehen nicht vorbeigegangen. Wir haben mit den Kollegen der DDR in Berlin diskutiert. Viele Landesverbände haben Solidaritätsaktivitäten gestartet und viele einzelne Theater haben im Austausch mit den Kollegen kooperiert. In der DDR ist der Bühnenbund gegründet worden… Dann wird sich bald die Frage stellen, ob es nicht nur einen Verein geben soll. Meine Damen und Herren, diese Frage haben nicht wir zuerst gestellt, aber wir müssen uns auf eine Antwort vorbereiten. Die DDR hat 16 Millionen Einwohner, 69 Theater, darunter Kinder- und Puppentheater…. Wir (die alte Bundesrepublik, der Verf.) haben 63 Millionen Einwohner (und) 150 Theater…. Der Vergleich ist nicht ganz statthaft, aber doch interessant… Es kommen schwere Zeiten auf unsere Kollegen zu…“

Everding war in dieser Hauptversammlung nicht der einzige Redner. Auch Gabriele Muschter, von Mai bis Oktober 1990 Staatssekretärin im Kulturministerium der DDR, kam zu Wort. Sie spricht „über die Sorgen und Nöte, die fast alle Theater in der DDR jetzt haben,“ und führt weiter aus: „Gründe, Theater zu schließen, sehen wir nicht, denn gerade sie waren durch die Geschichte hindurch geistige Zentren im Leben der Kommunen. Im Gegenteil, ich denke, es ist zu überlegen, ob es nicht auch wichtig ist, die eigenartigen kulturellen Strukturen, die mit einem Stück leidvoller DDR-Geschichte zu tun haben, in den Einigungsprozess einzubringen.“ Und doch geht es in ihrer Ansprache dann um „Verwaltungsapparat verkleinern“, „personelle Veränderungen“, darum, dass sich „Ensembles freimachen müssen von unnötigem Verwaltungsballast und unfähigen Leitungen“, und dass „Künstler künftig über andere Wege und Formen zu ihrer Arbeit kommen müssen.“

Das beschrieb ohne Umschweife die Ausgangslage für das Zusammenwachsen der deutschen Theaterlandschaft. Dennoch sprach man im Juni 1990 nur von einer Zusammenarbeit zwischen dem Bühnenbund, der unmittelbar nach 1989 auf dem Territorium der früheren DDR gegründet worden war, und dem schon bereits nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder ins Leben gerufenen Deutschen Bühnenverein. Von Vereinigung beider Organisationen war zunächst nicht die Rede. Schließlich war es aber dann am 21. Oktober 1990 doch soweit: Bühnenverein und Bühnenbund taten sich zum Deutschen Bühnenverein zusammen und machten die Gestaltung der zukünftigen Theaterlandschaft in Deutschland zu ihrer gemeinsamen Aufgabe. Und der Orchesterlandschaft! Denn der Deutsche Bühnenverein war schon immer auch der Verband der Orchesterunternehmen, dem bis heute an die 100 große Klangkörper angehören.

Aufbruch und Reformerwartungen

Was das für die Theater in der früheren DDR hieß, hatte Arnold Petersen, damals Intendant des Nationaltheaters Mannheim, in einem Interview mit „Theater heute“ bereits im September 1990 formuliert. Zwar sprach er von einem Neuaufbau, von neuen Strukturen und warnte davor, dass die dortigen Theater, damit meinte er die in der DDR, „jetzt einfach so an die westdeutschen Verhältnisse anknüpfen.“ Es gebe ja nicht einmal Rechtsträger, also Länder und Gemeinden, die sich für die Theater und Orchester verantwortlich fühlten. In Stralsund und Weimar habe man ihm erzählt, spätestens im November seien die dortigen Theaterbetriebe pleite. Und dann stellte er die Frage, ob man den bisher in der DDR für die Mitarbeiter der Theater geltenden Rahmenkollektivvertrag nicht zumindest insoweit auf die Theater und Orchester in den alten Bundesländern übertragen könne, als in Zukunft für alle Theatermitarbeiter ein einheitlicher Tarifvertrag gelten solle. Er spielte damit auf die Kritik der Theaterintendanten im Westen an, sieben unterschiedliche Tarifverträge in einem Drei-Sparten-Theater anwenden zu müssen. Fraglich erschien ihm an einem solchen dem Rahmenkollektivvertrag entsprechenden einheitlichen Tarifvertrag nur, dass auch die künstlerischen Mitarbeiter der Theater in der früheren DDR unbefristete Arbeitsverträge hatten, was jeden aus künstlerischen Gründen notwendigen Austausch des künstlerischen Personals letztlich nicht zuließ.

