Theater und Orchester im Umgang mit Ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus

Am 15. September 2018 veranstaltete die Musikhochschule in Köln zusammen mit der Deutschen Orchestervereinigung, dem Verband der in den Orchestern beschäftigten Musiker und zugleich deren Gewerkschaft, eine Fachtagung zum Thema „Theater und Orchester im Nationalsozialismus“. Anlass war die in den letzten Jahren aufgeflammte Diskussion um den im Nationalsozialismus besonders propagierten Begriff der sogenannten „Kulturorchester“, der noch heute im geltenden Tarifvertrag der Orchestermusiker ebenso verwendet wird wie in der Versorgungseinrichtung der Konzert- und Musiktheaterorchester. In diesem Zusammenhang befasste sich Rolf Bolwin in seinem Vortrag mit der Frage, wie die Theater und Orchester hierzulande mit ihrer Geschichte umgehen.

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1846 war ein bemerkenswertes Jahr. Wer nachschaut, was es in diesem Jahr Besonderes gab, stößt auf einige nicht unwichtige   Ereignisse. Adolph Sax beispielsweise erhielt in Frankreich sein Patent für das Saxophon, Carl Zeiss eröffnete seine erste feinmechanische und optische Werkstatt in Jena. Die Feuerwehr in Heidelberg wurde ebenso gegründet wie die Staatsanwaltschaft in Berlin. Bayern führte offiziell ein, den Landesnamen zukünftig statt mit „i“ mit „y“ zu schreiben, damals hatte man noch echte Sorgen. Und es wurde der Deutsche Bühnenverein gegründet, dessen Geschäftsführender Direktor ich von 1992 bis 2016 sein durfte. Vielleicht sollte man sich, bevor wir uns ernsteren Dingen zuwenden, noch einmal kurz erinnern, was der Anlass für seine Gründung war. Es war das Vertragsbruchunwesen. Schauspieler ließen von heute auf morgen ein Theater im wahrsten Sinne des Wortes einfach sitzen, um bei einem anderen Theater, das bessere Vertragskonditionen bot, anzuheuern. Das war für das verlassenen Theater eine wahre Katastrophe, hatte man doch etwa für die abendliche Hamlet-Vorstellung alles Mögliche, nur keinen Hamlet. Telefon, geschweige denn Handys oder gar Internet, womit eine zügige Ersatzbeschaffung möglich gewesen wäre, gab es bekanntlich 1846 noch nicht. Und so tat man das, was als Einziges möglich war, man gründete einen Verein, den Bühnenverein, um in diesem festzulegen, dass kein Theater mehr einen Schauspieler, der ein anderes Theater schmählich verlassen hatte, engagierte. Ob dieser Vereinszweck erfolgreich realisiert werden konnte, lasse ich einmal dahingestellt. Noch heute gilt bei allem modernen Vertragsrecht, das zwischenzeitlich auch in die Stadttheater Einzug gehalten hat, zuweilen weniger der Grundsatz „pacta sunt servanda“ als die Erkenntnis „Reisende soll man nicht aufhalten“.

Dass wir einiges über den Bühnenverein genau wissen, verdanken wir Eugen Schöndienst, meinem Vorvorgänger im Amt des Bühnenvereinsdirektors. Er hat eine zweibändige Geschichte über ihn geschrieben, in der vieles über diesen traditionsreichen Theater- und später auch Orchesterverband ausgebreitet wird. Es ist eine wichtige Arbeit, immerhin ist der Bühnenverein neben dem 1825 gegründeten Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine der ältesten Vereinigungen dieser Art in Deutschland. Interessant zu sehen ist, wie sich im Laufe der Jahrzehnte die Theater und Orchester bis hin zu ihrer heutigen Struktur entwickelt haben und wie sehr die Geschichte dieser Kulturinstitutionen mit der des Bühnenvereins verwoben ist. Der erste Band dieser historischen Betrachtung befasst sich mit der Zeit von 1846 bis 1935. Darin befinden sich Kapitel mit der Überschrift „Die letzten Vorkriegsjahre“, „Im ersten Weltkrieg“ oder „Die nur halb wahre Geschichte von den goldenen zwanziger Jahren“. Dem folgt nur noch das Kapitel „Übergang und Ausgang“, in dem man zwar geschildert bekommt, wie es zur Auflösung des Verbandes kam, die 1935 durch den Präsidenten der Reichstheaterkammer verfügt wurde. Wenig aber erfährt der Leser darüber, welche Rolle der Bühnenverein dabei selbst gespielt hat und wie sehr zuvor die vom Bühnenverein mindestens hingenommene, wenn nicht sogar mitgetragene Gleichschaltung der Theaterbetriebe den Boden für diese Auflösung geschaffen hatte. Und so bezeichnet Schöndienst sie als „Gnadenstoß“, was ein vorheriges Dahinsiechen suggeriert, aber kaum erklärt.

