Eigentlich ist eine öffentlich getragene Kultureinrichtung wie etwa ein Stadt- oder Staatstheatertheater, ein städtisches Sinfonieorchester oder Museum ein Fremdkörper. Zum einen ist sie öffentlich organisiert, meist als Regiebetrieb, also als Teil der öffentlichen Verwaltung, oder als eher selbstständiger, aber dennoch städtischer Eigenbetrieb bzw. als öffentlich getragene GmbH. Zum anderen produziert sie Kunst, genießt also den Schutz eines eigentlich gegen den Staat gerichteten Freiheitsrechts, hier des Rechts der Freiheit der Kunst. Dieses Grundrecht erfährt durch Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz eine besondere Stärkung. Es kann nicht einmal, wie es bei anderen Grundrechten möglich ist, durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden, ist also ein sogenanntes schrankenloses Grundrecht. Dementsprechend muss die künstlerische Freiheit nur zurückstehen, wenn kollidierendes Verfassungsrecht, das schützenswerte Grundrecht eines anderen oder andere wichtige Güter von Verfassungsrang das gebieten.
Dieses Spannungsverhältnis wird in der Regel dadurch aufgelöst, dass dem künstlerischen Leiter der öffentlichen Kultureinrichtung die Befugnis eingeräumt wird, künstlerische Entscheidungen autonom zu treffen. Für den Intendanten eines Theaters (oder Theaterfestivals) bedeutet das, dass er vor allem über den Spielplan, die engagierten Künstler und die Besetzung von Rollen frei entscheiden kann. Der öffentliche Träger hat keine Möglichkeit, in diese Entscheidungen einzugreifen, und darf eine solche auch nicht haben. Alles andere wäre mit Artikel 5 Grundgesetz nicht zu vereinbaren. Zudem liegt gerade in der freien künstlerischen Gestaltungsmöglichkeit der Reiz für das Publikum.
Die Auseinandersetzung um die Einladung der „Young Fathers“ durch die Ruhrtriennale bewegt sich genau in diesem Bereich. Diese Einladung ist zunächst eine künstlerische Entscheidung der Intendantin, eine Entscheidung, die von verschiedenen Überlegungen getragen sein mag. Sie ist durchaus wegen des Engagements der Band für die israelkritische BDS-Bewegung diskussionsbedürftig. An dieser Diskussion kann sich selbstverständlich auch der Ministerpräsident des Landes NRW beteiligen. Und er sollte das sogar tun. Mit der Entscheidung, die Ruhrfestspiele wegen der Einladung der Band nicht zu besuchen, schießt Laschet jedoch über das Ziel in zweifacher Hinsicht hinaus. Einmal übt er damit als Träger der Triennale öffentlichen Druck auf die Intendantin aus, was angesichts des oben beschriebenen Spannungsverhältnisses zwischen staatlicher Trägerschaft und Freiheit der Kunst äußerst fragwürdig ist. Außerdem rückt er die Leitung des Festivals mit dem von ihm gebrauchten Antisemitismus-Argument in die eine Ecke, wo sie nun beileibe nicht hingehört. Zwar ist die Entscheidung Laschets juristisch nicht zu beanstanden, weil sie nicht rechtlicher Natur ist. Sie lässt aber leider mangelndes Verständnis für die künstlerische Freiheit und für eine offene Debattenkultur vermissen. Diese Kultur zu pflegen ist aber gerade auch angesagt, wenn es um das Verhalten und die Einstellung von Künstlern jenseits ihres künstlerischen Schaffens geht. Kunst und Künstler bedürfen der Diskussion, Auftrittsverbot oder Auftrittsboykott müssen die auf extreme Fälle beschränkte Ausnahme bleiben.
Schwieriger ist die juristische Beurteilung schon bezogen auf die Münchener Kammerspiele und die Mitunterzeichnung des Aufrufs zur Demonstration „#Ausgehetzt“. Denn hier geht es zunächst nicht um eine künstlerische Entscheidung des Intendanten. Hier geht es vielmehr um die Frage, wie weit die dem Theater und seiner Leitung zustehende Kunstfreiheit reicht, wenn es um Meinungsäußerungen unterschiedlicher Art geht. In der Diskussion der vergangenen Jahre hat das vor allem eine Rolle in der Debatte vor Ort über eine von dem jeweiligen Theaterträger in Aussicht genommene oder sogar beschlossene Kürzung der öffentlichen Zuschüsse gespielt. Darf das Theater öffentlich dagegen Stellung beziehen, ja den Träger sogar scharf kritisieren oder gebietet es die Loyalität zum eigenen Träger, diese Debatte hinter verschlossenen Türen zu führen, wie mancher Oberbürgermeister immer wieder forderte? Hier lautet die eindeutige Antwort: Der Intendant darf sich in dieser Frage deutlich öffentlich positionieren, zumal die meisten Intendantenverträge den Passus enthalten, dass der Intendant das Theater „nach außen vertritt“.
Doch der Demonstrationsaufruf geht weiter als eine Kritik an der Theaterpolitik des Trägers. Öffentliche Kultureinrichtungen, vor allem Theater, sind aber nun einmal öffentliche Diskursräume. Sie werden bewusst von der öffentlichen Hand vorgehalten und finanziert, um zur Meinungsbildung der Bevölkerung beizutragen. Daraus ergibt sich bis zu einem gewissen Grad das Recht und die Pflicht, politisch Position zu beziehen, vor allem, wenn es um Demokratie, Menschenrechte und ähnlich wichtige Rechtsgüter geht. Wo die Grenze liegt und wo sie überschritten wird, ist eine Frage des Einzelfalls. Im Falle des Demonstrationsaufrufs der Münchener Kammerspiele kann eine solche Grenzverletzung kaum angenommen werden. Der Demonstrationsaufruf benennt zum einen als Zielsetzung eindeutig die demokratische Grundordnung, Bildung und Aufklärung, die Einhaltung von Menschenrechten, den gerechten Welthandel, die Behebung der Wohnungsnot und die Gleichberechtigung. Zum anderen wurde die augenblickliche Leitung der Münchener Kammerspiele eindeutig mit dem Wunsch nach einer stärkeren politischen Positionierung des Theaters berufen. Schon gleich zu Beginn der Intendanz realisierte Lilienthal diesen Auftrag mit seinem urbanen Projekt der „ShabbyShabby Apartments“, das gegen den überhitzten Münchener Wohnungsmarkt ein Zeichen setzte.
Die kurze Analyse zeigt, die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut, gibt auch öffentlich getragenen Kultureinrichtungen einen erheblichen Freiraum und sollte sorgsam behandelt werden. Es ist ein Stück einer gelebten Demokratie, die es offenkundig mehr denn je zu verteidigen gilt.
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