Auch die Dramaturgische Gesellschaft äußerte sich im Februar 1991 zur deutschen Theatersituation. Sie sprach von „Angst und Verunsicherung“, die sich in den Theatern der früheren DDR breitmachten. „Kleinmütigkeit, Buchhalterei und Defensiv-Verhalten müssen abgebaut werden. Die gegenwärtige Debatte ist gekennzeichnet durch Schließungs-Fantasien,“ hieß es in ihrer Stellungnahme. Und auch hier wurden Reformillusionen geschürt, indem man feststellte: „Die derzeitige Umbruchsituation ist die einmalige Chance, die Organisation der Theaterarbeit umzustrukturieren, das Tarifsystem des westdeutschen Theaters nicht nur nach Plan zu übertragen, sondern die Kombination der progressiven Elemente beider Arbeitssysteme zu wagen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen, das den besonderen Bedingungen der Produktion und Präsentation von Theater Rechnung trägt.“

Die Rolle der Übergangsfinanzierung des Bundes

Die finanziellen Probleme, vor denen sowohl Petersen als auch Muschter warnten, wurden aufgefangen durch die ab 1991 gewährte Übergangsfinanzierung des Bundes für die Kultur in den dann entstehenden neuen Ländern. Mit 900 Millionen DM im Jahr startete man in diese Übergangsfinanzierung, um sie dann im Laufe der nachfolgenden Jahre langsam zu reduzieren und schließlich auslaufen zu lassen. Da die Theater und Orchester zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil von dieser Übergangsfinanzierung profitierten, hatte diese praktisch zur Folge, dass viele der Strukturen in den neuen Ländern erhalten bleiben konnten. Ja, zuweilen sahen sich einzelne Rechtsträger in den neuen Ländern dazu berufen, diese Strukturen noch zu verfestigen, etwa dadurch, dass manchem Orchester eine relativ hohe Vergütung zugesagt wurde. Warnungen, das werde man sich in Zukunft, spätestens nach Auslaufen der Übergangsfinanzierung des Bundes, nicht leisten können, wurden gerne in den Wind geschlagen.

So merkwürdig es klingt: Die Übergangsfinanzierung des Bundes für die Kultur in den Neuen Ländern hat also nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sämtliche oben dargestellten Erwartungen, die Vereinigung der deutschen Theater-und Orchesterlandschaft zu einer Systemreform zu nutzen, zunächst unerfüllt blieben. Zwar mag dies auch daran gelegen haben, das bis heute niemand in der Lage ist, zum Ensemble-und Repertoirebetrieb, wie er sowohl in der alten Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR bereits das typische Stadttheater auszeichnete, eine ernsthafte Alternative zu entwickeln, zumindest keine ernsthafte Alternative, die sowohl den künstlerischen Ansprüchen der Theater und Orchester einerseits als auch den Bedürfnissen nach sozialer Absicherung von Mitarbeitern andererseits in ausreichendem Maße gerecht wird. Schon deshalb entwickelte seinerzeit die Bereitschaft, die juristischen Rahmenbedingungen, die für die Theater und Orchester in der alten Bundesrepublik Deutschland galten, auf die neuen Länder zu übertragen, eine zunehmende Dynamik. Entscheidend aber war: Die Übergangsfinanzierung des Bundes erlaubte es, diese juristischen Rahmenbedingungen zu finanzieren.