1996 hat der 1846 gegründete Bühnenverein sein 150-jähriges Bestehen gefeiert hat. Solche Daten sind ein freudiges Ereignis, auch der Bühnenverein hat es in seinem Gründungsort Oldenburg am dortigen Staatstheater mit einer Rede des Bundespräsidenten und großem Bahnhof gefeiert. Auch mit einer Uraufführung einer von ihm bei dem Komponisten und späteren Intendanten der Ruhrtriennale Heiner Goebbels in Auftrag gegebenen Komposition „Nichts weiter“. Dieser Komposition wurde die Stimme des gerade in Fragen der Verstrickung in den Nationalsozialismus so umstrittenen Gustav Gründgens, nach dem zweiten Weltkrieg drei Jahre Präsident des Bühnenvereins, unterlegt, unter anderem mit dem Hamlet-Zitat „Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu Unbekanntem flieh´n“, ein Zitat, das – gerade gesprochen von Gustav Gründgens – anlässlich des die Nazizeit einschließenden Jubiläums des Bühnenvereins und dessen Rolle in dieser Zeit an der richtigen Stelle bohrte.

Und darum ging es. Wir alle erinnern uns der vielen runden nach 1945 begangenen Geburtstage, die die dunkle Vergangenheit aus der Nazizeit einfach verschwiegen, selbst wenn diese Geburtstage von Unternehmen begangen wurden, die ab 1933 zunehmend jüdischen Eigentümern auf verschiedenstem Wege aus den Händen gerissen wurden. Für eine Institution wie den Bühnenverein durfte es 1996 nicht bei den eher zurückhaltenden Feststellungen aus der von Eugen Schöndienst verfassten Publikation bleiben. Der Bühnenverein beauftragte deshalb den damaligen Redakteur der von ihm herausgegebenen und auch 1933 schon existierende Theaterzeitschrift „Die deutsche Bühne“, Knut Lennartz, unter dem Titel „Theater, Künstler und die Politik“ mit einer dokumentarischen Aufarbeitung der Geschichte des Bühnenvereins die bisherige Veröffentlichung zu ergänzen und vor allem die Verstrickung des Verbandes in die Nazizeit genauer zu beschreiben. Und schon diesem Text fehlt es nicht an klaren zutage geförderten Erkenntnissen, sowohl im Umfeld der Auflösung des Vereins als auch hinsichtlich seiner Neugründung nach 1945. Lennartz hat dann später auf Bitten des Bühnenvereins zahlreiche weitere Dokumente gesichtet und mit einem Bericht an Vorstand und Präsidium ergänzt. Aus all diesen Texten ergibt sich insgesamt folgendes Bild:

  1. Relativ frühzeitig hat sich der Bühnenverein den neuen Machthabern angedient und sich auf deren ideologische Vorgaben eingestellt. Im Mai 1933 äußert der damalige Präsident des Bühnenvereins, Dr. Otto Leers, in der „Deutschen Bühne“, es sei „freudig (zu) begrüßen, dass die mächtige nationale Bewegung und die von ihr getragene Regierung das Theater als Stätte nationaler Kunst stützen und für die Ausbreitung und Vertiefung deutscher Kultur nützen“ wolle. Er spricht vom Theater als „nationale Kunststätte für das ganze Volk“. „Nur echte und gute Kunst“ dürfe , so führt er weiter aus, auf die Bühne kommen, „weil anders man sich am nationalen Geist versündigen würde“. In der 73. Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins am 16. November 1933 in Berlin schließt der damalige Direktor Franz Josef Scheffels die Veranstaltung mit einem „Gedenken“ an die „Männer, die es dem Deutschen Bühnenverein ermöglichen, der neuen deutschen Kunst zu dienen“ und mit einem Siegheil auf Goebbels und Hitler.
  2. In der Zeit von Januar bis Oktober 1933 wurden vom „Preußischen Theaterausschuss“ 65 Intendanten und Direktoren staatlicher und städtischer Theater bestätigt, darunter 44, die neu im Amt waren. „Insgesamt wurden in der Spielzeit 1933/34 an deutschen Theatern 75 Intendanten neu berufen“, stellt Lennartz fest und erinnert daran, dass der erwähnte Preußische Theaterausschuss nicht nur von Hans Hinkel, einem Goebbels-Vertrauten, geleitet wurde, sondern auch der oben schon erwähnte Bühnenvereinspräsident Leers diesem Gremium angehörte. Und Leers war auch völlig bewusst, was er tat. Denn in dem bereits zitierten Text in der „Deutschen Bühne“ betonte er, dass die von ihm dort vertretene Einschätzung auch „in Folge der Gleichschaltung“ – in den Theatern versteht sich – von der Mitgliederversammlung sicher geteilt werde. Dass diese Gleichschaltung sich natürlich auch auf die Rechtsträger, die damals schon im Bühnenverein ihre Bedeutung hatten, bezog, sei hier nur der Vollständigkeit halber noch einmal ausdrücklich erwähnt. Dennoch wurde Leers 1934 durch den der NSDAP und der SS angehörenden Generalintendanten der Münchener Staatstheater Oskar Wallek als Präsident des Bühnenvereins ersetzt. Dessen Ernennung erfolgte aber nicht mehr durch den Verband selbst, sondern bereits durch die am 1. August 1933 gegründete Reichstheaterkammer. Dies nun war erst durch eine vorhergehende Satzungsänderung, die der Bühnenverein beschloss, möglich geworden.
  3. Auch in Spielplanfragen wurde man beim Bühnenverein konkret und vereinbarte 1933, „dass möglichst bald von autorisierter Stelle Mitteilungen über die zulässigen Spielpläne herausgegeben werden sollen“. In diesem Sinne stellte der Bühnenverein auch einen Antrag an den Präsidenten der Reichstheaterkammer, mit der Folge, dass am 27. September 1933 dort ein Reichstheaterdramaturg angestellt wurde, um das nationalistische Gedankengut im Theater durchzusetzen.
  4. Wie schon erwähnt hat sich der Bühnenverein durch Satzungsänderungen ohne Zweifel selbst zur Auflösung angeboten, zuletzt in der 74. Mitgliederversammlung am 24. Juli 1935. Dort wurde mit einem neuen § 15 a eine Satzungsänderung beschlossen, in der es hieß: „Der Präsident der Reichstheaterkammer kann Vorschriften dieser Satzung aufheben und ändern. Er kann Befugnisse der Organe des Deutschen Bühnenvereins selbst ausüben oder durch von ihm Beauftragte ausüben lassen.“ Wer angesichts solcher Preisgaben der Verbandsautonomie den Eindruck zu erwecken sucht, was lange Zeit nach dem Krieg durchaus geschah, der Bühnenverein sei gegen seinen Willen vom Naziregime aufgelöst worden, befand sich weit weg von der Realität.
  5. Als dann nach dem zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Naziregimes der Deutsche Bühnenverein in den drei Westzonen wiedergegründet wurde, waren daran, wie Lennartz in „Theater, Künstler und die Politik“ ausdrücklich hervorhebt, zwar auch Opfer des Faschismus wie z. B. Ida Ehre beteiligt. Dennoch bemühte man sich wenig um das Thema Vergangenheitsbewältigung. Das ist etwa daran zu erkennen, dass 1952 der bereits oben mit den den Nationalsozialisten gefügigen Worten zitierte Franz Josef Scheffels, später auch in der Reichstheaterkammer aktiv, wieder zum Geschäftsführenden Direktor bestellt wurde. Auch Schöndienst erwähnt diese Bestellung in seiner zweibändigen Ausgabe der Geschichte des Bühnenvereins und erklärt diese allerdings mit den Erfahrungen und dem Fachwissen Scheffels, eine Erklärung die zur selben Zeit in der Politik mehr als geläufig war.

