„Was nun?“, fragt sich die Kultur. Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Corona-Bundesnotbremse

Am 19. November 2021 war es soweit: Das Bundesverfassungsgericht verkündete die mit großer Spannung erwartete Hauptsachenentscheidung hinsichtlich der Corona-Bundesnotbremse. Diese war im April 2021 vom Bundesgesetzgeber durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes in Kraft gesetzt worden. Nicht zuletzt die im Rahmen der Bekämpfung des SARS-CoV-2 in ihrer Arbeit stark beeinträchtigten Kultureinrichtungen erhofften sich von dem Urteil neue Maßstäbe in der Grundrechtsabwägung. Solche Maßstäbe hätten die Einstellung des Betriebs von Museen, das Verbot von Konzerten und Vorstellungen oder die Schließungen von Kinos und Buchläden kalkulierbarer machen können. Doch die Erwartungen wurden enttäuscht. Wer sich durch die endlos lange Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts hindurchkämpft, findet vieles; eindeutige Maßstäbe jedoch für die Grundrechtsabwägung sucht man eher vergebens.

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Das ist umso bedauerlicher, als es sich bei der Bundesnotbremse um eine gesetzliche Regelung handelte, die bei einer Inzidenz von 100 Corona-Infektionen auf 100.000 Einwohner automatisch grundrechtseinschränkende Maßnahmen wie etwa die Schließung von Kulturbetrieben zur Folge hatte. Mit dieser Regelung war praktisch jede Planung, die etwa vor allem für Konzerthäuser und Theater, aber auch für Museen existentiell ist, ausgeschlossen oder zumindest vergebens. Die Zulässigkeit von Kulturveranstaltungen hing stets am seidenen Faden der Überschreitung oder Unterschreitung von Infektionszahlen. Geplantes fiel einfach mit allen Produktionskosten aus, Neues konnte bei plötzlicher Wiedereröffnung mangels Vorbereitung nicht stattfinden. Schon allein dieser Umstand wirft Fragen der Zulässigkeit einer solchen Regelung auf, die aber im Urteil unbeantwortet bleiben. Vielmehr wird diese Anknüpfung an die jeweilige und schwankende Inzidenz als ein Kriterium für die Verhältnismäßigkeit ausdrücklich ins Feld geführt.

Bemerkenswert ist zudem, dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber von der Notwendigkeit freispricht, genau zu untersuchen und zu belegen, welche Maßnahmen wo ergriffen werden müssen, um die Pandemie einzudämmen. Daraus folgt, dass angesichts der wissenschaftlich bestätigten coronabedingten Gesundheitsrisiken und angesichts der angespannten Situation in den Intensivstationen der Krankenhäuser praktisch jede Maßnahme gerechtfertigt werden kann. Die Tatsache, dass etwa ein räumlich großes Museum eine besonders das Infektionsrisiko absenkende Lüftungsanlage hat oder ein Theater ein sehr strenges Hygienekonzept verfolgt, andere Einrichtungen aber über nichts dergleichen verfügen, führt zu keiner differenzierenden Betrachtungsweise. Die je nach Art einer Veranstaltung unterschiedlichen Verhaltensweisen des Publikums spielen ebenso wenig eine Rolle. Das mag angesichts der schwierigen Beurteilung des Coronavirus verständlich sein, juristisch überzeugend ist es nicht unbedingt. Dies gilt umso mehr, als der häufig in der öffentlichen Debatte strapazierte Gleichbehandlungsgedanke (z.B. volle Flugzeuge versus geschlossene Konzertsäle) kaum richterlich erwogen wird. 

Es fehle die Grundrechtsabwägung und die Maßstäbe.

Letztlich leidet die Entscheidung aus Sicht der Kultur vor allem daran, dass es in ihr nicht um Verfassungsbeschwerden geht, die sich gerade gegen die Schließung von Einrichtungen wenden, in denen Kunst gezeigt oder sogar produziert wird. Die einzige Verfassungsbeschwerde, die zumindest ansatzweise in diese Richtung ging, wurde wieder nicht zugelassen (s. dazu u.a.: https://stadtpunkt-kultur.de/2021/05/eine-vertane-chance-bundesverfassungsgericht-weist-eilantrag-gegen-schliessung-von-kultureinrichtungen-ab/). Insofern wird auch der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abzuleitende Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht in Bezug zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, der Kunstfreiheit, gesetzt, um erst dann der Frage nachzugehen, wie im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eine Grundrechtspriorisierung in die eine oder andere Richtung erfolgen könnte. Letztlich drückt sich das Bundesverfassungsgericht um die Entscheidung herum, inwieweit der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch andere Grundrechte oder andere Schutzgüter von Verfassungsrang relativiert wird. Das aber ist ein notwendige Abwägung, bedenkt man, wie sehr jenseits von Corona in unserem Alltag erhebliche Gefahren für das Leben und die Gesundheit durch Grundrechtsausübungen eintreten.

Dass andere Grundrechte vor der körperlichen Unversehrtheit durchaus Priorität haben können, das flammt plötzlich an einer Stelle des Urteils auf, nämlich in der Randziffer 300. Dort wird festgehalten, dass die Ausgangssperre, um die es vor allem im Urteil geht, im Rahmen der Mandats- und Berufsausübung und vor allem für „Medienvertreter“ nicht galt. Und dann fällt ein bemerkenswerter Satz: „Damit trug der Gesetzgeber insbesondere den Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung.“ Also scheint es aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts durchaus Grundrechte zu geben, die im konkreten Zusammenhang mit Corona doch stärker sind als der Schutz von Leben und Gesundheit. Da hätte man sich nähere Ausführungen des Gerichts gewünscht, zumal diese beiden Grundrechte (Berufsfreiheit und Pressefreiheit) anders als die Kunst- (und Wissenschafts-)freiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG unter Gesetzesvorbehalt stehen, also einen schwächeren verfassungsrechtlichen Schutz erfahren. 

Die Rechtsunsicherheit ist groß.

Ob das Gericht im Falle einer solchen echten Grundrechtsabwägung zu anderen Ergebnissen gekommen wäre, mag dahinstehen. Wichtig wäre es gewesen, hier eben doch einige Maßstäbe für die Zukunft, vor allem für andere vergleichbare oder ähnlich gelagerte Situationen zu setzen. Denn die Rechtsunsicherheit ist groß. Das belegt nicht nur die hohe Anzahl von Verfassungsbeschwerden gegen die Corona-Maßnahmen. Die von Gesetzesänderung zu Gesetzesänderung immer schwieriger werdenden Fassungen des Infektionsschutzgesetzes tun ihr Übriges. Ein Gesetzgeber, der ständig an einem Gesetz umfangreiche Korrekturen vornehmen muss, vermittelt nicht unbedingt ein hohes Maß an Rechtssicherheit. Aber vielleicht wird auch nur eines immer mehr deutlich: In der Corona-Pandemie versagen möglicherweise unsere bisherigen juristischen und vor allem verfassungsrechtlichen Grenzziehungen. Das ist alles andere als beruhigend und verlangt von den drei Staatsgewalten, der Legislative, der Judikative und der Exekutive, ein hohes Maß an Umsicht und Verantwortung. Bei allen Schwächen die zuweilen diesbezüglich festzustellen sind, niemand kann behaupten, man habe nicht ernsthaft und oft erfolgreich versucht, dem Rechnung zu tragen. Am Ende der Pandemie werden wir uns einiges verzeihen müssen, hat der frühere Gesundheitsminister einmal sinngemäß gesagt. Vielleich gehört die eine oder andere Grundrechtsverletzung dazu. Aber dann sollte jedenfalls klar sein, dass sie stattgefunden hat.

Das Tarifeinheitsgesetz hat sein Ziel verfehlt; für eine neue Verhältnismäßigkeit von Streiks im Dienstleistungssektor

Während der Wahlkampf für die Bundestagswahl seinen fast schon gemächlichen Gang ging, erfuhr ein von der großen Koalition mit viel Brimborium verabschiedetes Gesetz seine Entzauberung, ohne dass dies den Wahlkampf ernsthaft tangierte: Das Tarifeinheitsgesetz. Es war wieder niemand Geringeres als der Lokführer-Gewerkschaftsboss Claus Weselsky, der vorzuführen wusste, dass mit diesem Gesetz alles Mögliche zu erreichen war, nur keine Eindämmung von zuweilen unnötigen Streiks. Im Gegenteil, die Gewerkschaft der Lokführer (GdL) entschloss sich zum Arbeitskampf vor allem, um genau das zu demonstrieren, was das Tarifeinheitsgesetz zu verhindern suchte, dass sie nämlich zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) in massive Konkurrenz tritt. Und kaum hatte die Kraftmeierei der GdL Erfolg, meldete sich besagte EVG lautstark zu Wort, um unmissverständlich ebenfalls mit Streiks zu drohen. Nur mit Mühe konnten diese abgewendet werden. Da der verblüffte Bahnkunde sich die vom Warten auf den Zug müden Beine in den Bauch gestanden hatte, darf politisch gefragt werden, was denn vielleicht zu tun ist, um bei allem Sinn für die Wahrnehmung berechtigter Arbeitnehmerinteressen das politische Ziel der Verhinderung überzogener Streiks zu erreichen.

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Das Tarifeinheitsgesetz gehört in den Papierkorb der Tarifgeschichte

Mit dem (u.a. von Theatergewerkschaften scharf kritisierten) Tarifeinheitsgesetz jedenfalls ist kein Blumentopf zu gewinnen, die neue Koalition sollte es deshalb dahin befördern, wo es hingehört, in den Papierkorb der Tarifgeschichte. Es hat schlicht in der Streikabwendung versagt. Das mag im produzierenden Gewerbe vorerst egal sein. Denn das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Vermeidung von Streiks konzentriert sich vor allen auf den Dienstleistungssektor im weitesten Sinne, vor allem auf den öffentlichen Dienst. Dienstleistungen werden nicht nur von Kapitalunternehmen und gewinnorientierten privaten Arbeitgebern bereit gestellt, sondern auch und vor allem vom Staat, den Gemeinden und den ihn zuzurechnenden öffentlichen Einrichtungen, meist vollständig oder zumindest wesentlich finanziert durch Steuermittel. Ein Streik in diesen Bereichen trifft also vor allem das öffentliche Gemeinwesen, oft in zentralen Bedürfnissen. Es geht um den Fernverkehr und den öffentlichen Nahverkehr, Krankenhäuser, Müllabfuhr, Kultur und Bildung, die Stadt- und Staats-Verwaltung und vieles mehr. Wie schwierig ein Streik in solchen Bereichen sein kann, zeigt der jetzt gerade von ver.di ausgerufenen Streik in Krankenhäusern, der in einer Zeit stattfindet, in der diese durch Corona erneut außerordentlich gefordert sind. Einerseits rechtfertigt gerade dies den Arbeitskampf des hochgradig belasteten Personals, andererseits verstärkt der Streik den ohnehin bestehenden Personalengpass.

Daraus darf nicht geschlossen werden, dass Streiks im Dienstleistungssektor nicht stattfinden dürfen, im Gegenteil, auch das immer noch in Frage stehende Streikrecht von Beamten sollte im Sinne der Abkehr von obrigkeitsstaatlichem Denken eine Selbstverständlichkeit sein. Zudem wäre ein Streikverbot z. B. im öffentlichen Dienst nicht nur gesellschaftspolitisch fatal, sondern auch mit Artikel 9 Grundgesetz nicht vereinbar. Vielmehr geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Streiks, vor allem Warnstreiks zulässig sind. Gerade beim Warnstreik hat die Rechtsprechung der letzten Jahre zunehmend die Zügel schießen lassen. Das hat dazu geführt, dass im Dienstleistungssektor Streiks stattgefunden haben, die oft ausschließlich durch einen einfachen gewerkschaftlichen Aufruf ausgelöst wurden, dennoch schwerwiegende negative Auswirkungen auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben hatten. Dies gilt umso mehr, als etwa ein Streik im öffentlichen Nahverkehr zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden bei Unternehmen führt, die in die Tarifverhandlungen gar nicht involviert sind und diese nicht beeinflussen können.

Die Demokratisierung der Streikentscheidung

Deshalb muss es bei den Zulässigkeits-Voraussetzungen von Streiks, insbesondere von Warnstreiks eine gesetzliche Regelung geben, die an die Arbeitskampfmaßnahmen für den Bereich der öffentlich wirksamen Dienstleistungen höhere Anforderungen stellt. Diese müssten zum einen bei der Streikinitiative liegen. Streiks dürften etwa ohne Urabstimmung nicht mehr stattfinden. Zu denken wäre zudem an eine Abstimmung durch alle Mitarbeiter, die in der jeweils bestreikten Dienstelle oder dem jeweiligen Dienstleistungsbetriebs tätig sind und von dem angestrebten Tarifvertrag direkt oder indirekt profitieren. Die Belegschaft müsste verantwortungsbewusst und mehrheitlich entscheiden, ob sie ihren eigenen Interessen oder dem Dienst an der Öffentlichkeit den Vorrang gibt, und nicht Herr Weselsky mit seinen Machtbedürfnissen. Das würde den Streik weit besser legitimieren, in Sinne einer Demokratisierung der Entscheidung über den Arbeitskampf. Die erhöhten Anforderungen an Streiks und Warnstreiks müssten zum anderen in dem für Streiks ohnehin geltenden Prinzip der Verhältnismäßigkeit liegen. Dabei ist die Notwendigkeit des Streiks deutlich gegen dessen Folgen jenseits des bestreikten Betriebs oder der bestreikten Dienstelle abzuwägen. Ein Streik wäre dann beispielsweise unzulässig, soweit seine Durchführung zu unverhältnismäßigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens führen würde. Was das genau heißt, müsste dann im Einzelfall abgewogen werden. Kriterien dafür wären die Dauer der Verhandlungen sowie die Differenz zwischen Angebot der Arbeitgeberseite und den Forderungen der Gewerkschaften, aber auch das Maß der Streikbetroffenheit von Bürgerinnen und Bürgern sowie von anderen Unternehmen. Im wesentlichen geht es darum, neue gesetzliche Impulse für eine sich weiterentwickelnde Rechtsprechung zu setzen. 