Zudem nahm nach der dann tatsächlich vollzogenen Wiedervereinigung und der Übertragung des westlichen Rechtssystems auf die neuen Länder die Erwartung zu, auch spezifische tarifliche Regelungen, die auf der Grundlage dieses Rechtssystems entstanden waren, in die dortigen Theater und Orchester zu übernehmen. Und es kam zu einem regen Austausch von künstlerischen Beschäftigten zwischen Ost und West bzw. West und Ost, was zur Folge hatte, dass sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite die Notwendigkeit gesehen wurde, zu gleichlautenden tariflichen Regelungen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland zu gelangen.

Die Übernahme der Theater-Tarifverträge in die neuen Länder

Bereits im Laufe des Jahres 1990 begannen also die Verhandlungen zwischen dem Bühnenverein und der Musikergewerkschaft, der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) mit dem Ziel, den Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) auf die Theater – und Orchesterbetriebe der neuen Bundesländer zu übertragen. Parallel dazu fanden Verhandlungen zwischen Bühnenverein und Künstlergewerkschaften statt, nämlich der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO). Diese Verhandlungen bezogen sich auf die tariflichen Regelungen des künstlerischen Personals. Schon wenige Monate später, also bereits 1991, wurde eine Einigung erzielt, der entsprechend sämtliche tariflichen Theater- und Orchester-Regelungen – mit Ausnahme der Vergütungen, die erst im Laufe der Jahre eine Angleichung erfuhren – auf das damals sogenannte Beitrittsgebiet übertragen wurden. Für die Theater war dies insoweit von großem Vorteil, als die für das künstlerische Personal geltenden tariflichen Regelungen im Sinne der künstlerischen Freiheit außerordentlich flexibel sind. Keine feste Arbeitszeitregelung sowie in weiten Teilen ein befristeter Arbeitsvertrag als Regelvertrag und für Solisten nur eine Mindestgage, also kein Gagengefüge, sind hier als wesentliche Regelungs-Materie zu nennen.

In den Verhandlungen gab es dennoch zwei Aspekte, die deutlich werden lassen, wie zwiespältig diese Übertragung durchaus war.

In dem für die Musiker geltenden TVK existierte schon damals ein § 51, heute § 53 TVK. Diese Vorschrift enthält einen kostenintensiven Sozialplan für den Fall der Verkleinerung oder Auflösung eines Orchesters. Umstritten war es, inwieweit diese Vorschrift auch für die Orchester in den neuen Ländern gelten sollte. Denn schließlich wussten alle, dass die vereinigte Republik von der DDR umfangreiche Orchesterstrukturen geerbt hatte, die, wie oben bereits erwähnt, durch die Übergangsfinanzierung des Bundes teilweise auch noch arbeitnehmerfreundlich aufgebessert worden waren. Zwar konnte man sich schließlich darauf verständigen, dass besagter § 51 TVK in einer Übergangszeit nicht für die Orchester in den neuen Ländern gelten sollte. Jedoch gelang es in dieser Übergangszeit nicht, die Orchesterstrukturen derartig zurückzuführen, dass sie sich heute auf einem problemlos finanzierbaren Niveau befänden. Bemerkenswert aber war, dass sich damals auf Arbeitgeberseite die Haltung breit machte, man möge doch § 51 TVK ruhig für die Orchester der neuen Bundesländer gelten lassen, weil die Sozialplanregelung der genannten Vorschrift den Rechtsträgern ihre Neigung, Orchester zu verkleinern oder gar aufzulösen, zu teuer werden lasse. So diene die Sozialplanregelung praktisch dem Erhalt der Orchester in den neuen Ländern, eine Rechnung, die bis zum gewissen Grad durchaus aufgegangen ist.