Mit diesen Feststellungen soll die stattgefundene Aufarbeitung der Verstrickung des Bühnenvereins in den Nationalsozialismus hier erst einmal sein Bewenden haben. Ich schildere dies nicht, um sich in irgendeiner Weise moralisch über vor und nach dem Krieg handelnde Personen zu erheben. Ich schildere es, weil die Befassung mit diesem Teil der Geschichte erst einmal der Erinnerung dessen gilt, was falsch gelaufen ist. Das aber geschieht vor allem mit der Absicht, gerade in den heutigen Zeiten erkennbar werden zu lassen, welche Rolle die Theater und Orchester, Kulturinstitutionen und ihre Verbände im politischen Raum spielen. Es folgt nämlich aus diesen Erkenntnissen auch für den staatlichen und städtischen Kulturbetrieb eine Konsequenz, auf die ich jedoch erst am Ende eingehen möchte.

Zunächst habe ich mir die Frage gestellt, ob es denn an anderer Stelle einen relativ öffentlichen Umgang eines städtischen und staatlichen Theater- bzw. Orchesterbetriebs mit seiner Verstrickung in die Nazizeit gibt, und habe mir deshalb einige Internetseiten dieser Betriebe beispielhaft angesehen. Dabei will ich nicht richtige oder falsche Darstellungen herausfinden, das entzieht sich ohne weitere Recherchen meiner Beurteilung. Mir geht es nur darum festzustellen, ob sich eine öffentlich getragene Kulturinstitution überhaupt mit ihrer Rolle in der Nazizeit befasst und in welcher Weise das geschieht.

Ausführlich beleuchten die Berliner Philharmoniker auf ihrer Internetseite die Zeit 1933 bis 1945. Den Text „Das Reichsorchester“ von Misha Aster, der ein gleichlautendes Buch über die Berliner Philharmoniker geschrieben hat, findet man leicht beim Ansteuern der „Ära Wilhelm Furtwängler“ unter „Seitenblick“, einer Rubrik, die jeder der aufgeführten Dirigentenphase zugeordnet ist. Zu lesen bekommt man einen längeren Text, der die damalige Situation des Orchesters durchaus genau beleuchtet. Auf der Seite der  Berliner Staatsoper ist hingegen ein Hinweis auf das ebenfalls von Misha Aster geschriebene, die Zeit von 1918 bis 1991 betrachtende Buch über eben diese Staatsoper nicht zu finden. Das Opernhaus berichtet auf seiner Seite aber zumindest davon, dass alle Juden nach der Machtergreifung Hitlers aus dem Ensemble entlassen wurden, Otto Klemperer, Fritz Busch und viele Spitzensolisten ins Exil gingen. So behandeln auch die Städtischen Bühnen Frankfurt die Zeit zwischen 1933 und 1945. Dort werden als wegen ihrer jüdischen Herkunft suspendierte Mitarbeiter der Intendant Josef Thurnau, der Oberspielleiter Hans Graf, der Generalmusikdirektor Wilhelm Steinberg und die Sängerin Magda Speigel ausdrücklich und beispielhaft erwähnt. Die Hamburgische Staatsoper hingegen lässt den Leser lediglich wissen, dass nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten das Stadttheater 1934 in „Hamburgische Staatsoper“ umbenannt wurde. Die Bayerische Staatsoper hält sich auf ihrer Internetseite in der politischen Betrachtung der Nazizeit unter dem Stichwort „Geschichte“ ebenfalls völlig zurück. Eine vom Opernhaus in Auftrag gegebene Studie der Ludwig-Maximilians-Universität in München setzt sich jedoch ausgiebig mit der Geschichte des Nationaltheaters in der Zeit von 1933 bis 1963 auseinander. Leider habe ich dann auf der Internetseite der Bayerischen Staatsoper erst unter den Presseinformationen einen Hinweis auf diese Publikation gefunden. Die Internetseiten der Oper in Leipzig und der Semperoper in Dresden lassen den interessierten Leser weitgehend über die Arbeit während der Nazizeit im Unklaren. Unter der Jahresangabe 1934 enthält die Seite der Semperoper lediglich die Information über die Bestellung von Karl Böhm zum Generalmusikdirektor, verknüpft mit einem Hinweis auf die Uraufführung der Straußopern „Die schweigsame Frau“ 1935 und „Daphne“ 1938.