Populär ist dass alles nicht. Es hat jedoch keinen Sinn, die Häufigkeit von Streiks vor allem für den Dienstleistungssektor als Problem zu erkennen, sie aber durch ein unzureichendes Gesetz wie das Tarifeinheitsgesetz bekämpfen zu wollen, zumal dies gerade kleinere Gewerkschaften benachteiligt. Da könnten die voraussichtlich neuen Koalitionspartner zu einem Stück größerer Ehrlichkeit gelangen, als sie die große Koalition an den Tag gelegt hat. Das bedeutete, sich einzugestehen, dass es mehr braucht als den unzulänglichen § 4a Tarifvertragsgesetz, um das Streikrecht neu zu gestalten. Auch das wäre ein Stück Mut zur viel beschworenen Erneuerung.

Apps, VR-Brillen und andere Kultur-Videoprojekte aus Sicht des Urheberrechts

Mit allem Möglichen hatten die Theater (und andere Kultureinrichtungen) gerechnet, aber mit einer Pandemie, die ihnen für Monate die Säle zusperrt, sicher nicht. Also war guter Rat teuer. Dass Theater auf dem Bildschirm den Betrachter faszinieren kann, wollten viele zuvor nicht glauben. Ja, schon die Forderung, doch urheberrechtlich zumindest mal aufs Digitale vorbereitet zu sein, galt fast schon als eine Art Verrat an den Bühnenkünsten. Nun, kaum machte Corona die Runde, kamen die Bühnen des Landes gar nicht umhin, sich der Frage nach ihren digitalen Angeboten zu stellen. Vorbereitet war darauf fast niemand. Also wurde im Internet bereitgestellt, was man auf die Bildtonträger des Hauses vorsichtshalber aufgezeichnet hatte. Es folgten, als es mit der Pandemie länger dauerte, Streaming-Premieren. Das große Nachdenken im Sinne von „Was tun?“ begann. Nun reden alle über Apps, Virtual-Reality(VR)-Brillen und andere Projekte im Netz. Urheberrechtlich wirft das viele Fragen auf, denen so richtig bisher nicht nachgegangen wurde.

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Der Theaterproduzent ist ein Theaterproduzent. Man spielt live. So war es und so wird es hoffentlich weitgehend bleiben. Zuweilen wurde aber nicht nur zu Dokumentationszwecken aufgezeichnet, sondern auch mir dem Anspruch, das Produzierte vor allem im klassischen Fernsehen oder im Internet gestreamt zu zeigen, manchmal – die Met lässt grüßen – sogar im Kino. Der Produzent der Aufzeichnung war das Theater selbst oder ein Fernsehsender, etwa 3sat. Doch es blieb eben eine Theateraufzeichnung und mehr nicht (siehe dazu:

https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18025:streaming-und-video-on-demand-im-internet-und-das-urheberrecht&catid=101&Itemid=84)

1. Das Theater wird Film- und Fernsehproduzent

Doch jetzt ändert sich die Lage. Es wird direkt und ausschließlich für das Netz oder für andere digitale Wahrnehmungsmöglichkeiten (Beispiel: VR-Brille) produziert. In der Regel ist das, was da entsteht eine Filmaufnahme. Oder wenn live vor der Kamera bei gleichzeitiger Ausstrahlung im Netz etwas stattfindet, dann ist es Sendung, also wenn man so will Fernsehen. Das Theater wird also Film- und Fernsehproduzent. Und das ändert sein urheberechtliches Dasein deutlich.

2. Die Mitwirkungspflicht nach den einschlägigen Tarifverträgen

Für die künstlerischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der dem Bühnenverein angehörenden Theater, vor allem die Stadt- und Staatstheater sowie die Landesbühnen, also die Theater in öffentlicher Trägerschaft, gelten die mit den Künstlergewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge Normalvertrag (NV) Bühne und Tarifvertrag für Musiker in Konzert- und Theaterorchestern (TVK). Nach diesen beiden Tarifverträgen ist es selbstverständlich, dass Darstellerinnen und Musiker ihrem Arbeitsvertrag entsprechend bei Aufführungen mitwirken müssen, wenn diese auf  Tonträger oder Bildtonträger aufgezeichnet bzw. live gesendet werden. Nun taucht die Frage auf, ob das auch dann gilt, wenn z.B. ein Bildtonträger ausschließlich für eine digitale Verwertung hergestellt wird, also gar nicht live auf der Bühne und vor Publikum gespielt, sondern nur für eine VR-Brille oder eine App produziert wird. Dass ist ohne Zweifel zu bejahen. Denn beide Tarifverträge sprechen im einschlägigen § 7 davon, dass die Mitwirkungspflicht sich auf Darbietungen (nicht Aufführungen oder Veranstaltungen) bezieht, die auf Tonträger oder Bildtonträger aufgezeichnet werden.

Wohlgemerkt, damit ist nur die Verpflichtung geklärt, ob sich die darstellenden Künstlerinnen und Künstler an jeglichen der digitalen Verwertung dienenden künstlerischen Aktivitäten beteiligen müssen oder bereits diese Mitwirkung schon ablehnen können. Die Antwort lautet: Sie müssen eindeutig mitwirken.

3. Die Mitwirkungspflicht bei Theatern ohne Geltung der Tarifverträge

Für viele in Theatern tätige Künstler und Künstlerinnen gelten die Tarifverträge jedoch nicht, sei es, weil das Theater dem Bühnenverein nicht angehört, sei es, weil die persönlichen Voraussetzungen für die Geltung nicht erfüllt sind, z.B. im Falle eines Stückvertrags. Dann werden sie in der Regel für ein bestimmtes digitales Projekt direkt verpflichtet. Im Vertrag ist in diesem Fall darauf zu achten, dass die von dem Theater erwartete Mitwirkungspflicht für die Beschäftigten eindeutig festgelegt wird. Es muss also beispielsweise dem Schauspieler oder der Musikerin klar sein, dass seine oder ihre Arbeitsleistung ausschließlich in einer App verwendet wird und was dafür konkret zu leisten ist.

4. Die Urheberrechte

Bei der Produktion einer Aufführung benötigt das Theater vor allem Nutzungsrechte am Aufführungsrecht (§ 19 Abs. 2 Urhebergesetz – UrhG), soweit es um Text und Musik, also um echte Urheberrechte geht. Ganz anders ist die Lage beim reinen Videoprojekt. Hier benötigt der Videoproduzent das Nutzungsrecht am Aufführungsrecht nicht (es wird ja nicht aufgeführt), sondern zunächst nur das Nutzungsrecht am Vervielfältigungsrecht (§ 16 Abs. 2 UrhG) in seiner besonderen Ausprägung des Rechts der Verfilmung nach § 88 UrhG. Hinzukommen je nach späterer Nutzung des Videos das Nutzungsrecht am Verbreitungsrecht (§ 17 UrhG), etwa bei der VR-Brille, am Vorführungsrecht (§ 19 Abs. 4 UrhG), vor allem bei Zeigen des Videos im Kinosaal, am Senderecht im Falle des zu einem festen Zeitpunkt erfolgenden Streamings (§ 20 UrhG) und am Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG) im Falle des Bereitstellens des Videos ganz oder auszugsweise im Internet (auch über eine App). Hinsichtlich dieser zusätzlichen notwendigen Nutzungsrechte kann sich der Videoproduzent jedoch den § 88 Abs. 1 UrhG zunutze machen, der festlegt, dass die Gestattung des Urhebers, ein Werk zu verfilmen, zugleich bedeutet, dass der Videoproduzent im Zweifel diese Nutzungsrechte automatisch mitübertragen bekommt.

Eines besonderen Hinweises bedarf die Verwendung von Musik, sofern diese nicht, wie etwa bei der Verfilmung eines Musicals Teil des Werkes ist, sondern (z.B. ein Popsong) als Untermalung einer filmischen Darstellung oder als Grundlage für eine tänzerische Leistung gewählt wird. Hier kann man die reinen Nutzungsrechte an der Musik für die Verfilmung in der Regel bei der GEMA erwerben (falls sie die Rechte vom Urheber eingeräumt bekommen hat). Die Kombination der Musik mit dem Film ist aber eine Art Bearbeitung, also bedarf es für die Verbindung zwischen Film und Musik der zusätzlichen Zustimmung des Komponisten und ggf. noch des Textverfassers, wenn die Musik wie der Popsong mit Text unterlegt ist (s. § 23 UrhG). Dieses sogenannte Synchronisationsrecht darf nicht verwechselt werden mit der Synchronisation eines Films, etwa in einer anderen Sprache. Beides hat miteinander nichts zu tun.

Bei der Verfilmung haben aber nicht nur die Urheber von Texten und Musik ein Urheberrecht, sondern ggf. auch weitere Personen. Dazu gehören die Kostümbildnerin oder andere Ausstatter, vor allem der Filmregisseur, Kameramänner und- frauen, Cutter und weiter Beteiligte, die mit einer schöpferischen Leistung an dem Film bzw. dem Video mitwirken. Wiederum erleichtert das UrhG, in diesem Fall § 89 Abs. 1, den Rechteerwerb durch den Videoproduzenten, also das Theater, weil die Vereinbarung der Mitwirkung am Videoprojekt die Nutzungsrechte am Video im oben beschriebenen Sinne (Kino, Streaming, öffentliche Zugänglichmachung im Internet) im Zweifel mit einräumt.

Besondere urheberrechtliche Fragen stellen sich, wenn ein Videoprojekt interaktiv aufgelegt wird, also so, dass die Konsumenten (etwa einer App), die Nutzer daran mitwirken können. In diesem Fall können ebenfalls echte Urheberrechte entstehen, wenn die von den Nutzern eingebrachten Leistungen die notwendige Schöpfungshöhe erreichen, was schnell der Fall sein kann. Zwar wird man dann davon ausgehen können, dass mit dem Einbringen der schöpferischen Leistung in das Projekt die Einwilligung verbunden ist, dass die Leistung im Rahmen des Projekts verbreitet wird (s. dazu unten 8.). Jede weitere Nutzung der Leistungen der Nutzer ist davon aber nicht ohne weiteres abgedeckt.

Wird ein Videospiel entwickelt, ist zu berücksichtigen, dass auch die Entwickler des Spiels selbst Urheberrechte an dem Spiel haben.

5. Die Leistungsschutzrechte der ausübenden Künstler

Doch nicht nur die an einem Videoprojekt beteiligten Urheber haben Rechte, auch die ausübenden Künstlerinnen und Künstler, also z.B. Schauspielerinnen, Sänger, Musikerinnen oder Tänzer. Dem Theater, das ein Video produziert, hilft hier wieder das UrhG weiter, diesmal in § 92; denn die ausübenden Künstlerinnen und Künstler, die an einem Videoprojekt mitwirken, räumen dem Filmproduzenten ebenfalls die notwendigen Nutzungsrechte im Zweifel (also wenn nichts anderes vereinbart wurde) ein. Wird also ein ausübender Künstler oder eine solche Künstlerin für ein Videoprojekt ausdrücklich engagiert und gelten für das Engagement keine tarifvertraglichen Vereinbarungen, etwa in der freien Szene, dann sollte sich aus der vertraglichen Vereinbarung eindeutig die künstlerische Tätigkeit für das Videoprojekt ergeben. Außerdem sollte in den Vertrag vorsorglich aufgenommen werden, dass das Theater berechtigt ist, die Videoaufnahmen zeitlich, räumlich und inhaltlich uneingeschränkt zu nutzen.

6. Die Leistungsschutzrechte nach den einschlägigen Tarifverträgen

Schwieriger kann die Situation bei Künstlern sein, die auf der Grundlage der oben genannten Tarifverträge (NV Bühne, TVK) tätig werden. Man muss zwar aus dem NV Bühne und dem TVK eindeutig eine Mitwirkungspflicht bei jeder Art der elektronischen Verwertung der Darbietung ableiten (s. oben 2.), steht aber angesichts der Formulierung der einschlägigen Rechtevorschriften (§§ 8, 59, 68, 80, 93 NV Bühne, §§ 8, 9 TVK) vor einigen rechtlichen Problemen. Das liegt im Wesentlichen daran, dass die technische Entwicklung die schon lange geltenden Formulierungen in den Tarifverträgen deutlich überholt hat. Insofern sind die tariflichen Vorschriften nun auf der Grundlage dieser technischen Entwicklungen zu interpretieren. Das führt praktisch zu folgender Rechtslage:

  • Wird etwas für Hörfunk oder Fernsehen produziert, hat das Theater die Nutzungsrechte und kann sie an den Rundfunkveranstalter weitegeben. Die Künstlerinnen und Künstler erhalten für die durch den Rundfunkveranstalter vorgenommene Ausstrahlung (live oder aufgezeichnet) sowie die durch ihn bewerkstelligte Bereithaltung im Netz on demand zu ihrer üblichen Monatsgage eine angemessene Sondervergütung. Diese Regelung gilt entsprechend, wenn ein Streaming  oder das Bereithalten im Netz durch einen Dritten erfolgt, der kein Rundfunkveranstalter ist. Wird eine Veranstaltung, etwa eine Aufführung, zu einem festgelegten Zeitpunkt vom Theater im Internet auf der eigenen Seite live gestreamt, ist ebenso entsprechend zu verfahren.
  • Werden Darbietungen auf Tonträger oder Bildtonträger aufgezeichnet und dann im Netz zu Werbezwecken oder für ein Videoprojekt auf eigener Website oder in eigener App des Theaters (und/oder Orchesters) genutzt, ist das theater- (und orchester-) eigener Gebrauch und nicht zusätzlich zu vergüten. Das Gleiche gilt für die Nutzung im VR-Bereich sowie auch dann, wenn die Aufzeichnungen im eigenen Auftritt des Theaters bei Facebook, Youtube oder vergleichbaren Plattformen genutzt wird. Diese Rechtslage ist zugleich Ausfluss des § 92 UrhG (s. oben 5.).