Ähnlich verhielt es sich mit der so genannten 15-Jahre-Regelung in den für das künstlerische Personal der Theater geltenden und auf die neuen Länder übertragenen Künstlertarifverträgen. Diese Regelung legt fest, dass nach einer 15 Jahre andauernden Beschäftigung der bestehende Arbeitsvertrag nichts mehr beendet werden kann, enthält also einen Beendigungsschutz (der im Übrigen heute unter bestimmten Voraussetzungen erst nach 19 Jahren greift). Nach einer Beschäftigung von dieser Dauer kann also nur noch eine inhaltliche Veränderung des Arbeitsvertrages – sei es hinsichtlich der Tätigkeit, sei es hinsichtlich der Vergütung – arbeitgeberseits herbeigeführt werden. Für die im künstlerischen Bereich der Theater beschäftigten Mitarbeiter bedeutete eine Übertragung der Vorschrift auf die Theater der neuen Länder, dass alle Schauspieler, Sänger, Tänzer und andere Bühnenkünstler, die in einem DDR-Theater bereits 15 Jahre beschäftigt waren, nicht mehr entlassen werden konnten. Gerade mit Rücksicht auf eine durchaus überhöhte Besetzung der Ensembles der DDR-Theater war dies außerordentlich bedenklich. Interessanterweise sprachen sich aber auch hier viele Arbeitgeber aus den betroffenen Theatern für eine solche Übertragung aus, weil sie der Auffassung waren, ein Theater könne nicht mehr geschlossen werden, wenn es über eine hohe Anzahl von nicht mehr aufzulösende Arbeitsverträgen mit künstlerischen Mitarbeitern verfüge. Und so kam es dann zu der Übertragung der so genannten 15-Jahre-Regelung auf die Theater der neuen Länder, was natürlich später die Betriebe ebenfalls vor erhebliche Finanzierungschwierigkeiten stellen sollte.

Die Finanzierungsschwierigkeiten nehmen zu – der Haustarifvertrag mit Gehaltsverzicht

Wie konnte man diese Finanzierungsschwierigkeiten nun bewältigen? Sehr schnell stellte sich heraus, dass zu den gegebenen tariflichen Regelungen viele, vor allem kleinere Theater oder Orchester in den neuen Ländern nicht zu betreiben waren. Die Sorge, aus der angespannten finanziellen Situation könnte sich doch die Schließung einzelner Einrichtungen ergeben, nahm erheblich zu, als der Berliner Senat 1993 das Schillertheater und mit ihm das Schlossparktheater im Westteil der Stadt schloss. Sie ließ bei den Gewerkschaften die Bereitschaft entstehen, für Theater und Orchester in den neuen Ländern haustarifvertraglich teilweise erhebliche Kürzungen der Vergütungen zu vereinbaren, um im Gegenzug betriebsbedingte Beendigungen von Arbeitsverhältnissen in diesen Haustarifverträgen auszuschließen. Am Anfang war man der Überzeugung, diese Haustarifverträge seien ein vorübergehender Zustand für einzelne Betriebe. Man nahm an, während der Laufzeit des Haustarifvertrages werde im jeweiligen Betrieb durch sogenannte natürliche Fluktuation (Ruhestand, Wechsel an ein anderes Theater) das Personal sozialverträglich abgebaut, so dass nach Auslaufen des Haustarifvertrags an alle wieder die flächentarifvertragliche Vergütung gezahlt werden könnte. Diese Annahme erwies sich aus zwei Gründen als trügerisch. Erstens stellte sich in vielen Fällen heraus, dass nicht jede freiwerdende Stelle unbesetzt bleiben konnte, wollte man den bisherigen Spielbetrieb aufrechterhalten. So kam es zwar zu einem Personalabbau, der aber keineswegs ausreichte, um nach Auslaufen des Haustarifvertrages die notwendige Vergütungsanpassung vorzunehmen. Zweitens hatte man nicht erkannt, dass an manchen Standorten dauerhaft ein Theater oder Orchester nicht zu den bisherigen flächentarifvertraglichen Bedingungen unterhalten werden konnte. Insoweit wurden die Haustarifverträge regelmäßig wieder verlängert, so dass bis heute der größte Teil der Theater- und Orchestermitarbeiter in den neuen Ländern einen Gehaltsverzicht leistet.