Ganz anders das Nationaltheater Weimar, das auf seiner Internetseite eindeutig die Gleichschaltung des Theaters und die Einflüsse des sich etablierenden Nationalsozialismus auf den Spielplan bis hin zum persönlichen Einsatz Hitlers für das Theater darstellt. Interessant sind die Veröffentlichungen im Netz über das Theater Dortmund. Während das Theater selbst über die Zeit des Nationalsozialismus auf der eigenen Seite so gut wie nichts erwähnt, enthält der Wikipedia-Eintrag des Theaters ein ausführliches Kapitel darüber. Die Informationen dort reichen von der Erwähnung der Suspendierung der jüdischen Sängerin Ruth Wolffreim und des Kapellmeisters Felix Wolfes, der später in die USA emigrierte, über die Aufführung des vom nationalsozialistischen Autor Hanns Johst verfassten Dramas „Schlageter“, auch hier die Anpassung des Spielplans an die Ideologie der Nazis bis hin zu Berufung eines Nazifunktionärs und SA-Sturmbannführers zum Generalintendanten des Theaters.

Wer auf die Seite des Staatstheaters Nürnberg geht, findet unter der Rubrik Oper den sofort bemerkenswerten Eintrag „Forschungsprojekt NS-Zeit“, welches das Theater selbst mit dem Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau und dem Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Gang gesetzt hat. In diesem Projekt geht es erklärtermaßen um die Rolle, die das Theater, insbesondere das Nürnberger Theater, für die nationalsozialistische Propaganda gespielt hat, etwa durch die  Eröffnung der Reichsparteitage mit einer Aufführung der „Meistersinger von Nürnberg“. Mittlerweile befindet  man sich in der dritten Phase des Projektes, einer zurzeit laufenden Ausstellung „Hitler.Macht.Oper.“,  in der u.a. Zeitzeugen zu Gehör gebracht werden, um die besondere Funktion erfahrbar zu machen, die – so der Text auf der Internetseite des Nürnberger Theaters – Adolf Hitler vor allem der Nürnberger Oper zumaß. Beleuchtet werde, so heißt es, exemplarisch die Instrumentalisierung von Kunst für die politische Propaganda.

Auch in den Schauspielhäusern lässt sich im Umgang mit dem Nationalsozialismus Unterschiedliches feststellen. Während etwa das Deutsche Theater in Berlin lediglich in einer Chronik festhält, dass „die Reinhardtschen Kammerspiele … im Sinne von Joseph Goebbels umgestaltet werden“, findet man auf der Seite des Schauspielhauses Hamburg immerhin folgenden Text : „Bis 1935 wurden alle als jüdisch eingestuften Mitarbeiter entlassen. Bereits Ende der 1920er Jahre war es zu heftigen Übergriffen durch NSDAP-Mitglieder gekommen, die gezielt Vorstellungen zeitkritischer Werke stürmten. Stücke jüdischer und linker Autoren mussten vom Spielplan verschwinden, Werke der von der Reichskulturkammer besonders geförderten Autoren mussten neu aufgenommen werden.“

Vielleicht am Schluss dieser kleinen exemplarischen Tour durch das Netz noch ein Blick auf ein Orchester mit einer langen und großen Tradition, das Gewandhausorchester Leipzig. Dieser heute größte Klangkörper in Deutschland erinnert auf seiner Seite an die Beseitigung des 1892 vor dem Gewandhaus errichteten Denkmals des jüdischen Komponisten  Mendelsohn Bartholdy durch die Nationalsozialisten und das von ihnen dem Gewandhauskapellmeister Bruno Walter erteilte Auftrittsverbot. Ansonsten bleibt aber auch hier die Nazizeit weitgehend im Dunkeln.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: Viele Theater und Orchester beschäftigen sich auf ihrer Internetseite eher nicht mit der Geschichte ihres Unternehmens, und wenn doch, dann wenig mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem konkreten Umgang mit diesem. Erwähnt wird vorrangig die Vertreibung jüdischer Künstler, kaum dargestellt oder auch nur angesprochen werden die Auswirkungen des Naziherrschaft auf den Spielplan und das tägliche Arbeiten, geschweige denn die Art und Weise, wie man sich zu arrangieren suchte.