7. Motion Capture und Avatar

Gerade im Rahmen von Videospielen, die von einzelnen Theaterveranstaltern entwickelt werden, taucht die Frage auf, inwieweit die Bildtonaufzeichnungen bearbeitet werden können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Bewegungen eines Tänzers oder einer Schauspielerin genutzt werden, um sie oder ihn als Avatar in einem Videospiel auftreten zu lassen. Solche „Beeinträchtigungen seiner Darbietungen“ kann der ausübende Künstler nach § 75 Satz 1 UrhG ggf. verbieten, sie bedürfen also praktisch meist seiner Zustimmung. Das folgt auch aus §§ 79 Abs. 2a, 39 UrhG, da der ausübende Künstler eine solche Änderung seiner Leistung nicht nach Treu und Glauben hinnehmen muss. Die Zustimmung kann jedoch schon im Vertrag mit dem Künstler erfolgen. Zudem ist sein Recht auf Namensnennung nach § 74 Abs. 1 Satz 2 UrhG zu berücksichtigen.

8. Die angemessene Vergütung

Nach § 32 UrhG haben alle Urheber und Leistungsschutzberechtigten bei der Nutzung ihrer urheberrechtlich geschützten Leistungen einen Anspruch auf angemessen Vergütung. Insofern sollte in der Regel nicht vereinbart werden, dass solche Nutzungsrechte kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Vielmehr ist möglichst zu vereinbaren, dass die Übertragung der Nutzungsrechte durch die für die Gesamtleistung erbrachte Zahlung abgegolten ist. Nach § 32 Abs. 3 Satz 3 UrhG kann der Urheber – über § 79 Abs. 2a UrhG auch der leistungsschutzberechtigte ausübende Künstler – allerdings ein einfaches Nutzungsrecht unentgeltlich einräumen. § 31 Abs. 2 UrhG definiert, was ein einfaches Nutzungsrecht ist: Es ist das Recht, ein Werk oder eine künstlerische Leistung zu nutzen, ohne dass die Nutzung durch andere ausgeschlossen ist. Diese Regelung hilft vor allem weiter, wenn, wie bereits beschrieben (s. oben 4.), etwa Nutzer einer interaktiv angelegten App oder Website selbst kreative Leistungen einbringen. Für diesen Fall sollte in den Nutzungsbedingungen ein Hinweis dahingehend erfolgen, dass diese User mit der Einbringung ihrer kreativen Leistung konkludent zustimmen, dass die ihnen zustehenden Rechte von dem Betreiber der Website oder der App für diese  genutzt werden. So kann dann der gesetzlich bestehende Anspruch von Nutzern auf die Vergütung ausgeschlossen werden.

Schlussbemerkung

Dieser Beitrag  ist lediglich eine kursorische Betrachtung der urheberrechtlichen Probleme, die im Zusammenhang mit neuen digitalen Angeboten vor allem von Theatern, aber durchaus auch von anderen Kulturanbietern auftreten können; er soll einen ersten Einblick gewähren. Die genaue Rechtslage kann sich je nach Gestaltung des Einzelfalls komplizierter gestalten und bedarf immer der genauen rechtlichen Prüfung. Außerdem ist einiges, was im vorliegenden Zusammenhang zu berücksichtigen ist, urheberrechtlich in Bewegung, in vielen Fällen betreten wir Juristen immer wieder Neuland. Das gilt auch mit Rücksicht auf die gerade in Deutschland umgesetzte Urheberrechtsreform auf der Grundlage der letzten urheberrechtlichen EU-Richtlinie. Sichtbar soll aber vor allem durch den Beitrag werden, wie kompliziert die Rechtslage im Falle von neuen digitalen Kultur-Angeboten ist und wie wenig sich der Gesetzgeber bisher mit diesen Fragen, besonders bezogen auf die darstellenden Künste, befasst hat. Gerade das wäre wegen der vielen an solchen digitalen Projekten beteiligten Kreativen notwendig. Das Ziel müsste sein: Vereinfachte Rechtebeschaffung gegen Zahlung einer angemessenen Vergütung. Hier tut ein Abbau der bürokratischen Hürden dringend not. Das sollten vor allem die Kulturpolitiker berücksichtigen, die nun in der Digitalisierung des kulturellen Angebots die große Zukunft vermuten.

Eine vertane Chance: Bundesverfassungsgericht weist Eilantrag gegen Schließung von Kultureinrichtungen ab

Nachdem bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen Antrag gegen die durch § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) bei einer Corona-Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gesetzlich vorgeschriebene Schließung von Kultureinrichtungen zurückgewiesen hatte (s. dazu https://stadtpunkt-kultur.de/2021/04/zu-viele-vermutungen-bemerkungen-zum-musiker-corona-urteil-des-bayerischen-verwaltungsgerichtshofs/), hat nun das Bundesverfassungsgericht nachgezogen. Am 20. Mai entschied es den entsprechenden Eilantrag einiger darstellender Künstlerinnen und Künstler ebenfalls abschlägig. Ob das Urteil richtig oder falsch ist, kann man im Augenblick dahingestellt sein lassen. Eher bemerkenswert ist die fast kurzatmige Begründung der Entscheidung, aber auch die Tatsache, dass die Verfassungsbeschwerde nicht einmal zur Entscheidung angenommen wurde. Eine heftigere Ohrfeige konnte man der durch Corona gebeutelten Kultur kaum verpassen.

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Kurz und knapp zusammengefasst argumentiert das Bundesverfassungsgericht wie folgt:

  • Die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz) muss hinter dem durch Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz geschützte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit im vorliegenden Zusammenhang zurücktreten.
  • Die Schließung von Kultureinrichtungen ist nicht unangemessen, solange sich Ansteckungen – auch bei Einhaltung eines Hygienekonzepts – nicht ausschließen lassen.
  • Die bisher gemachten Untersuchungen über die Ansteckungsgefahr in Veranstaltungsstätten sind nicht hinreichend aussagefähig.
  • Es ist nicht der Werkbereich der Kunstfreiheit, sondern nur der Wirkbereich (man kann nicht vor Publikum spielen) beeinträchtigt; das kann durch Streaming- und Downloadangebote kompensiert werden.
  • Nicht ersichtlich ist es, warum eine Einschränkung des Kulturangebots nicht noch einmal für zwei weitere Monate tragbar sein soll.
  • Mit der durch Art. 4 Grundgesetz geschützten Religionsausübung sei die Kunstfreiheit nicht vergleichbar, da das Publikum sich – anders als die Gottesdienstbesucher auf die Freiheit der Religionsausübung – nicht auf die Kunstfreiheit berufen könne.

Mit diesen Gründen für die Entscheidung liegt das Bundesverfassungsgericht weitgehend auf der Linie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Das mag die Richter in Bayern beruhigen, ist aber um so mehr bemerkenswert, als es auch die Karlsruher Entscheidung deutlich an Tiefgang vermissen lässt. Es fehlt etwa jegliche begründete Abwägung der Grundrechte. Auf die Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz) von darstellenden Künstlern und Künstlerinnen, immerhin beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof noch ein Gegenstand der Betrachtung, verschwendet das höchste Gericht in Karlsruhe kein einziges Wort. Dass das Publikum in seinen Rechten auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz), seine Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 Grundgesetz) und seine Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz) eingeschränkt ist, scheint ebenfalls keine Rolle zu spielen. Und dass sich auch etwa in Flugzeugen und Fleischfabriken keine Ansteckungen vermeiden lassen, hält das Bundesverfassungsgericht nicht davon ab, das im Kulturbereich im Prinzip als Voraussetzung für eine Öffnung zu fordern. 

Bei dieser Kritik an der mangelnden Grundrechtsabwägung geht es nicht darum, zu erreichen, dass jetzt flächendeckend alle Veranstaltungsorte uneingeschränkt geöffnet werden. Es geht vielmehr darum, von einem Verfassungsgericht zu fordern, dass es für die allgemeine Schließung von Kultureinrichtungen durch ein Gesetz, wie sie durch § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 IfSG bei der gegriffenen Sieben-Tage-Inzidenz von 100 verfügt worden ist, verbindliche rechtliche Maßstäbe setzt, die für die Zukunft in dieser Pandemie und vergleichbaren Situationen Richtschnur sein können. Mit der Verabsolutierung der Gefahrenabwehr vor einem möglichen gesundheitlichen Schaden, wie de Richter in Karlsruhe argumentieren, ist das kaum zu erreichen.

Auch das Bundesverfassungsgericht bemüht zudem als Begründung für seinen Richterspruch, die im vorliegenden Zusammenhang eher untaugliche Unterscheidung zwischen dem Werkbereich und dem Wirkbereich der Kunst. Das verkennt nicht nur die Bedeutung des Wirkbereichs vor allem der darstellenden Kunst (s. dazu auch den oben verlinkten Text). Vielmehr ist es auch realitätsfern, tausende von darstellenden Künstlerinnen und Künstlern allein in Deutschland diesbezüglich auf Streaming und Download zu verweisen. Dazu fehlen fast allen Akteuren zum einen die wirtschaftlichen und technischen Mittel, zum anderen die Zuschauer und damit auch die Generierung von Einnahmen. Es ist für viele also eher ein Schubs in die Armut, die hier das Bundesverfassungsgericht für eine Lösung des Problems hält. In diesem Zusammenhang noch den Zeitfaktor zu bemühen, klingt angesichts der angespannten Lage vieler Künstler und Künstlerinnen eher nach Durchhalteparole, denn nach sauberer juristischer Erwägung.

Sei es wie es sei: Die hier vom höchsten deutschen Gericht ins Feld geführte Argumentation zieht sich nun durch mehrere in ähnlicher Sache gesprochene Urteile. Wenn die Rechtslage so ist, dann bleibt nur noch abzuwarten, bis die Politik die Öffnung von Veranstaltungsorte für vertretbar hält. Angesichts dessen hätte das Bundesverfassungsgericht mit dem jetzt vorliegenden Urteil die Möglichkeit gehabt, den betroffenen Künstlerinnen und Künstlern durch eine wohl begründete und zukunftsweisende Entscheidung Hoffnung zu machen. Diese Chance wurde leider eindeutig vertan.

Zu viele Vermutungen? Bemerkungen zum Musiker-Corona-Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs

23 Berufsmusiker und -musikerinnen haben in Bayern eine einstweilige Anordnung gegen die dortige coronabedingte Schließung der Theater und Konzerthäuser beantragt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat den Eilantrag durch Entscheidung vom 15. April 2021 abgelehnt (20 NE 21.919). Das überrascht angesichts der bisherigen Corona-Rechtsprechung dieses Gerichts nicht wirklich. Doch die Begründung der Entscheidung lässt in mancher Hinsicht zu wünschen übrig, was umso bedeutender ist, als jetzt die Schließung von solchen Kultureinrichtungen bei einer Inzidenz von 100 auf 100.000 Einwohner durch ein Bundesgesetz pauschal verfügt wurde (§ 28 b Infektionsschutzgesetz). Die Enttäuschung der um Gesundheitsschutz sehr bemühten Kulturszene ist groß. Kann es so weitergehen?

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Bei den Tatsachen: Widersprüche und viele vage Formulierungen

Sicher, es handelt sich im vorliegenden Fall um eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz. Da muss nicht alles geklärt sein. Dennoch ist es bemerkenswert, wie sehr das Urteil von Vermutungen, zuweilen sogar von Widersprüchen geprägt ist. „Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt.“, heißt es in der Entscheidung des VGH. An anderer Stelle hingegen wird festgestellt: „Ausbrüche betreffen momentan insbesondere private Haushalte und zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld.“ Was denn nun, fragt man sich da. Dennoch sei es „nicht offensichtlich“, dass dem Verordnungsgeber andere wirksame Mittel zur Minimierung der Infektionsgefahr zur Verfügung stünden als (u.a.) die Schließung von Kultureinrichtungen. Und: „Auf die Frage, ob es während Kulturveranstaltungen bislang nachweislich zu Infektionen mit SARS-CoV-2 gekommen ist, kommt es ebenso wenig an wie auf die Eignung möglicher …Hygienekonzepte“. Wenn auch die Ansteckungsgefahren woanders liegen, so das Gericht, dann müssen also trotzdem die Kultureinrichtungen geschlossen werden, Hygienekonzepte hin oder her. Zwingend oder auch nur in sich schlüssig klingt das nicht gerade.