Die Fusion und dann doch: Die Reform

Parallel dazu wurden zwei weitere Entwicklungen eingeleitet. Man prüfte zum einen an manchen Standorten, ob es möglich sein könnte, Theater und/oder Orchester miteinander zu fusionieren. Zu solchen Fusionen kam es etwa in Altenburg/Gera, Greifswald/Stralsund, Halberstadt/Quedlinburg, Freiberg/Döbeln oder Plauen/Zwickau. Als dann Ende der neunzehnhundertneunziger Jahre im Freistaat Thüringen die Fusion des Nationaltheaters Weimar mit dem städtischen Theater Erfurt ins Gespräch kam, stellte sich schnell heraus, dass solchen Fusionsüberlegungen aus politischen Gründen Grenzen gesetzt waren. Vor allem das Nationaltheater Weimar konterte diese Überlegungen mit dem so genannten „Weimarer Modell“, das gerade mit Rücksicht auf die eingangs zitierten Reformbestrebungen viel öffentliche Aufmerksamkeit erreichte. Bei genauem Hinsehen entpuppte sich dieses Modell jedoch letztlich als ein Haustarifvertrag mit Gehaltsverzicht. Das hatte für die Theater und Orchester in den neuen Ländern weitreichende Bedeutung, weil damit die Haustarifverträge, die für einzelne Theater und Orchester in den neuen Ländern bisher meist hinter verschlossenen Türen abgeschlossen worden waren, ein hohes Maß an politischer Aufmerksamkeit erfuhren und hoffähig wurden. Auch dies hat dazu beigetragen, dass sich die Praxis, mit Haustarifverträgen die Vergütungen herunterzufahren, in den Theatern und Orchestern der neuen Länder verfestigte.

Die zweite Entwicklung lag in der dann doch eingeleiteten Reform der öffentlich getragenen Theater und Orchester. Sie ist insofern interessant, als mit dieser Reform dann schließlich doch an die oben geschilderten, nach der Wiedervereinigung geäußerten Reformerwartungen zumindest teilweise angeknüpft wurde. Zur Einleitung einer solchen Reform hatte der Bühnenverein Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre einige Papiere vorgelegt, die zusammengefasst zwei Vorschläge enthielten: Entbürokratisierung und Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. Während die erste Maßnahme durch die Betriebe selbst herbeigeführt werden musste, etwa durch die Herauslösung von Theatern aus der städtischen oder staatlichen Verwaltung oder auch nur durch die Rationalisierung von – teilweise infolge von personalvertretungs- bzw. betriebsverfassungsrechtlichen Vereinbarungen bestehenden – theater- und orchesterinternen Arbeitsabläufen, erwies sich die zweite Maßnahme als deutlich schwieriger. Trotz einiger vor allem vom Bühnenverein formulierter Vorschläge gesetzlicher Änderungen zeigte sich die Politik in dieser Frage äußerst zurückhaltend.

Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen der Theater und Orchester konnten also nur herbeigeführt werden durch eine mehr oder weniger massive Umgestaltung von tariflichen und vergleichbaren Regelungen. Dieser hochkomplizierte Prozess fand dann in der Zeit bis 2009 vor allem mit dem Ziel einer Flexibilisierung von Arbeits-und Produktionsbedingungen statt. So kam es 2002 zum Abschluss eines vollständig neuen Tarifvertrags für das künstlerische Personal, der insgesamt fünf zuvor geltende Tarifverträge zu einem Tarifvertrag, dem Normalvertrag Bühne (NV Bühne), zusammenfasste. Am 31. Oktober 2009 wurde dann ein ebenfalls reformierter Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) abgeschlossen. Auch die zwischen dem Deutschen Bühnenverein und dem Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage abgeschlossene sogenannte Regelsammlung, in der die Konditionen für die Übertragung von Aufführungsrechten einschließlich der zu zahlenden Urhebervergütung festgelegt sind, wurde durch die Neufassung vom 1. August 2005 wesentlich verändert. Parallel dazu reformierte auch der öffentliche Dienst seine Tarifverträge, was insoweit für die öffentlich getragenen Theater von Bedeutung war, als dass das nichtkünstlerische Personal dieser Betriebe auf der Grundlage der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes beschäftigt wird. Sämtliche Maßnahmen ermöglichten es, im Laufe der gleichen Zeit die Anzahl der Arbeitsplätze in den öffentlich getragenen Theaterbetrieben (einschließlich ihrer Orchester) ganz Deutschlands von seinerzeit 45.000 Mitarbeitern auf heute etwa 39.000 zu reduzieren. Dabei blieb das künstlerische Angebot der genannten Institutionen zwar weitgehend erhalten. In vielen Theatern wurde aber erkennbar, dass die sich aus dem Personalabbau ergebenden Probleme zu veränderten Produktionsweisen führten, etwa durch einen deutlicher dem Stagione angelehnten Spielplan mit stärkerem Projektcharakter. Daraus ergab sich wiederum die Konsequenz, dass die Anzahl der unständig Beschäftigten der Theater und Orchester in der gesamten Bundesrepublik Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre ca. 8000 Verträgen auf heute etwa 25.000 Verträge zunahm.