Um einen Beitrag gerade zur Aufklärung solcher Details zu leisten, hat der Bühnenverein 2001/2002 eine Umfrage bei den deutschen Theatern durchgeführt, inwieweit es während der Zeit des Nationalsozialismus zur Zwangsarbeit in diesen Betrieben gekommen ist. Auf die Umfrage haben damals 137 Theater von den 144 angeschriebenen Bühnen geantwortet, eine sehr hohe Quote, wie man sie bei sonstigen Umfragen oft nicht feststellen kann. Das zeigt, dass die Theater und Orchester hierzulande das fragliche Thema für wichtig und klärungsbedürftig halten und dass es durchaus Material gibt. Es stellte sich heraus, dass bei einer größeren Zahl von Theatern Fälle von Zwangsarbeit bekannt waren, insgesamt wurden 173 Fälle benannt. Viele Theater mussten dafür einiges an Recherchearbeit in ihren Archiven leisten, andere stellten fest, dass wichtige Unterlagen im Krieg durch die Zerstörung vieler Betriebe vernichtet waren. Eingesetzt wurden Zwangsarbeiter vor allem im Transportwesen, als Bühnenarbeiter, Friseure, als Bühnenmaler oder in vergleichbaren eher praktischen Berufen. Vereinzelt kam es auch zum Einsatz im künstlerischen Bereich, also als Schauspieler, Tänzer oder Musiker. Herkunftsländer waren vor allem Holland, Belgien, Frankreich, Russland, Polen, Bulgarien, Jugoslawien und Dänemark. Zum Teil waren sogar Name und Adresse der Zwangsarbeiter bekannt.  Vereinzelt hatten Theater – auch durchaus mit Erfolg – versucht, zu den damaligen Zwangsarbeitern Kontakt aufzunehmen und sie nach Deutschland einzuladen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Worte äußern über die von Herrn Dr. Felbick zur Sprache gebrachte Problematik des Begriffs „Kulturorchester“. Ich gestehe es offen: Mir war vor dem Kontakt mit Herrn Dr. Felbick die Herkunft dieses Begriffes nicht bekannt und ich hatte mir weder die Mühe gemacht, dem nachzugehen, noch auch nur einen Anlass dazu gesehen. Für mich war das eine, wenn auch nicht gerade sehr gelungene, tarifliche Definition, die es erlaubte, juristische Klarheit über die Frage herbeizuführen, für wen der TVK, der Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern. Umso überraschter war ich natürlich, von der Herkunft des Begriffs durch Herrn Dr. Felbick zu hören. Aber ich war auch dankbar dafür, dass diese Herkunft von jemandem aufgeklärt worden war und öffentlich zur Sprache gebracht wurde. Denn dass wir mit solchen Begriffen bewusst umgehen, gehört auch zur historischen Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine so furchtbare zerstörerische Kraft. Ob nun aber daraus Konsequenzen für die juristische Verwertung des Begriffs zu ziehen sind und angesichts der Rechtslage überhaupt gezogen werden können, ist eine andere Frage, der wir später in der gemeinsamen Diskussion noch nachgehen können.

Nun zurück zu der bereits oben angestellten Überlegung, was der Sinn eines dezidierten Blicks auf den Umgang der Theater und Orchester mit dem Nationalsozialismus sein kann und soll. Ich sagte schon, mir geht es nicht darum, aus der sicheren Position einer bis heute gefestigten Demokratie über andere den moralischen Stab zu brechen, nur weil sie etwa zu wenig zur Vermeidung des Naziterrors getan haben oder sich sogar zu sehr mit ihm arrangiert haben. Es geht mir vielmehr darum, zu überlegen, was wir daraus lernen können. Dieses Lernen halte ich für umso erforderlicher, als heute im Umgang mit Kunst und Kultur durchaus ein Denken festzustellen ist, dass ich im Sinne der Freiheit der Kunst eher für problematisch halte. Da ließen sich Dinge nennen, die hier aber nicht zu nennen sind, weil sie zu dem, was die Haltung der Nationalsozialisten zur Kunst bestimmte, in keiner Relation stehen. Und ich halte es für hochgradig problematisch, einen Vorgang des heutigen Zeitgeschehens mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen, der nicht vergleichbar ist, nicht nur weil damit dieser Vorgang eine falsche Einschätzung erfährt, sondern weil solche Vergleiche zu einer unzulässigen Verharmlosung des Nationalsozialismus führen. Aber Ereignisse wie jetzt in Chemnitz zum Beispiel stellen angesichts etwa der richtigen Entscheidung des dortigen Stadttheaters, ein Konzert für Vielfalt zu veranstalten, die Frage nach der Rolle der öffentlich getragenen Theater und Orchester noch einmal neu. Diese Kultureinrichtungen sind heute nicht, wie noch in der Weimarer Zeit, von autoritären Verhältnissen geprägt, was verhängnisvoll war, sondern trotz ihrer öffentlich-rechtlichen Struktur Teil einer engagierten Zivilgesellschaft. Diese Rolle müssen sie ernst nehmen.