Von Gefahrenabwehr- und Gefahrenprognoseelementen ist die Rede, die „grundsätzlich solch einschneidende Maßnahmen voraussichtlich rechtfertigen“ können. Die Entscheidung, Kultureinrichtungen geschlossen zu halten „dürfte“ innerhalb des „eingeräumten Beurteilungsspielraums liegen“, führt das Gericht an anderer Stelle aus. Ebenso „dürfte es“ für „die Annahme, bei Aufführungen im Freien oder mit einem entsprechenden Lüftungskonzept in geschlossenen Räumen ließen sich Ansteckungen unter den Besuchern und den Aufführenden praktisch ausschließen, … trotz vereinzelt vorliegender Studien bisher an eindeutig gesicherten Erkenntnissen fehlen,“ so heißt es weiter. Viele vage Formulierungen! Und wieso jetzt für die Zulässigkeit von öffentlichen Konzerten und Theateraufführungen der Nachweis zu führen ist, dass jede Ansteckung ausgeschlossen ist, erklärt das Gericht nicht. Täte es das, würde es sicher zu der Erkenntnis gelangen, dass mit einem solchen Maßstab noch ganz andere Maßnahmen, etwa im Wirtschaftsleben, im öffentlichen Nah- und Fernverkehr oder in der zivilen Luftfahrt, erforderlich wären. Zudem ist die Erwartung, es seien, wo auch immer, in absehbarer Zeit Ansteckungen auszuschließen, ohnehin illusorisch und deshalb angesichts fehlender Verhältnismäßigkeit zur juristischen Begründung ungeeignet.

Eine unzulängliche Grundrechte-Abwägung

Voraussichtlich ist ein in der Entscheidung viel benutztes Wort. Da hätte man sich trotz des Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz schon etwas mehr Klarheit gewünscht, vor allem wenn es um die Grundrechteabwägung geht. Stattdessen: Es liege voraussichtlich kein Verstoß gegen die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) vor. Kein Satz dazu, dass die Kunstfreiheit nicht unter Gesetzesvorbehalt und damit unter besonderem Schutz der Verfassung steht. Vielmehr werde, so das Gericht, die bayerische Corona-Verordnung der Abwägung zwischen der Kunstfreiheit einerseits und dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit „aller Voraussicht nach gerecht“. Zur Begründung dessen greift auch diese Entscheidung wieder auf die fatale Unterscheidung zwischen dem Werkbereich und dem Wirkbereich der Kunst zurück; nur letzterer sei eingeschränkt, wenn der Musiker, der Künstler nicht live vor Publikum spielen könne. Das klingt so, als sei die Kunst- und Meinungsfreiheit nicht eingeschränkt, solange Schriftsteller Bücher und Journalisten Texte zu Hause schreiben können, solange der Künstler in seinem Atelier Bilder malen oder Skulpturen herstellen darf, das alles aber lediglich der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden kann. Das ist – vorsichtig ausgedrückt – ein merkwürdiges Verständnis von solchen Freiheitsrechten, erst recht für die Bühnenkünste, denen eine Präsenz des Publikums, ein direkter Dialog mit dem Zuhörer und Zuschauer immanent ist. Insofern ist gerade hier der Hinweis auf elektronische Verbreitungsmöglichkeiten auch hochgradig fragwürdig, weil sie genau diesen direkten Dialog nicht ermöglichen.

Dass bei der Grundrechtsprüfung auch weitere Grundrechte relevant sind, hat das Gericht ebenfalls nicht ausreichend gewürdigt. Die Berufsfreiheit der Musikerinnen und Musiker nach Art. 12 Abs. 1 GG sei schwer beeinträchtigt, konzediert das Urteil zwar. Aber das Vorstellungsverbot vor Publikum erscheinebei summarischer Prüfung als nicht von vorneherein unangemessene Reaktion auf das derzeit noch auf hohem Niveau befindliche pandemische Geschehen“. Als Begründung stellt das Gericht die in keiner Weise nachweisbare Behauptung auf, dass man das Infektionsgeschehen bei der Fortführung von Kulturveranstaltungen nicht eindämmen könne, weil andere Bereiche geöffnet bleiben müssten. Dass hier auf Schulen und Kitas Bezug genommen wird, ist verständlich und sogar richtig, aber eher obsolet, weil auch deren Betrieb in den letzten Monaten weitgehend eingeschränkt wurde. Stellt man aber den Bezug zu anderen Bereichen her, etwa der gesamten Wirtschaft, dann klingt das herangezogene Argument doch eher wohlfeil, auch wenn es, wie im Urteil des VGH hervorgehoben wird, sogar vom Bundesverfassungsgericht ins Feld geführt wird.

Und wie steht es um die Grundrechte des Publikums? Die Religionsfreiheit und die damit verbundene Erlaubnis, Gottesdienste durchzuführen, könne im vorliegenden Zusammenhang nicht herangezogen werden, sagt das Gericht. Das ist zwar insoweit richtig, als sich der Kirchgänger in der Tat auf die Religionsfreiheit des Art. 4 GG berufen kann, der Konzert- oder Theaterbesucher hingegen nicht auf die Kunstfreiheit. Die Argumentation verkennt aber zweierlei: Zum einen werden Gottesdienste auch online angeboten, ohne dass der Besuch der entsprechenden „Liveveranstaltung“ verboten wird. Zum anderen kann sich der Besucher des Theaters und des Konzerts auf andere bedeutende Grundrechte berufen. Dazu gehören sowohl sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG. Beide Rechte des Publikums sind dem Gericht nicht einmal eine Erwähnung wert. Das gilt erst recht für die  Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG, also das Recht der Zuschauer etwa gemeinsam eine Oper anzusehen. Diese Versammlungsfreiheit wird, obwohl ausdrücklich in der Entscheidung als besonders schützenswert erwähnt, durch den VGH in keiner Weise hinsichtlich der Bedeutung für die Konzert- und Theaterveranstaltungen geprüft.

Dass bei der Grundrechteabwägung erneut das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 GG relativ absolut gegen die anderen Grundrechte gestellt wird, soll hier auch nicht unerwähnt bleiben. Denn weder ist das in unserer Rechtsordnung überall so – es lassen sich viele Bereiche des täglichen Lebens nennen, in denen das rechtlich anders beurteilt und praktiziert wird –, noch liegt in einem Konzert oder eine Theateraufführung mit ausreichendem Hygienekonzept die immer wieder einfach unterstellte Gefährdung dieser körperlichen Unversehrtheit. Auch dazu enthält die Entscheidung leider keine erhellenden Ausführungen. Genau so wenig wie zu der Frage, welches Grundrecht denn die Wirtschaft für ihre Privilegierung, etwa in der Fleischindustrie oder in der zivilen Luftfahrt, in Anspruch nehmen darf. Bei genauem Hinsehen ist das doch wohl vor allem Art. 14 GG, also die dort verankerte Eigentumsgarantie. Sie aber ist durch das Grundgesetz deutlich schwächer ausgestaltet als die Kunstfreiheit.

Die Befristung der Maßnahmen

Das Argument, die Beeinträchtigung der Grundrechte sei zeitlich begrenzt und deshalb hinnehmbar, wird in der Entscheidung wieder bemüht. Dass der Befristung der Maßnahmen bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine gewisse Bedeutung zukommt, ist unstreitig. Aber nun sind die Kultureinrichtungen seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres nahezu vollständig geschlossen. Eine Perspektive für die laufende Spielzeit besteht angesichts des neuen § 28 b Infektionsschutzgesetz vielerorts kaum (siehe dazu auf dieser Seite: https://stadtpunkt-kultur.de/2021/04/erneute-aenderung-des-infektionsschutzgesetzes-und-was-sie-fuer-theater-und-konzertsaele-bedeutet/). Der Gesetz- und Verordnungsgeber hangelt sich angesichts der unklaren Pandemie-Situation bei den Aufführungsverboten zulasten der Kultur also mehr oder weniger von Befristung zu Befristung. Ein derartig konstruierte Verhältnismäßigkeit wird den gesetzlichen Anforderungen an diese auf Dauer sicher nicht gerecht.

Fazit

Die Schließung der Kulturbetriebe erweist sich auch angesichts der jetzt vorliegenden Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs als außerordentlich fragwürdig. Dies gilt vor allem für die allgemein auf dem Verordnungswege oder wie jetzt abstrakt im Gesetz verfügten Vorstellungs- und Konzertverbote. Generell festzustellen, dass der der Gesellschaft entstehende Schaden bei Aufhebung von Veranstaltungsverboten größer sei als bei deren Stattfinden, ist angesichts der zahlreichen tangierten Grundrechte eher fragwürdig. Das bedeutet nicht, dass alle Theater- und Konzertbetriebe jetzt trotz hoher Inzidenz einfach geöffnet werden müssen oder auch nur können. Das bedeutet aber, dass die Entscheidung, ob eine von der Kunstfreiheit geschützte Veranstaltung stattfindet, der Grundrechtsträger selbst, also das Theater oder die Konzerthalle entscheiden muss. Dafür können der Gesetzgeber und die staatlichen bzw. städtischen Behörden realisierbare Vorgaben zum Hygieneschutz machen (z.B. Maske, Abstand, Corona-Test oder Impfung, Lüftung, im Sommer verstärkt Freilichtveranstaltungen). Ist trotz entsprechender Vorkehrungen Gefahr für die Gesundheit von Besuchern im Verzuge, können selbstverständlich auch Veranstaltungen untersagt werden. Hier wird die Pandemie-Situation vor Ort eine wesentliche Rolle spielen. Damit näherte sich die Pandemie-Bekämpfung wieder stärker der ursprünglichen Intention des Infektionsschutzgesetzes, der konkreten Gefahrenabwehr. Zuletzt wurde dieses Gesetz immer stärker in Richtung abstrakter Gefahrenabwehr verändert und das mit der gesetzlichen Verankerung oder sogar Anordnung sehr weitreichenden Maßnahmen. Diese hätten es erforderlich gemacht, auch über Entschädigungen nachzudenken. Denn ohne Frage ist etwa die Schließung eines privaten Theaters oder das den privaten Konzertveranstalter betreffende Konzertverbot ein enteignungsgleicher Eingriff, der nach Art. 14 Abs. 3 GG nur bei klarer Entschädigungsregelung zulässig ist. Die aber enthält das Infektionsschutzgesetz weder in Bezug auf § 28 a noch auf § 28 b. Auch das ist ein Mangel, der der VGH leider nicht auf die Spur gekommen ist.

Wohin die Reise führt? Über die Zukunft der Theater und die soziale Lage der Künstler

Die Theater sind vorläufig geschlossen. Wann es live wieder so richtig weitergeht mit Hamlet und Faust, mit Performativem und Literarischem, mit Oper, Konzert und Tanz weiß niemand. Auch nicht, ob es überhaupt einen Weg zurück gibt in die alte Routine. Manch einer sieht im augenblicklichen Stillstand eher eine Chance zu einer Art Neuanfang, zu einer Veränderung. Während, solche Erwartungen vor Augen, ein Teil der Theaterbelegschaft mit Kurzarbeitergeld und den öffentlichen Zuschüssen die Zeit finanziell abgesichert überbrückt, nimmt die Unruhe bei denen, die mit kurzfristigen Verträgen im Theater unterwegs waren, verständlicherweise zu. Also stellt sich umso mehr die Frage wie die Zukunft des Theaters aussehen mag, was gegebenenfalls für die Künstlerinnen und Künstler zu tun ist.

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Die Kultur-Debatte

Der Stand der Dinge ist leider eher ein wenig trostlos. Da werden Aerosol-Gutachten erstellt, die belegen, dass Theater (wie auch Konzertsäle und Museen) zu öffnen kein großes Problem wäre. Ob sich jedoch im Sinne einer solchen Öffnung irgendetwas Ernsthaftes tut, ist kaum abzusehen. Im Internet wird gestreamt, was das Zeug hält, große Theater allen voran. Es scheint dabei kaum jemanden zu kümmern, dass sich die Theater auf diese Weise überregional einen heftigen und fast ruinösen Konkurrenzkampf bieten werden. Vielmehr wird der Digitalisierung kulturpolitisch relativ ungehemmt das Wort geredet, und das, ohne genau zu wissen, ob und inwieweit sie wirklich kulturell trägt, wie sie aber vor allem mit vorwiegend regionalem, städtischem Bezug, also ohne den genannten Konkurrenzkampf zu realisieren ist. Zudem fallen seitens der Kulturpolitik gerne Begriffe wie Innovation und Transformation, was auch nicht gerade zur Beruhigung der Lage beiträgt, zumal niemand so recht sagt (oder sagen will), wohin die Reise gehen soll. Wer sich vorsichtig gegen zu viel Neuerungswillen ausspricht, kommt gleich in den Verdacht des Lordsiegelbewahrers.

Auf dem Theaterportal nachtkritik.de wird in einem Beitrag zugleich, von keiner Sachkenntnis getrübt, gegen den Theatertarifvertrag für das künstlerische Personal, den NV Bühne polemisiert. Der befristete Arbeitsvertrag für künstlerische Mitarbeiter wird in diesem Beitrag einmal mehr zum Sündenfall des deutschen Stadttheaters erklärt. Kein Wort davon, dass dieser Tarifvertrag, eben der NV Bühne, zurzeit Schauspielern und andern künstlerisch tätigen Theaterbeschäftigten ein beträchtliches Maß an sozialer Sicherheit gewährt. Und weil alle gerade so gut in Fahrt sind, nutzt der Spitzenverband der Kulturverbände, wie sich der Deutsche Kulturrat gerne nennt, mal wieder bei jeder passenden Gelegenheit die Gunst der Stunde, um gegen den real existierenden Föderalismus zu Felde zu ziehen. Dabei sind es doch die Länder (sowie die Kommunen), die das deutsche Kulturleben überwiegend finanzieren und am Leben erhalten. Das weiß auch der Kulturrat, der sich ansonsten in diesen Corona-Zeiten aber durchaus um die Künste wirklich verdient gemacht hat; das muss auch gesagt werden.