Zu fragen ist nun, ob diejenigen, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine Reform der öffentlich getragenen Theater und Orchester im Auge hatten, tatsächlich diese Veränderung wollten. Denn mittlerweile macht sich die Erkenntnis breit, dass das, was Reform sein sollte, tatsächlich nichts anderes war, als eine Verschlechterung von sozialen Bedingungen im Bereich der darstellenden Kunst. Und so ist es nicht verwunderlich, dass nun Gegenkräfte zu wirken beginnen. Sie liegen nicht nur in einem sich wieder verstärkenden gewerkschaftlichen Engagement, sondern auch in der Gründung verschiedener auf größere Gerechtigkeit bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen der Theater abzielende Initiativen. Ernste Bestrebungen, die Arbeitsbedingungen im Bereich der darstellenden Kunst wieder zu verbessern, sind auch bezogen auf Arbeitgeberseite nicht mehr zu übersehen, bedenkt man alleine, dass zu Beginn der laufenden Spielzeit 2015/16 die für Solisten, also etwa Schauspieler, geltende tarifliche Mindestgage von monatlich 1.650 € auf 1.765 € brutto heraufgesetzt wurde. Und verhandelt wird schon jetzt über eine weitere Steigerung.

Fazit

Am Ende lässt sich feststellen: Die Theater-und Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland, mittlerweile auf der deutschen Liste des immateriellen Kulturerbes, konnte durch die schweren Zeiten finanzieller Zwänge der Wiedervereinigung nicht ernsthaft in Gefahr gebracht werden wenngleich nicht ganz ohne Blessuren, wie etwa auch der Schließung der Mitteldeutschen Landesbühne in Wittenberg oder des Kleisttheaters in Frankfurt/Oder. Veränderungen im Betrieb dieser Kulturinstitutionen sowie Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen trugen und tragen wesentlich dazu bei. Was bis heute in den neuen Ländern fehlt, ist eine parallel dazu sich aufbauende aus Privattheatern und freien Gruppen bestehende Theaterszene. Entscheidend ist jedoch, dass es die Theater und Orchester in Deutschland geschafft haben, sich so weiterzuentwickeln, dass künstlerisch ein vielfältiges Programm gewährleistet ist und dass im künstlerischen Schaffen ein Unterschied zwischen Theatern und Orchestern in West und Ost weitgehend nicht mehr besteht.

Wie geht es eigentlich Hamlet? Über Kulturpolitik und gesellschaftliche Verantwortung

Seit Monaten gibt es eine intensive Diskussion über die soziale Lage der Künstler. Initiativen wie „art but fair“ oder „Ensemble Netzwerk“ genießen höchste Aufmerksamkeit. Ihre Forderungen müssen in einem kulturpolitischen Zusammenhang gesehen werden. Der Artikel wurde im Mai 2017 in leicht veränderter Fassung im Diskussionsforum „kreuz und quer“ veröffentlicht.

