Eine vertane Chance: Bundesverfassungsgericht weist Eilantrag gegen Schließung von Kultureinrichtungen ab

Nachdem bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen Antrag gegen die durch § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) bei einer Corona-Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gesetzlich vorgeschriebene Schließung von Kultureinrichtungen zurückgewiesen hatte (s. dazu https://stadtpunkt-kultur.de/2021/04/zu-viele-vermutungen-bemerkungen-zum-musiker-corona-urteil-des-bayerischen-verwaltungsgerichtshofs/), hat nun das Bundesverfassungsgericht nachgezogen. Am 20. Mai entschied es den entsprechenden Eilantrag einiger darstellender Künstlerinnen und Künstler ebenfalls abschlägig. Ob das Urteil richtig oder falsch ist, kann man im Augenblick dahingestellt sein lassen. Eher bemerkenswert ist die fast kurzatmige Begründung der Entscheidung, aber auch die Tatsache, dass die Verfassungsbeschwerde nicht einmal zur Entscheidung angenommen wurde. Eine heftigere Ohrfeige konnte man der durch Corona gebeutelten Kultur kaum verpassen.

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Kurz und knapp zusammengefasst argumentiert das Bundesverfassungsgericht wie folgt:

  • Die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz) muss hinter dem durch Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz geschützte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit im vorliegenden Zusammenhang zurücktreten.
  • Die Schließung von Kultureinrichtungen ist nicht unangemessen, solange sich Ansteckungen – auch bei Einhaltung eines Hygienekonzepts – nicht ausschließen lassen.
  • Die bisher gemachten Untersuchungen über die Ansteckungsgefahr in Veranstaltungsstätten sind nicht hinreichend aussagefähig.
  • Es ist nicht der Werkbereich der Kunstfreiheit, sondern nur der Wirkbereich (man kann nicht vor Publikum spielen) beeinträchtigt; das kann durch Streaming- und Downloadangebote kompensiert werden.
  • Nicht ersichtlich ist es, warum eine Einschränkung des Kulturangebots nicht noch einmal für zwei weitere Monate tragbar sein soll.
  • Mit der durch Art. 4 Grundgesetz geschützten Religionsausübung sei die Kunstfreiheit nicht vergleichbar, da das Publikum sich – anders als die Gottesdienstbesucher auf die Freiheit der Religionsausübung – nicht auf die Kunstfreiheit berufen könne.

Mit diesen Gründen für die Entscheidung liegt das Bundesverfassungsgericht weitgehend auf der Linie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Das mag die Richter in Bayern beruhigen, ist aber um so mehr bemerkenswert, als es auch die Karlsruher Entscheidung deutlich an Tiefgang vermissen lässt. Es fehlt etwa jegliche begründete Abwägung der Grundrechte. Auf die Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz) von darstellenden Künstlern und Künstlerinnen, immerhin beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof noch ein Gegenstand der Betrachtung, verschwendet das höchste Gericht in Karlsruhe kein einziges Wort. Dass das Publikum in seinen Rechten auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz), seine Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 Grundgesetz) und seine Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz) eingeschränkt ist, scheint ebenfalls keine Rolle zu spielen. Und dass sich auch etwa in Flugzeugen und Fleischfabriken keine Ansteckungen vermeiden lassen, hält das Bundesverfassungsgericht nicht davon ab, das im Kulturbereich im Prinzip als Voraussetzung für eine Öffnung zu fordern. 

Bei dieser Kritik an der mangelnden Grundrechtsabwägung geht es nicht darum, zu erreichen, dass jetzt flächendeckend alle Veranstaltungsorte uneingeschränkt geöffnet werden. Es geht vielmehr darum, von einem Verfassungsgericht zu fordern, dass es für die allgemeine Schließung von Kultureinrichtungen durch ein Gesetz, wie sie durch § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 IfSG bei der gegriffenen Sieben-Tage-Inzidenz von 100 verfügt worden ist, verbindliche rechtliche Maßstäbe setzt, die für die Zukunft in dieser Pandemie und vergleichbaren Situationen Richtschnur sein können. Mit der Verabsolutierung der Gefahrenabwehr vor einem möglichen gesundheitlichen Schaden, wie de Richter in Karlsruhe argumentieren, ist das kaum zu erreichen.

Auch das Bundesverfassungsgericht bemüht zudem als Begründung für seinen Richterspruch, die im vorliegenden Zusammenhang eher untaugliche Unterscheidung zwischen dem Werkbereich und dem Wirkbereich der Kunst. Das verkennt nicht nur die Bedeutung des Wirkbereichs vor allem der darstellenden Kunst (s. dazu auch den oben verlinkten Text). Vielmehr ist es auch realitätsfern, tausende von darstellenden Künstlerinnen und Künstlern allein in Deutschland diesbezüglich auf Streaming und Download zu verweisen. Dazu fehlen fast allen Akteuren zum einen die wirtschaftlichen und technischen Mittel, zum anderen die Zuschauer und damit auch die Generierung von Einnahmen. Es ist für viele also eher ein Schubs in die Armut, die hier das Bundesverfassungsgericht für eine Lösung des Problems hält. In diesem Zusammenhang noch den Zeitfaktor zu bemühen, klingt angesichts der angespannten Lage vieler Künstler und Künstlerinnen eher nach Durchhalteparole, denn nach sauberer juristischer Erwägung.

Sei es wie es sei: Die hier vom höchsten deutschen Gericht ins Feld geführte Argumentation zieht sich nun durch mehrere in ähnlicher Sache gesprochene Urteile. Wenn die Rechtslage so ist, dann bleibt nur noch abzuwarten, bis die Politik die Öffnung von Veranstaltungsorte für vertretbar hält. Angesichts dessen hätte das Bundesverfassungsgericht mit dem jetzt vorliegenden Urteil die Möglichkeit gehabt, den betroffenen Künstlerinnen und Künstlern durch eine wohl begründete und zukunftsweisende Entscheidung Hoffnung zu machen. Diese Chance wurde leider eindeutig vertan.

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