Lichtblicke und ihre brisante Bedeutung

Da ist es angenehm, wenn hier und da der eine oder andere Lichtblick wahrzunehmen ist. Etwa, ebenfalls auf nachtkritik.de, mit einem als Brief an die Kulturstaatsministerin verfassten Bericht über die wirkliche Not einer mit wechselnden Verträgen hier und da beschäftigten Schauspielerin, die gerade genau nicht unter den sozialen Schutz des NV Bühne fällt. Denn dieser Text ist endlich mal eine Darstellung der realen Probleme, die schon länger einer Lösung harren. Das gilt umso mehr, wenn die unständige Beschäftigung im Vergleich zur Beschäftigung nach NV Bühne demnächst weiter zunehmen sollte. Es ist die Vermutung berechtigt, dass dies der Fall sein wird. Was legt diese Vermutung nahe?

  1. Die Anzahl der kurzfristigen Beschäftigung steigt seit Jahren in den Theatern erheblich. Das Repertoire- und Ensemblesystem des deutschen Stadttheaters verschiebt sich zunehmend zugunsten eines Stagionesystems, bei dem eine fertig geprobte Theaterproduktion für einige Wochen mit mehreren, zuweilen auch ensuite gespielten Aufführungen auf dem Spielplan bleibt und dann im Fundus verschwindet, in seltenen Fällen in einer späteren Spielzeit wieder aufgenommen wird. So sehr wir uns auch in Zukunft um den Erhalt des Ensemble- und Repertoiretheaters bemühen werden und müssen, diese Entwicklung ist kaum noch aufzuhalten.
  2. Erneute Diskussionen über die Theaterkosten und deren öffentlicher Finanzierung werden wohl demnächst dazu führen, dass auf der Produktionsseite gespart werden muss. Das hieße, weniger produzieren. Dann werden feste Ensemble-Mitglieder nicht mehr in dem Umfang gefragt sein wie bisher, erst recht nicht, wenn in Zukunft stärker digitale Präsentationsformen (mit Wiederholungspotential durch mehrfach Abspielen) im Theater genutzt werden sollten.
  3. Der auf mehrere Spielzeiten befristete Arbeitsvertrag, der durch eine Nichtverlängerungsmitteilung aus künstlerischen Gründen oder wegen Intendantenwechsel beendet wird, wird, auch angesichts der über ihn geführten Debatte, mit immer größeren rechtlichen und politischen Risiken verbunden sein. Dass an seine Stelle eine überwiegend unbefristete Beschäftigung von Schauspielern, Tänzerinnen, Sängern und Dramaturginnen treten wird, wie es einige gerne hätten, ist aus Gründen der Kunst nicht zu erwarten und wohl kaum wünschenswert. Da unterscheidet sich dann Deutschland nicht von anderen Ländern der Welt.
  4. Insgesamt wird der Theater-Arbeitsmarkt also volatiler werden. Mancher Künstler, manche Künstlerin wird dem Arbeitsvertrag nach NV Bühne noch hinterhertrauern, auch wenn in den vergangenen Jahren hat, vor allem im Schauspiel, der hohe Produktionsdruck des Ensemble- und Repertoire-Theaters zuweilen hohe Belastungen für die Beschäftigten zur Folge gehabt hat.
  5. Für die Theater kann die beschriebene Entwicklung hin zu mehr kurzfristiger Beschäftigung von Künstlerinnen und Künstlern deshalb von Vorteil sein, weil sie auf ein breites Angebot von künstlerischem Personal flexibel zurückgreifen können und dadurch einen neuen künstlerischen Freiraum gewinnen.

Die Veränderungen sozial auffangen

Geht man von diesen Entwicklungen aus, dann gewinnt der oben genannte Brief an zusätzlicher Brisanz. Er zeigt nämlich, wie dringend erforderlich es ist, den sozialen Schutz von darstellenden Künstlerinnen und Künstlern deutlicher als bisher in den Blick zu nehmen. Dafür sind zurzeit zwei Bausteine erkennbar.

§ 142 Abs. 2 des dritten Sozialgesetzbuches

Der eine liegt, wie auf dieser Internet-Seite schon vor fast einem Jahr gefordert (https://stadtpunkt-kultur.de/2020/03/corona-hilfsprogramm-fuer-kunst-und-kultur/), in der  Änderung von § 142 Abs. 2 SGB III. Dort wird geregelt, unter welchen Voraussetzungen unständig als Arbeitnehmer Beschäftigte Arbeitslosengeld I beziehen können. Vor allem für darstellende Künstler ist diese Vorschrift besonders wichtig, weil sie nach dem Abgrenzungskatalog der Sozialversicherung auch bei kurzfristiger Beschäftigung in der Regel als Arbeitnehmer und nicht als Soloselbstständige gelten. Voraussetzung für das Arbeitslosengeld bei unständiger Beschäftigung ist, dass ein Darsteller innerhalb einer Rahmenfrist von 30 Monaten insgesamt sechs Monate (Anwartschaftszeit) auf der Grundlage von mehreren eher auf kurze Zeit befristeten Arbeitsverträgen beschäftigt wurde und dabei in den letzten zwölf Monaten nicht mehr einen gesetzlich festgelegten Höchstbetrag mit abhängiger Beschäftigung verdient hat.

Diese Vorschrift müsste endlich geändert werden. Die genannte Anwartschaftszeit muss von sechs Monaten auf drei Monate verkürzt werden. Als Beschäftigungstage werden die Tage des tatsächlichen Einsatzes gezählt. Für sie muss dann auch im Rahmen der Tagesbemessungsgrenze von Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gezahlt werden. Das Arbeitslosengeld I würde nach insgesamt 90 Beschäftigungstagen für neun Monate gezahlt, jedoch nicht für Zeiten weitere Beschäftigungen in diesen neun Monaten. Entstünde wegen weiterer 90 Beschäftigungstage ein neuer Anspruch auf Arbeitslosengeld I für neun Monate, entfielen die noch bestehenden Anspruchstage des vorhergehenden Zeitraums.

Als Alternativmodell denkbar wäre ein Modell, dass dem Beschäftigten für jeden Tag der Beschäftigung Arbeitslosengeld I für eine bestimmte Anzahl von anschließenden Tagen ohne Beschäftigung garantiert. Das würde etwa bedeuten, dass ein Beschäftigter pro Beschäftigungstag bei kurzfristiger Beschäftigung drei Anspruchstage auf Arbeitslosengeld I erhält.

Arbeitslosenversicherung für selbstständig tätige Künstler

Noch schwieriger wird die jetzt schon mehrfach öffentlich geforderte Arbeitslosenversicherung für selbstständig tätige Künstler. Dies gilt umso mehr, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin in unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen, also mal selbstständig, mal abhängig beschäftigt unterwegs ist. Weil auch die selbstständige Beschäftigung meist kurzfristiger Natur ist, wäre es sinnvoll, die Arbeitslosenversicherung für selbstständige Künstler in die für § 142 Abs. 2 SGB III oben entwickelten Modelle zu integrieren. Das würde bedeuten, dass für eine selbstständige Tätigkeit im Vertrag immer eine Anzahl von Beschäftigungstagen festgelegt werden muss. Sozialversicherungsrechtlich wird das Honorar auf diese Beschäftigungstage gleichmäßig rechnerisch verteilt. Auf das daraus sich ergebende Tageshonorar müssen dann sowohl der Künstler als auch das Unternehmen, für die die Leistung erbracht wird, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung – wieder im Rahmen der Tagesbemessungsgrenze – zahlen. Die im Vertrag festgelegten Tage werden zugleich in die Berechnung der Beschäftigungstage nach § 142 Abs. 2 SGB III (s.o.) einbezogen. So könnte auch ein Beitrag zur leidigen Diskussion über die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit geleistet werden. Zumindest bei der Arbeitslosenversicherung wäre diese Abgrenzung nicht mehr erforderlich.

Das Problem Arbeitslosigkeit und Verdienstgrenze

Die Hauptschwierigkeit der oben vorgeschlagenen Lösungen liegt in der Frage: Wann liegt bei unständiger, oft auf wenige Tage beschränkter Beschäftigung Arbeitslosigkeit vor? Hat etwa eine Schauspielerin zwischen dem 5. Februar und dem 27. März eines Jahres insgesamt sechs Auftritte bei demselben Theater vereinbart, dann geht die Bundesagentur für Arbeit bisher regelmäßig davon aus, dass ein durchgehendes Arbeitsverhältnis in dem gesamten genannten Zeitraum besteht. Zwischen den einzelnen Auftritten kann sich die Schauspielerin nicht arbeitslos melden. Hat sie in den sechs Auftritten je 2.000 € verdient, also insgesamt 12.000 €, ist das kein Problem. Anders liegt selbstverständlich der Fall bei einem Verdienst von 100 € pro Auftritt und damit einem Gesamtverdienst von lediglich 600 €. Würde man umgekehrt nur von einem Arbeitsverhältnis ausgehen, dass jeweils nur an den einzelnen Tagen besteht, dann könnte sich die Schauspielerin in beiden Fällen, falls die Voraussetzungen des § 142 Abs. 2 SGB III ansonsten vorliegen, arbeitslos melden und Arbeitslosengeld I beziehen. Im Falle des 100-Euro-Verdienstes pro Auftritt wäre das gut so, im Falle des 2.000-€-Verdienstes pro Auftritt jedoch wohl kaum gerechtfertigt.

Deshalb geht es auch weiterhin nicht ohne die Verdienstgrenze, die schon jetzt in § 142 Abs. 2 SGB III vorgesehen ist (s.o.). Die bestehende an den Verdienst der letzten zwölf Monate anknüpfende Verdienstgrenze hat aber dazu geführt, dass in der Corona-Krise viele durch den Rost dieser Vorschrift gefallen sind. Es handelte sich dabei vor allem um Künstlerinnen und Künstler, die in den zwölf Monaten vor der coronabedingten Schließung der Kultureinrichtungen in abhängige Beschäftigung über dem gesetzlich festgelegten Höchstbetrag verdient haben, dann aber plötzlich kein einziges Engagement mehr erhielten und praktisch ohne Einkommen dastanden. Insofern ist es falsch, bei der Höchstgrenze nur an den Verdienst der letzten zwölf Monaten anzuknüpfen. Besser wäre es, (zumindest zusätzlich) festzulegen, dass eine Arbeitslosigkeit jedenfalls eintritt, wenn der Beschäftigte in einem Monat weniger verdient als einen gesetzlich festzulegenden Betrag. Der Betrag könnte sich an der nach dem Arbeitszeitgesetz höchst zulässigen durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit (umgerechnet auf den Monat) und dem gesetzlichen Mindestlohn orientieren. Das ergäbe zurzeit einen monatlichen Betrag von ca. 2.000 €. Wer also in einem Monat diesen Betrag verdient, kann sich in diesem Monat nicht arbeitslos melden. Außerdem müsste die Arbeitslosigkeit vom Beschäftigten zu vertreten sein. Deshalb müsste er der Arbeitsvermittlung zumindest für Tätigkeiten in seinem Beruf zur Verfügung stehen, also zur Übernahme von angebotenen Aufgaben bereit sein. In dem oben genannten Fall würde eine solche Regelung dazu führen, dass sich die Schauspielerin, die pro Auftritt 100 € erhält, auch in den Zeiten zwischen den Auftritten arbeitslos melden könnte und Arbeitslosengeld I gezahlt bekäme. Aber auch derjenige, der bisher gut verdient hat und plötzlich coronabedingt keine Aufträge mehr bekäme, würde diese Sozialleistung erhalten.

Schlussbetrachtung

Es ist klar, das ganze klingt nicht nur, sondern ist kompliziert. Diese Vorschläge sollen auch nur als erste Anregung für die weitere Debatte dienen. Aber die Wahrheit ist konkret. Es reicht nicht, wie ich meine, bei der Frage nach der sozialen Lage der Künstler alleine den Istzustand zu beklagen, unrealistische Forderungen aufzustellen, sich in (begründeten) Zukunftssorgen zu ergehen oder bei richtigen Überlegungen im Allgemeinen stecken zu bleiben. Fatal ist es zudem, den Eindruck zu erwecken, durch ein paar Änderungen im Tarifvertrag, so etwa im oben genannten NV Bühne, ließen sich die Probleme lösen. Dadurch würde dem Gesetzgeber das Gefühl vermittelt, er sei gar nicht gefragt, wenn es um die soziale Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern geht. Das Gegenteil ist der Fall.

Das Ganze kostet im Übrigen Geld. So ist es zum Beispiel auch in Frankreich, wo es mit den „intermittents du spectacle“ Vergleichbares zu dem oben skizzierten Modell gibt. Etwas mehr als  eine Milliarde Euro pro Jahr, so heißt es immer, lässt sich der französische Staat dieses Absicherungsprogramm für die darstellenden Künste kosten, neben seiner Kulturförderung versteht sich. Das sollte es auch dem Steuerzahler hierzulande Wert sein.

Wie sozial sind der befristete Arbeitsvertrag und das Nichtverlängerungsrecht im deutschen Theater?

In regelmäßigen Abständen wiederholen sie sich, die Debatten über die Nichtverlängerung von künstlerischen Arbeitsverhältnissen beim Intendantenwechsel. In Osnabrück gibt es gerade diese Diskussionen, in Meiningen-Eisenach, auch in Schwerin. Beklagt wird, dass eine größere Zahl von künstlerischen Mitarbeitern, meist Solodarsteller wie Schauspieler oder Sängerinnen, aber auch Dramaturginnen, Mitarbeiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit oder technische Leiterinnen das Haus mit dem bisherigen Intendanten verlassen muss. Sie alle haben einen Ensemble-Vertrag, also einen auf eine oder mehrere Spielzeiten befristeten Arbeitsvertrag, der oft schon viele Jahre besteht und der nach dem einschlägigen Tarifvertrag, dem Normalvertrag (NV) Bühne, durch sogenannte Nichtverlängerung beendet werden kann. Dazu bedarf es der künstlerischen Gründe; kommt ein neuer Intendant, eine neue Intendantin, reicht der Intendantenwechsel zur Begründung der Nichtverlängerung aus. Und deshalb darf man sich fragen: Wird da zu Recht über ein mangelndes soziales Bewusstsein, über einen zu arbeitgeberfreundlicher Tarifvertrag geklagt? Die Antwort lautet eindeutig nein.