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„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit,“ hat Karl Valentin einmal gesagt. Dieser Satz wird gern zitiert, leider jedoch ohne sich über seine Schattenseite allzu viele Gedanken zu machen. Die Lust an der sinnlichen Wahrnehmung steht für uns, die sich mit Kunst befassen und auseinandersetzen, im Vordergrund. Und wenn wir uns doch einmal interessieren für den Menschen hinter dem Kunstwerk, dann sehen wir am liebsten den Bonvivant, den Lebenskünstler wie Picasso, oder dass eher verrückte Genie wie Salvatore Dali. Allenfalls das abgeschnittene Ohr eines van Gogh gibt uns zu denken. Dass am ehesten die Assoziation des arme Poeten à la Spitzweg nahe läge, wird gerne verdrängt, im Zweifelsfall noch romantisch verklärt. In der täglichen kulturpolitischen Rezeption des künstlerischen Schaffens trifft man sogar auf die wohl mehr als gewagte These, erst ein armer Künstler sei ein guter Künstler.

Nun mag man sagen, der Maler, der Bildhauer und der Schriftsteller hätten es ja noch leicht. Schließlich arbeiten sie alleine, brauchen nur ihr Material oder den die klassische Schreibmaschine heute ersetzenden Computer. Ganz so einfach ist es nicht. Nicht nur, dass auch dies Geld kostet. Es geht zudem um Platz für Ateliers, um Ausstellungs- und Ankaufetats von Museen, um Künstlerförderung im weitesten Sinne. Und schon wird deutlich, dass Kulturpolitik, gleichgültig ob die es Bundes, der Länder oder der Kommunen, eben doch ganz oft die mal mehr, mal weniger gescheite Verteilung von öffentlichen Mitteln bedeutet. Erst recht gilt das, wenn wir uns vom künstlerischen Schaffen im Sinne eines Schöpfungsaktes des Einzelnen hinwenden zur überwiegend im Kollektiv entstehenden darstellenden Kunst einschließlich der Musik. Man könnte es auch so sagen: Weder hat Wagner beim Komponieren des „Lohengrin“ noch Mussorgskij bei seinem „Boris Godunow“ darüber nachgedacht, was die Aufführung einer großen Choroper im 21. Jahrhundert kostet, und es ist hinzuzufügen, Gott sei Dank haben sie das nicht. Selbst Shakespeares „Sommernachtstraum“ fordert die Besetzung von fast 20 Rollen und eine halbwegs gut ausgestattete Tanzkompanie verfügt über Tänzer in gleicher Anzahl.

In den letzten 20 Jahren bekam man zuweilen den Eindruck, dass Kulturpolitik weniger in der Verteilung, denn in der Kürzung von öffentlichen Mitteln für die Kunst bestand. Schon lange müssen sich viele städtische und staatliche Museen ihren Ankaufsetat auf dem Markt der privaten Geldgeber selbst besorgen oder eine auf den ersten Blick großzügige Schenkung einer privaten Sammlung akzeptieren, an deren Gestaltung sie keinen Anteil hatten. Künstler erhalten kaum noch eine Ausstellungsvergütung, obwohl das Ausstellungsrecht ein Urheberrecht ist, für dessen Verwertung das maßgebende Urheberechtsgesetz einen unabdingbaren Anspruch auf angemessene Vergütung vorsieht. Und wie geht es eigentlich Hamlet? Nun, wenn der ihn darstellende Schauspieler an einem der vielen kleinen Stadttheater tätig ist, dann verdient er etwa 2.000 Euro im Monat, brutto versteht sich, und Hamlet ist eine seiner sechs Rollen, mit denen er zurzeit auf der Bühne steht, zusätzliche Proben natürlich ausgenommen. Dass er Künstler ist, ja sogar ein Freiheitsrecht für sich in Anspruch nehmen darf, ist ehrenvoll und stärkt sein Selbstbewusstsein, nützt aber wenig.