Das ist umso wichtiger, als seitens des rechten, politischen Lagers zunehmend kulturpolitische Positionen vertreten werden, denen aus meiner Sicht entschieden entgegenzutreten ist. 2017 hat die Heinrich-Böll-Stiftung die Kulturpolitik der AfD einer Analyse unterzogen und dabei erschreckende Feststellungen gemacht. „Klassische deutsche Stücke“ seien zu spielen , fordert diese Partei, und sie seien „so zu inszenieren, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen.“ Da sei, so die Heinrich-Böll-Stiftung, von einem „Bekenntnis zu Strenge, Form und Stil“ die Rede. Ein Projekt des Anhaltischen Theater Dessau mit deutschen und syrischen Jugendlichen werde von dem AfD-Abgeordneten Gottfried Backhaus kommentiert mit den Sätzen: „Das ist ein manipulatives Theater-Projekt, das darauf abzielt, Jugendlichen den Sinn für die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden abzuerziehen. Das kann doch nicht Sinn unserer Theater sein“, und ergänzt weiter „das Theater muss ganz einfach wieder zu einem volkspädagogischen Anspruch zurückfinden. Das Theater dient der Nationalbildung.“

Das kommt einem ja nun doch bekannt vor; jedenfalls hätte man es nahtlos in manche Äußerungen aus dem rechten Spektrum der 1930er Jahre einreihen können. Wir müssen nun nicht über jedes provokatives Stöckchen springen, das uns die AfD hinhält, damit machen wir sie nur immer populärer. Vielmehr müssen wir ihr aber mit einer klaren Vorstellung von unserem Bild einer lebenswerten Gesellschaft entgegentreten und ihr die Diskussion darüber aufzwingen. In diesem Sinne und damit auch im Sinne des bereits erwähnten Lernprozesses möchte ich am Ende fünf Feststellungen für die Theater und Orchester sowie andere öffentlich getragene Kultureinrichtungen formulieren:

  1. Die Freiheit der Kunst ist unantastbar. Beschränkungen gibt es nur in den vom Grundgesetz vorgegebenen, einen sehr weiten Spielraum lassenden Grenzen.
  2. Die Freiheit der Kunst umfasst das Recht der freien Meinungsäußerung. Das gilt für öffentlich getragen Kultureinrichtungen selbst jenseits der künstlerischen Arbeit, jedenfalls dann, wenn es um den Einsatz für Demokratie, Menschenrechte und ähnlich wichtige Rechtsgüter geht.
  3. Eine organisatorische Verfasstheit von öffentlichen Kultureinrichtungen, die diese Rechte absichert, ist von tragender Bedeutung für den öffentlichen Diskurs und die Demokratie. Diese Verfasstheit darf in keiner Weise zur Disposition stehen.
  4. Demokratisch organisierte Verbandsstrukturen, die in der Lage sind, in Solidarität zu handeln, sind auch und vor allem im Kulturbereich von zentraler Bedeutung. Erst eine starke Institutionalisierung erlaubt in angespannten politischen Situationen ein effektives Handeln im Sinne einer freien und humanen Gesellschaft. Das gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass eine der Voraussetzungen für die Etablierung des Nationalsozialismus die Zerschlagung genau dieser Strukturen der organisierten Zivilgesellschaft war.
  5. So ausgestattete autonome Einrichtungen sind verpflichtet, ihre Strukturen zu nutzen, um jedem Versuch entgegenzutreten, eine freie und humane Gesellschaft infrage zu stellen.

Denn, um am Ende Schiller zu zitieren: „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“

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