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Die projektbezogene Befristung

Es ist überall in der Welt wegen der künstlerischen Freiheit Theaterusance, dass den in diesen Betrieben tätigen Künstlern fast immer befristete Arbeitsverträge angeboten werden. Meist werden diese Arbeitsverträge begrenzt auf die Laufzeit eines Projekts, an dem der künstlerische Mitarbeiter oder die künstlerische Mitarbeiterin jeweils beteiligt ist, abgeschlossen. Besteht ein Theaterprojekt aus einer sechswöchigen Probenzeit und steht das eingeübte Stück dann meist en suite, also so gut wie jeden Tag, für vier Wochen auf dem Spielplan, dann bekommt eine in diesem Projekt tätige Schauspielerin einen Arbeitsvertrag für insgesamt 10 Wochen. Danach ist sie arbeitslos, bis sie das Engagement in einem neuen Projekt gefunden hat.

So geht es zu beispielsweise in Großbritannien, in Italien, in Frankreich oder in Spanien, von Theatern außerhalb Europas ganz zu schweigen. Aber auch Privattheater in Deutschland verfahren so, letztlich sogar die öffentlich getragenen Stadttheater, Staatstheater und Landesbühnen. Denn jenseits der Ensemble-Verträge nach NV Bühne schließen auch diese Theater jährlich tausende von projektbezogen befristeten Verträgen ab, teils auf Angestellten-Basis, d.h abhängig beschäftigt, teils auf der Grundlage von selbstständiger Tätigkeit mit freien Werk- und Dienstverträgen. Solche Verträge laufen – auch hierzulande – aus, wenn das Projekt beendet ist. Soziale Schutzmechanismen existieren in diesem Fall nicht, genauso wenig wie beispielsweise bei einer Arbeitnehmerin, die ein Betrieb als Aushilfe für einen kranken Mitarbeiter befristet auf dessen Krankmeldung oder für eine wegen einer Schwangerschaft oder wegen Elternzeit ausgefallene Sekretärin beschäftigt wird.

Was sagt das Gesetz?

Dass diese Befristungen für einen vorübergehenden Bedarf zulässig sind, ergibt sich aus der für befristete Arbeitsverträge einschlägigen EU-Richtlinie und aus dem deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG). Ebenso erlauben aber beide Rechtsnormen, dass ein Arbeitsvertrag ausschließlich wegen der Art der Tätigkeit befristet wird. Das ist beispielsweise bei einer künstlerischen Tätigkeit der Fall. Damit ist einerseits ein Vorteil für die Arbeitnehmer verbunden. Denn sie müssen nicht das ständige Auf und Ab des projektbezogen befristeten Arbeitsvertrag über sich ergehen lassen. Vielmehr können sie über Jahre (hier nach NV Bühne) befristet beschäftigt werden, was in deutschen Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen auch regelmäßig stattfindet. Gerade beim Intendantenwechsel stößt der neue Intendant häufig auf Verträge, die zehn Jahre und länger bestehen. Andererseits liegt für die Arbeitgeberseite der Vorteil ebenfalls in der größeren Kontinuität, aber auch in der Erleichterung der Beendigung des Vertrages durch die Befristung. Sie ist Auswuchs der Kunstfreiheit und ersetzt die sich aus der projektbezogenen Befristung ansonsten resultierende Flexibilität.

Der soziale Schutz im Nichtverlängerungsverfahren nach NV Bühne

Aber die Möglichkeit der Befristung auf einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren und unter gewissen Voraussetzungen auch noch bis zu vier Jahren mehr ist für die Arbeitgeberseite auch ein Privileg, das gewisser sozialer Ausgleichs- und Schutzmaßnahmen bedarf. Dazu gehört zunächst das Nichtverlängerungsverfahren selbst, das deutlich komplizierter ist als ein Kündigungsverfahren bei unbefristeten Arbeitsverträgen und schon nach einjähriger Befristung mit einer Auslauffrist von zehn Monaten zur Anwendung gelangt. Wer also am Ende einer Spielzeit (im Sommer) gehen soll, muss das bis Ende Oktober des Vorjahres, nach acht Jahren Beschäftigungsdauer bis Ende Juli des Vorjahres vom Arbeitgeber schriftlich mitgeteilt bekommen. Unzulässig ist eine Nichtverlängerungsmitteilung ohne vorherige, detailliert tarifvertraglich geregelte Anhörung der betroffenen Person. Schwangere werden ebenso mittlerweile vor Nichtverlängerungen geschützt wie Mitarbeiter, die sich als gewählte Vertreter der den NV Bühne abschließenden Gewerkschaften für ihre Kollegen und Kolleginnen einsetzen. Einen solchen Schutz gibt es bei einer projektbezogenen Befristung eines Arbeitsvertrags in keiner Weise. Da läuft der befristete Vertrag einfach aus, mit oder ohne Schwangerschaft. Zusätzlich wird hingegen bei einer Nichtverlängerung wegen Intendantenwechsel nach vier Jahren eine gestaffelte Abfindung bezahlt, die im Falle eines NV Bühne-Vertrags von 12 Jahren und mehr auf sechs Monatsgehälter ansteigt. Das gilt jedoch nur, soweit etwa der nichtverlängerte Schauspieler oder die nicht verlängerte Dramaturgin kein neues Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber hat. Von solchen Abfindungen können projektbezogen Beschäftigte wo auch immer in der Künstlerwelt nur träumen.

Der befristete Arbeitsvertrag in Corona-Zeiten

Wenn eine Künstlerin mit einem Theater einen befristeten Vertrag (selbstständig oder abhängig beschäftigt) für ein einzelnes Projekt abgeschlossen hatte, der während des ab März verfügten Corona-Lockdowns auslief, stand sie am Tag nach Beendigung des Vertrags ohne jede Beschäftigung da. Neue Engagements wurden ihr wegen des Stillstands des Kulturbetriebs nicht angeboten. Angewiesen war sie weitgehend auf Hartz 4, entweder als Arbeitslosengeld II bei abhängiger Beschäftigung oder als Grundsicherung bei Selbstständigkeit. Wer hingegen als NV Bühne Mitarbeiter über einen Ensemble-Vertrag nach NV Bühne verfügte, der hatte, nachdem im März 2020 in Deutschland der erste Corona-Lockdown verfügt worden war, eine Beschäftigungsgarantie bis zum Ende der Spielzeit 2020/21, also bis zum Sommer 2021. Da im  Laufe des Jahres 2020 keine coronabedingten Nichtverlängerungsmitteilungen ausgesprochen wurden, verlängerte sich diese Jobgarantie bis zum Sommer 2022. Eine solche Situation gibt es für Theaterkünstler in keinem anderen Land Europas, wobei man allerdings Österreich und die deutschsprachige Schweiz ausnehmen muss; beide verfahren praktisch entsprechend dem deutschen Nichtverlängerungssystem.

Bewertung der Nichtverlängerung

Angesichts des erheblichen Schutzmechanismus des NV Bühne ständig, vor allem beim Intendantenwechsel, den Versuch zu machen, das Nichtverlängerungsverfahren als unsozial darzustellen, verkennt, wie sehr das Verfahren eine kluge Abwägung zwischen der Freiheit der Kunst und dem sozialen Schutz der Mitarbeiter ist. Die projektbezogene Befristung von Beschäftigungsverträgen als Alternative stärkt zwar die Flexibilität im künstlerischen Bereich, also die Freiheit der Kunst, ist aber, wie man in vielen Ländern der Welt gerade jetzt beobachten kann, hochgradig unsozial. Die Alternative in anderer Richtung – der unbefristete Vertrag mit künstlerischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Theater – führte jedoch zu einer völlig statischen Personalsituation (einschließlich der Überalterung der Ensembles), die letztlich auch nicht im Sinne der Arbeitnehmer sein kann, erst recht nicht der jungen, die noch im Theater Fuß fassen wollen und müssen. Wollte zudem eine neue Intendantin unter Fortbestand der bisherigen Künstler-Arbeitsverhältnisse mit den von ihr ausgesuchten Künstlerinnen und Künstlern ihren Spielplan gestalten, dann müsste sie diese hinzuengagieren, was eine teuer Aufblähung des Ensembles zur Folge hätte.

Es ist dennoch keine Frage, dass der Verlust des Arbeitsplatzes wegen Intendantenwechsels, vor allem auch in Corona-Zeiten, für die Betroffenen bitter ist. Umso notwendiger ist dann, wenn kein neuer Arbeitsplatz angeboten wird, die soziale Absicherung. Sie wird im Falle des Intendantenwechsels teils durch die oben geschilderte Abfindung sichergestellt. Sie wäre aber in einer Branche wie die der darstellenden Kunst, wo nur befristete Arbeitsverträge angeboten werden, in der Arbeitslosenversicherung durchaus besser als bisher zu realisieren. Das französische Modell der „Intermettents du spectacle“ ist dafür ein gutes Beispiel.

Die Zukunft

Vielerorts wird zur Zeit die Frage diskutiert, ob Corona nicht auch die Chance zur Veränderung ist. Das Wort „Innovation“ macht die Runde. Manch einer zweifelt bereits daran, dass man überhaupt noch einmal zum Ensemble- und Repertoirebetrieb der bisherigen Form zurückkehren wird. Andere warnen davor, Bewährtes leichtfertig über Bord zu werfen. Wer ständig das Nichtverlängerungsrecht wegen zu vieler Vertragsbeendigungen bei Intendantenwechsel kritisiert, läuft Gefahr, damit die erste Gruppe zu unterstützen. Das hätte für die künstlerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verhängnisvolle Folgen, denn sie bekämen meist nur noch projektbezogen befristete Verträge. Das gerade ist ja der Grund, warum im Sinne einer größeren künstlerischen Flexibilität der Beendigung des Ensemble- und Repertoiretheater das Wort geredet wird. Doch wer an dieser Stelle weiterdenken möchte, der muss es zuerst aus der sozialen Sicht der Künstler tun und der muss es bezahlen. Und das hieße erst recht, die Sozialversicherung bei befristeten Arbeitsverträgen in der darstellenden Kunst deutlich zu verbessern. Alles andere ist sozialpolitisch fahrlässig. Es als Utopie oder Innovation zu bezeichnen, ist Euphemismus.

Ein neues Urteil, ein neues Gesetz! Ist die Schließung von Theatern und Konzertsälen im zweiten Corona-Lockdown noch rechtmäßig?

Erst verlor Didi Hallervorden vor dem Verwaltungsgericht Berlin den Prozess, mit dem er gegen die Schließung seines Schlosspark Theaters geklagt hatte. Dann kam der neue § 28 a Infektionsschutzgesetz, der gerade in Kraft getreten ist. Heftige Kritik an dem ersten Gesetzentwurf (s. auch „Der Entwurf des neuen § 28a Infektionsschutzgesetz“ in diesem Blog) haben dazu geführt, dass die verabschiedete Fassung deutlich zugunsten der Künste von der zunächst geplanten Fassung des Gesetzes abweicht. Beides lässt die Schließung von Theatern und Konzertsälen im neuen juristischen Licht erscheinen. Es stellt sich also einmal mehr die Frage: Wie ist die Rechtslage?

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Hallervorden hatte den Mut, einen Antrag auf einstweilige Anordnung vor dem Verwaltungsgericht in Berlin zu stellen, um so der Schließung seines Schlosspark Theaters entgegenzutreten. Das ist erfreulich, überließ die Kultur doch bisher den Corona-Gang zum Gericht allen möglichen anderen Einrichtungen und Unternehmen, die sich nicht auf ein so starkes Grundrecht wie das der Kunstfreiheit berufen konnten.

Das Urteil

Da Hallervorden mit seinem Antrag dennoch in erster Instanz gescheitert ist, lohnt ein Blick auf die Begründung des Gerichts. Die zentralen Argumente der Entscheidung (Aktenzeichen VG 14 L 516/20) lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen:

  • Der Besuch eines Theaters ist besonders gefährlich, allein wegen des Ausstoßes der Aerosole durch die auftretenden Künstler, aber auch wegen der Kommunikation der Zuschauer untereinander. Ob die Hygiene-Maßnahmen, die die Theaterbetriebe ergriffen haben, dem ausreichend entgegenwirken, ist fraglich, jedenfalls nicht bewiesen.
  • Eingegriffen wird durch die Schließung nur in den Wirkbereich (es gibt keine Zuschauer), nicht in den Werkbereich (die Künstler können weiterarbeiten). Man kann proben, Aufführungen nachholen und elektronische Formate nutzen.
  • Gerade die Möglichkeit der elektronischen Formate und das damit verbundene Erreichen der Zuschauer lässt den Eingriff in die künstlerische Freiheit  gegenüber dem Gesundheitsschutz zurücktreten.
  • Die Schließung ist zeitlich befristet.
  • Es gibt finanzielle Überbrückungshilfen.
  • Das Gleichheitsgebot besonders im Vergleich mit weiterhin erlaubten kirchlichen Veranstaltungen ist nicht verletzt.
  • Kultur ist eine, wenn auch hochwertige, Form der Freizeitgestaltung und muss als Freizeitveranstaltung deshalb eher die Beeinträchtigung hinnehmen als andere Bereiche.