An dieser Stelle begegnet der kulturpolitisch aktive Zeitgenosse dann dem unausweichlichen Einwand, der öffentlichen Hand fehle es an Geld, Kultur sei außerdem eine freiwillige Aufgabe. Man kann diesem Einwand bereits begegnen mit in ihm selbst liegenden Gegenargumenten: Wofür wird nicht alles viel Geld ausgegeben und wieso kann man bei den Pflichtaufgaben nicht sparen? Schließlich fließt nur etwa ein Prozent der öffentlichen Ausgaben in Kunst und Kultur. Entscheidend sind aber wohl die gesellschaftspolitischen Fragen, die sich stellen, etwa was die Zukunft der Stadt ist. … Begriffe wie Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt , Kreativität, Erhalt des kulturellen Erbes, Gestaltung des öffentlichen Raums und Inklusion stehen im Mittelpunkt des Diskurses. Wann war das alles je wichtiger als heute in den Zeiten eines unerträglichen Rechtspopulismus? Es geht darum, die Diskursfähigkeit der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, ja auch ihre Demokratiefähigkeit. Es geht darum, der Isolation des Einzelnen entgegenzuwirken, ihn in den öffentlichen Raum zurückzuholen. Und es geht darum, die Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenzuführen. Dass das alles Aufgabe der öffentlichen Kultureinrichtungen ist, das haben diese schon lange verstanden, wenngleich das nicht bedeuten kann, dass sie ihre ureigenste Aufgabe, die der Kunstvermittlung, aus den Augen verlieren dürfen. Jedenfalls aber verlassen sie ihren zentralen Raum und öffnen sich in die Stadt, gestalten künstlerisch-soziale, auch pädagogische Projekte, veranstalten Bürgertheater. Das alles zu fördern und zu pflegen ist Kulturpolitik in gesellschaftlicher Verantwortung

Doch Kulturpolitik in gesellschaftlicher Verantwortung heißt auch, der schon gestellten Frage nach den sozialen Rahmenbedingungen für die Kunst nachzugehen. Bei den Kürzungen öffentlicher Zuwendungen etwa für ein Stadttheater gerät gerne aus dem Blick, dass jede dieser Kürzungen auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen wird. Weniger Geld für ein Theater heißt für die dort beschäftigten Schauspieler, Sänger, Tänzer und anderen künstlerisch Beschäftigten weniger Arbeitsplätze, mehr arbeiten und weniger verdienen. Das ist anderswo zwar nicht anders, aber, soweit es um öffentliche Einrichtungen, also den Staat im weitesten Sinne geht, auf einem bei weitem höheren und stabileren Gehaltsniveau, zumindest aber meist mit unbefristeten Arbeitsverhältnissen, über die kein darstellender Bühnenkünstler verfügt. Denn er oder sie werden wegen der Freiheit der Kunst ausschließlich befristet beschäftigt. Gerade das sollte Stadt und Staat veranlassen, sie vor allzu großen finanziellen Einbußen zu schützen.

Die Frage ist, was hilft? Nun, zunächst die ausreichende Finanzausstattung vor allem für die Kommunen, die den größten Anteil der öffentlichen Kulturförderung tragen. Sie brauchen ausreichende finanzielle Mittel, um ihre soziale und kulturelle Infrastruktur zu finanzieren, auch im Bereich der freiwilligen Aufgaben. Denn die Stadt lebt nicht allein von ihrem gut funktionierenden Einwohnermeldeamt, sondern insbesondere von den Dingen, die ihre Lebensqualität ausmachen. Das sind Kultureinrichtungen, Sportanlagen, Freizeitangebote jeder Art, aber auch gute und gut ausgestattete Schulen und Kindergärten. Dafür brauchen wir in der Politik eine neue Debatte über die Prioritäten politischen Handelns. „Zuletzt: Kultur“, wie einmal unter Anspielung auf die Tagesordnung von Berliner Kabinettssitzungen das Buch eines früheren dortigen Kultursenators hieß, ist die falsche Priorität. Ebenso wenig nutzt es etwas, wenn politische Parteien auf Bundesebene die Bedeutung von Kultur und Bildung hervorheben, um dann auf Landesebene oder in der Kommune scharfe Sparbeschlüsse für diese Bereiche zu fassen. Nein, wollen wir unsere Position in der Welt behaupten, bedarf es der Investition in das Denken, in die Phantasie und die Kreativität. Deutschland ist heute ein rohstoffarmes Land, es hat vor allem eine Ressource, das ist der Kopf der Menschen. In ihn zu investieren lohnt sich. In jeder Hinsicht.