Das Urteil ist zwar nur das eines Verwaltungsgerichts, also keine höchstrichterliche Rechtsprechung, verdient aber dennoch wegen seiner ausgiebigen Begründung schon eine gewisse Beachtung.

Die endgültige Fassung von § 28 a Infektionsschutzgesetz

Der neue § 28 a Infektionsschutzgesetz konkretisiert die Maßnahmen, die (ausschließlich zur Bekämpfung von Covid 19 und nicht wegen anderer Pamdemien)  ergriffen werden können. Die mit heißer Nadel genähte Entwurfsfassung der Vorschrift hat durch die Beschlussempfehlung des für Gesundheit zuständigen Bundestags-Ausschusses auch für die Kultureinrichtungen und -betriebe eine deutliche Verbesserung erfahren. Insbesondere hat man die Eingriffe in den Kulturbereich von denen in den Freizeitbereich getrennt und ist insoweit schon einmal der Sichtweise des oben zitierten Urteils nicht gefolgt. Außerdem wurde in der Gesetzesbegründung die Bedeutung der Kultur besonders hervorgehoben. Dort heißt es:

„Die Untersagung und Beschränkung des Betriebs von Kultureinrichtungen oder von Kulturveranstaltungen sind insbesondere grundrechtsrelevant mit Blick auf die Kunstfreiheit nach Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, der die künstlerische Betätigung selbst („Werkbereich“), aber auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks („Wirkbereich“) umfasst und damit auf Seiten der Veranstalter wie auch der Künstlerinnen und Künstler selbst wirksam wird. Bei Untersagungen oder Beschränkungen im Bereich der Kultur muss der Bedeutung der Kunstfreiheit ausreichend Rechnung getragen werden. Beschränkungen insbesondere des Wirkbereichs können in einer volatilen Pandemielage mit dem Ziel einer Reduzierung von Infektionszahlen erforderlich sein, um den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit angemessen gewährleisten zu können.“

Mit diesem Hinweis beschreibt man die sich aus der Kunstfreiheit ergebenden grundgesetzliche Rechtslage und unterscheidet auch – wie das Verwaltungsgericht Berlin – in den Werk- und den Wirkbereich. Ebenso wichtig sind aber einige Aspekte, die für alle Maßnahmen nach § 28 a Infektionsschutzgesetz gelten und sich aus den Absätzen 3, 5 und 6 ergeben. Dazu gehören.

  • Regionale Unterschiede der Maßnahmen je nach Infektionsgeschehen,
  • Begrenzung der Maßnahmen auf grundsätzlich vier Wochen (allerdings mit Verlängerungsoption),
  • Begründungszwang für alle Maßnahmen,
  • Einbeziehung von „sozialen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit“ in die Entscheidungsfindung,
  • Herausnahme von sozialen, gesellschaftlichen und oder wirtschaftlichen Bereichen, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, soweit ihre Einbeziehung zur Verhinderung der Verbreitung von Covid 19 „nicht zwingend erforderlich ist“.

Die Bewertung

Mit Rücksicht auf das zitierte Urteil und die neue Gesetzeslage sind die Eingriffe in den Kulturbereich schwieriger geworden. Dies gilt vor allem angesichts des hohen Niveaus der Hygieneschutzmaßnahmen von Theatern, Konzertsälen und Museen. Die Unterscheidung in den Wirk- und den Werkbereich verkennt bei den Theatern und Konzertsälen, dass das Spielen vor Publikum ein wesentlicher Teil des Werkbereichs ist. Der Schauspieler, jede darstellende Künstlerin in einem Theater übt bei jeder Vorstellung eine künstlerische Tätigkeit aus, auch wenn jedes Mal dasselbe Stück gespielt wird. Das wird vor allem bei dem Hinweis des Verwaltungsgerichts Berlin auf die Möglichkeit der digitalen Vermittlung außer Acht gelassen.

Sowohl aus dem Gesetz als aus dem Urteil ergibt sich jedoch eindeutig, dass an Eingriffe in den Werkbereich besonders hohe Anforderungen zu stellen sind. Das macht deutlich, dass z.B. die Untersagung des Probenbetriebs, der im ersten Lockdown stattgefunden hat, nur unter extremen Bedingungen möglich ist, die im Frühjahr dieses Jahres keinesfalls vorgelegen haben und zur Zeit auch nicht vorliegen. Eine ganz andere Frage ist, ob und wann sich die Theater und Orchester selbst entscheiden, eine Zeit lang zum Schutz ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht zu proben.

Jede Verlängerung einer Schließung stellt nunmehr ebenfalls höhere Anforderungen an den Eingriff in das Grundrecht der Kunstfreiheit. Dies gilt umso mehr angesichts des nun gesetzlich geforderten Begründungszwangs. Der einfache Mechanismus der Fortsetzung der Maßnahmen bei Fortbestand der hohen Infektionszahlen ist – auch als politische Forderung (z.B. Söder, Scholz) formuliert – mit der aktuellen Gesetzeslage nicht mehr vereinbar. Hinzu kommt, dass je niedriger die Zahlen sind, desto abstrakter ist die Gefahr und desto schwieriger ist der Eingriff in einen Betrieb. Die Tatsache, dass dabei nicht nur auf wirtschaftliche, sondern vorrangig auf soziale und gesellschaftliche Aspekte abgestellt wird, mach deutlich, dass gerade bei Eingriffen in die Kulturbetriebe besondere Hürden zu überwinden sind.

Nicht auf die gleiche Stufe gestellt sind die Kultureinrichtungen jedoch mit den religiösen Versammlungen, die in § 28 a Abs. 2 Nr. 1 Infektionsschutzgesetz eine besondere Privilegierung erfahren. Denn bei religiösen Zusammenkünften wie einer Messe sind auch die Besucher durch die in Artikel 4 Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit geschützt. Einen solchen Schutz können die Besucher einer Kulturveranstaltung nicht für sich in Anspruch nehmen. Ob sich diese Trennung sauber durchhalten lässt, ist allerdings spätestens bei einer Konzertsaal-Aufführung etwa von Mozarts „Requiem“ in Frage gestellt. Jedenfalls können sich die Zuschauer jedoch auf Artikel 2 Grundgesetz berufen, da die Schließung einer Kultureinrichtung sie an der freien Entfaltung der Persönlichkeit hindert. Das folgt vor allem aus der Tatsache, dass die Kultur richtigerweise gesetzlich nicht mehr dem Freizeitbereich zugeordnet wird. „Kulturorte sind Orte der Sinnsuche und der Erkenntnis und deswegen gerade in Zeiten wie diesen wichtig für unsere freie, offene und demokratische Gesellschaft. Theater und Orchester sind Kristallisationspunkte für unsere gesellschaftlichen Diskurse.“, hat Carsten Brosda, der Hamburger Kultursenator, nach seiner Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins gesagt. Und das ist eben mehr als Freizeitgestaltung.

Resümee

Insgesamt darf dennoch die hohe Gefährdung der Bevölkerung durch das Corona-Virus nicht verkannt werden. Das gilt erst recht, wenn man bedenkt, wie hoch möglicherweise die Dunkelziffer nicht erfasster Erkrankungen ist. Der gerade in Südtirol durchgeführte Flächentest hat eine Infektionszahl von 1.1 Prozent der Getesteten zu Tage gefördert. Das ist eine ganze Menge, prozentual deutlich mehr als die Zahlen, die zurzeit täglich für die Bundesrepublik Deutschland gemeldet werden. Politik und Gesellschaft entbindet das aber nicht von der Pflicht, ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Gesundheitsschutz einerseits und dem Schutz von Grundrechten andererseits herzustellen. Diese Verpflichtung ist durch die Einführung des § 28 a in das Infektionsschutzgesetz in seiner jetzigen Fassung deutlicher geworden. Mit populistischen Sprüchen in die eine oder andere Richtung wird man ihr jedoch nicht gerecht. Nur mit finanzieller Entschädigung allerdings auch nicht. Denn es geht bei der künstlerischen Arbeit um mehr als den reinen Broterwerb.

Der Entwurf des neuen § 28 a Infektionsschutzgesetz

In diesen Tagen wird sie im Bundestag verabschiedet: Die nächste Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Damit man gleich weiß, dass hier keine Belanglosigkeiten geregelt werden, trägt auch dieser Gesetzentwurf den bedeutungsschweren Titel „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Eingeführt in das Infektionsschutzgesetz wird u.a. ein neuer § 28 a. Diese Vorschrift soll die bundesweit getroffenen Schutzmaßnahmen auf eine neue Rechtsgrundlage stellen. Man wolle diese Maßnahmen gerichtsfest machen, heißt es dazu. Das überrascht, dachte man doch, dass das Infektionsschutzgesetz alles bisher zum Schutz vor Corona Beschlossene trägt. Umso erforderlicher ist es nun, einmal mehr genau hinzusehen, worum es geht. Oder vielleicht auch, worum es nicht geht.

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Zunehmend wird zwar eine Debatte über das Verhältnis zwischen Gesundheitsschutz einerseits und die durch ihn eingeschränkte Grundrechte andererseits geführt. Diese Debatte nimmt aber nicht nur in Demonstrationen von Impfgegnern und ähnlich weltfremd denkenden Zeitgenossen teils absurde Formen an, die in der Nähe zu politisch rechten Bewegungen ihre besondere Ausprägung finden. Auch manche Politikerreden gießen Öl in das Feuer eines eher sachlichen Konfliktes. Kriterien von gut und schlecht (für die Gesundheit) werden – flankiert von Angst vermittelnden Bildern und Nachrichten mancher Medienbeiträge (auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks) –  zum wesentlichen Maßstab der Einschätzung. Gaststätten zu, Schulen auf, Theater zu, Läden auf, Maskenpflicht ja oder nein, darauf spitzt sich der Streit zu. Doch das ist nur vordergründig das Thema, das Thema ist vielmehr das Bewusstsein von Staat und Gesellschaft für den Rechtsstaat, für die darin verankerten unterschiedlichen Grundrechte. Da ist eine bedenkliche Bereitschaft zu registrieren, dieses Bewusstsein mit einer fast apodiktischen Prioritätensetzung zugunsten des präventiven, staatlich verordneten Gesundheitsschutzes über Bord zu werfen.

Späte Erkenntnisse des Gesetzgebers

Ein Beispiel dafür ist nun der jetzt in Aussicht genommene § 28 a Infektionsschutzgesetz. Im März dieses Jahres untersagte der Staat nahezu das gesamte öffentliche Leben hierzulande. Verfassungsrechtliche Kritik an diesem Vorgehen (die Schriftstellerin Julie Zeh, der Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier, der Journalist Heribert Prantl) wurde zurückgewiesen mit dem Hinweis auf das angeblich dafür ausreichende Infektionsschutzgesetz. Es sei alles abgesichert, hieß es aus der Politik. Doch im Laufe des Jahres kam es, wie es kommen musste. Von den Schließungen betroffene Unternehmen klagten und setzten zum Teil durch, dass einzelne Vorschriften der Corona-Schutzverordnungen der Länder außer Kraft gesetzt werden mussten. Denn so eindeutig, wie es die Politik den Bürgern beruhigend vermittelte, war die Rechtslage doch nicht.

Zum ersten Mal werden nun also alle die Maßnahmen, die schon seit Monaten ergriffen werden, von der Maskenpflicht über die Schließung von Gewerbetrieben bis hin zur Untersagung der Gastronomie, konkret gesetzlich geregelt. Die Untersagung des Betriebs von „Einrichtungen, die der Kultur- und Freizeitgestaltung zuzurechnen sind,“ soll mit der neuen Vorschrift ebenso sanktioniert werden wie die Untersagung von „Freizeit-, Kultur- und ähnliche Veranstaltungen“. Vorsichtiger ist man nur bei den religiösen Zusammenkünften, die lediglich verboten werden dürfen, „sowie (!) dies zwingend erforderlich“ ist. Man mag das alles für rechtmäßig halten, auch wenn angesichts der Formulierung des Infektionsschutzgesetzes und der allgemeinen Rechtslage erhebliche Zweifel bleiben, ob von der Exekutive flächendeckend verordnete präventive Schließungen von Unternehmen und Einrichtungen auf dieser gesetzlichen Grundlage zulässig sind. Das gilt umso mehr, als der neue § 28a Infektionsschutzgesetz keine in Art 14 Abs. 3 Grundgesetz vorgesehene verbindliche Entschädigungsregelung für die das Eigentumsrecht tangierenden Maßnahmen vorsieht. Rechtsgutachten, die diese Zweifel bestätigen, liegen dem Gesetzgeber nach den einschlägigen Veröffentlichungen des Deutschen Bundestages vor. Aber das alles mag vorerst einmal dahinstehen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der Gesetzgeber sich in der Gesetzesbegründung so gut wie gar nicht mit der Grundrechtsproblematik auseinandersetzt.

In der Gesetzesbegründung zu den Grundrechten kaum ein Wort

Lediglich bei den kirchlichen Versammlungen wird ausdrücklich in der Gesetzesbegründung hervorgehoben, dass deren Beschränkung zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen führen kann. Weitergehende Konsequenzen dieser Erkenntnis werden nicht geäußert. Viel bedenklicher steht es noch um die Erläuterungen der Eingriffe zu Lasten der Kultur. In der Gesetzesbegründung kommt das Wort Kultur nicht einmal mehr vor, geschweige denn, dass man sich bemüßigt fühlt, auf das Thema Kunstfreiheit auch nur einen einzigen Satz zu verschwenden. Vielmehr ist lediglich von Freizeitgestaltung die Rede. Und das, wo doch Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz die Kunstfreiheit so garantiert, dass durch ein einfaches Gesetz, wie es das Infektionsschutzgesetz ist, in diese gar nicht eingegriffen werden kann. Da wären unter den gegebenen Umständen und angesichts der schweren Einschnitte vielleicht doch ein paar klärende Worte der Rechteabwägung notwendig gewesen. Die Kunstfreiheit in Artikel 7 des Gesetzentwurfs, wo die durch Corona-Maßnahmen einschränkbaren Grundrechte stehen, nicht zu nennen, weil sie aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden kann, sie aber in § 28 a dennoch einzuschränken, ist ein fataler Widerspruch. Grundrechtsbewusstsein des Gesetzgebers sieht anders aus.

Die Grundrechtsdebatte nicht der politisch Rechten überlassen

Das entscheidende aber ist: Mit der standhaften Verweigerung der Teilnahme an der Grundrechtsdebatte vor allem durch die handelnde Exekutive droht das allgemeine Grundrechtbewusstsein zu bröckeln. Das gilt fatalerweise erst recht, wenn man das parlamentarische Eintreten für die grundgesetzlichen Freiheiten weitgehend der politischen Rechten überlässt. Da könnte man auch gleich den Fuchs zum Wächter im Hühnerhof machen, bedenkt man etwa die Haltung der AfD zur Kunstfreiheit. Nein, was wir brauchen, ist eine offene parlamentarische Diskussion über das Verhältnis zwischen Gesundheitsschutz und Sicherung der Grundrechte, vor allem aber den Versuch, die sich aus beidem ergebenden widerstreitenden Rechtsgüter in einen vertretbaren Einklang zu bringen. Alle demokratischen Parteien (nicht nur die FDP) müssen das zu ihrem selbstverständlichen Thema machen. Denn die jetzige Gesetzgebung kann Präzedenzwirkung haben. Angesichts dessen nur darauf zu hoffen, dieses Problem werde sich durch einen Impfstoff schon irgendwann erledigen, wird rechtspolitisch nicht reichen.

(Postscriptum

Zwei Tage nach Veröffentlichung dieses Beitrags wurde die Neuregelung des § 28a Infektionsschutzgesetz verabschiedet. Zwischenzeitlich hatte man im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags auf die hier geäußerte Kritik reagiert und die Vorschrift sowie die Gesetzesbegründung wesentlich zugunsten der Kunstfreiheit überarbeitet. Dazu wird in Kürze hier ein weiterer Beitrag erscheinen. Darin wird es auch um das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin gehen, mit dem der gegen die Schließung gerichtete Antrag des Schlosspark Theaters auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wurde.)

Infektionsschutzgesetz und Kunstfreiheit Über die Rechtsfolgen der Corona-Pandemie in der Kunst

Im Eilverfahren hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) soeben entschieden, dass die Schließungen von Geschäften wegen der Corona-Pandemie rechtmäßig ist
(AZ: 13 B 398/20.NE). Das deutsche Infektionsschutzgesetz biete dafür eine ausreichende Rechtsgrundlage. Das in Artikel 12 Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Freiheit der Berufsausübung müsse hinter dem Schutz von Menschenleben zurückstehen. Abgemildert würden diese Eingriffe sowohl durch die weiterhin bestehende Möglichkeit der Auslieferung und Abholung von Waren als auch durch die von Bund und Ländern bereitgestellten Nothilfemittel und Liquiditätshilfen. Was heißt diese Entscheidung nun für die Theater, die ebenfalls für das Publikum geschlossen wurden? Und welche Rechtsfolgen ergeben sich aus dieser Entscheidung hinsichtlich Proben, Streaming-Premieren und Gagenzahlungen?


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Um es gleich vorwegzunehmen: Man wird hinsichtlich der präventiven und flächendeckenden Verbote von Theatervorstellungen vor Publikum nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Diese Verbote sind zum Schutz der Bevölkerung vor der Viruserkrankung erst einmal zulässig. Die Hürden, die dafür genommen werden müssen, sind allerdings höher. Denn anders als das Grundrecht der Berufsfreiheit steht das durch Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz garantierte Grundrecht der Kunstfreiheit (wie das der Forschung und Lehre) nicht unter Gesetzesvorbehalt. Eingriffe in die Kunstfreiheit sind nur unter Berufung auf das Infektionsschutzgesetzes also nicht ohne weiteres zulässig. Dies gilt umso mehr, als das Infektionsschutzgesetz hinsichtlich des Eingriffs in die Kunstfreiheit, insbesondere der Schließung von Theatern (und Museen oder Bibliotheken) eher auf schwachen Füßen steht. Daran hat die jetzt gerade im Eilverfahren (!) vorgenommene Ergänzung von § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz durch die erstmalige Regelung eines Verbots, bestimmte Orte zu betreten, wenig geändert.

Kunstfreiheit und körperliche Unversehrtheit

Letztlich kann also in die Kunstfreiheit nur eingegriffen werden, wenn die Ausübung der Kunst andere im jeweiligen Einzelfall höher zu bewertende Grundrechte oder verfassungsrechtlich geschützte Werte verletzt. Dabei geht es hier vor allem um das durch Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz geschützte Recht der Zuschauer auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Besondere der jetzt verfügten Theaterschließungen für das Publikum besteht jedoch wiederum darin, dass sie präventiv und flächendeckend stattfinden. Eigentlich dürfte nur die konkrete Vorstellung jeweils untersagt werden, wenn von ihr tatsächlich eine Gefahr für das Leib und Leben der Zuschauer ausgeht und keine anderen Schutzmaßnahmen zur Verfügung stehen. So ist auch das Infektionsschutzgesetz angelegt. Da aber eine solche konkrete Gefahr in den vielen einzelnen hierzulande stattfindenden Theaterveranstaltungen kaum nachweisbar sein wird, bleibt den staatlichen Behörden nur das flächendeckende Verbot der Theatervorstellungen vor Publikum, um dessen Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen.

Mag also mit Rücksicht darauf dieses flächendeckende Vorstellungsverbot zulässig sein, ist jedoch fragwürdig, für welche Dauer das gilt. Je länger die Schließungen anhalten, desto eher werden sie mit Rücksicht auf das Gebot der Verhältnismäßigkeit rechtswidrig. Das liegt nicht nur an dem besonderen Schutz der Kunstfreiheit, zu der im Übrigen auch die Berechtigung des Menschen gehört, eine Kunstdarbietung wahrnehmen zu können. Das wiederum ist, wie etwa die Bewegungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit, Teil der durch Artikel 1 Grundgesetz geschützten Menschenwürde, von der es in Satz 2 dieser grundgesetzlichen Regelung heißt, dass es die Verpflichtung der staatlichen Gewalt ist, sie zu schützen. Deshalb genießt der Schutz von Leben und Gesundheit für das staatliche Handeln eben nicht überall die absolute Priorität, was gesellschaftlich durchaus allgemein akzeptiert wird; Beispiele dafür ließen sich genug finden. Der Schutz von Leben und Gesundheit wird vielmehr bis zu einem gewissen Grad anderem untergeordnet und dann der Verantwortung des einzelnen überlassen. Er muss entscheiden, wie viel Risiko er eingeht, was seine Prioritäten sind. Der Einzelne persönlich ist für andere mitverantwortlich. Das wird uns bezogen auf das Corona-Virus noch beschäftigen.

Die Verhältnismäßigkeit und das Geld

Im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit staatlicher Verfügungen ist darauf hinzuweisen, dass das Infektionsschutzgesetz im Regelfall Entschädigungen vorsieht, wenn einschränkende Maßnahmen nach diesem Gesetz beim Betroffenen zu materiellen Schäden führen. Ob diese Entschädigungsregelungen auf das präventive, flächendeckende Verbot von Theatervorstellungen vor Publikum ausgedehnt werden kann, ist angesichts der vagen Gesetzesformulierungen – gelinde gesagt – unklar, vor allem mit Blick auf die letzte oben schon genannte Gesetzesänderung. Insoweit ist der Hinweis des OVG auf die Nothilfemittel und Liquiditätshilfen von Bund und Ländern bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ein wichtiger Hinweis. De facto bedeutet dieser Hinweis, dass die Verhältnismäßigkeit zumindest dann infrage gestellt ist, wenn die Maßnahmen zu einer Zahlungsunfähigkeit der betroffenen Betriebe führen. Da werden der Bund, aber vor allem die Länder und Kommunen als Theaterträger sowie angesichts ihrer Kulturzuständigkeit noch sehr gefragt sein, erst recht nach Beendigung der Corona-Krise.

Proben und Streaming-Premieren

Kommt man also zu dem Ergebnis, dass das präventive und flächendeckende Verbot von Vorstellungen vor Publikum unter den zurzeit feststellbaren Voraussetzungen zulässig ist, bleibt die Frage, ob das auch für ein behördliches Verbot von Proben und Streaming-Premieren gelten würde. Das wird eher zu verneinen sein. Denn der Schutzgedanke bezogen auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit fällt bezogen auf das Publikum weg. Er besteht aber nach wie vor bezogen auf die Mitwirkenden. Dies ist jedoch nicht Aufgabe des Staates, hier in die Kunstfreiheit einzugreifen. Dafür gibt weder das Infektionsschutzgesetz noch die oben vorgenommene Grundrechtsabwägung eine ausreichende Handhabe. Sind etwa alle Mitwirkenden in Ausübung ihrer grundgesetzlich garantierten Kunstfreiheit damit einverstanden, dass die Probe oder die Streaming-Premiere stattfindet, darf sie nicht am staatlichen Verbot scheitern. Fraglich hingegen ist es, ob das Theater mit Rücksicht auf seine Fürsorgeflicht gegenüber den Mitwirkenden die Probe oder Streaming-Premiere gegen den Willen der Mitwirkenden anordnen kann. Das wird nur dann der Fall sein, wenn der genannten Fürsorgepflicht anderweitig Genüge getan wird, wenn also beispielsweise die Veranstaltung so angelegt ist, dass ein die Gesundheit der Mitwirkenden ausreichend schützender Abstand eingehalten werden kann. Beispiele dafür sind die Lesung oder die Leseprobe. Aber auch ein Konzert mit einem Solisten und Klavierbegleitung, einem Quartett oder einem ausreichend Abstand zueinander haltendes Kammerorchester ist möglich, natürlich immer nur im Netz, also ohne Publikum. Im Tanz kann es ein Solotanzabend mit begleitende Musik vom Tonträger sein. Zur Fürsorgepflicht des Theaters gehört es selbstverständlich, Mitwirkenden, die mit Corona infiziert sind oder bei denen die diese wahrscheinlich ist, sofort von ihrer Mitwirkung zu befreien, sofern sie nicht ohnehin unter Quarantäne stehen. Andererseits kann eine weitgehende Sicherheit, dass niemand der Mitwirkenden ernsthaft gefährdet ist, infiziert zu sein, dazu führen, dass eine Probe angesetzt werden kann, vor allem wenn es sich um kleine Besetzungen handelt. Allen muss zudem bewusst sein, dass ein dauerhafter Nichteinsatz von Mitwirkenden zu einer völligen Lahmlegung des Theaterbetriebs mit den damit verbundenen schwierigen Konsequenzen führen kann bis hin zur dauerhaften Schließung des Betriebs.

Die Gagen

Heftig diskutiert wird zurzeit, wie hinsichtlich der Gagen von Mitwirkenden bei ausfallenden Proben oder Aufführungen zu verfahren ist. Bei den dauerhaft an einem Theater beschäftigten Arbeitnehmern, einschließlich der mit Spielzeitverträgen ausgestatteten Ensemblemitgliedern, ist vorerst von einer Fortzahlung der Vergütung auszugehen. Schwieriger ist die Situation bei den Gastverträgen, und zwar unabhängig davon, ob sie als abhängig Beschäftigte, also als Arbeitnehmer, oder als Selbstständige beschäftigt werden. Klauseln, die auf höhere Gewalt abstellen und für diesen Fall die Honorarzahlung ausschließen, haben ihre juristischen Tücken. Zudem ist die Frage, ob und inwieweit bei einem präventiven Verbot von Vorstellungen vor Publikum überhaupt ein Fall von höherer Gewalt vorliegt, wenn man das beispielsweise mit der Totalzerstörung eines Theaterbetriebes durch Feuer vergleicht. Letztlich ist das flächendeckende Verbot von Vorstellungen vor Publikum am ehesten eine Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Diese führt praktisch zu einer Anpassung des abgeschlossenen Vertrags und damit der Gage, was in der Regel bedeuten wird, dass je nach Lage des Einzelfalls zwischen 25 und 75 Prozent der vereinbarten Gage für ausgefallene Proben oder Vorstellungen gezahlt werden sollten. Bei hohen Gagen und daraus resultierender mangelnder sozialer Schutzbedürftigkeit kann die Vertrags- und Gagenanpassung sogar zu einem kompletten Wegfall der Gage führen.

Sonstige Verträge

Auch bei anderen Verträgen kann die Störung der Geschäftsgrundlage ein Weg sein, durch den Ausfall von Vorstellungen entstehende, vor allem finanzielle Probleme zu lösen (siehe dazu „Raummiete und Corona-Krise“ auf dieser Seite). Das gilt je nach Ausgestaltung etwa für Verträge mit Verlagen über Aufführungsrechte nach dem Urheberrechtsgesetz. Denn das, was wir zurzeit als Störung der Rechtsordnung erleben, ist genau die außergewöhnliche Situation, die § 313 BGB im Auge hat. Es verwundert, dass dies bisher in der öffentlichen Debatte so wenig eine Rolle gespielt hat.