Die Documenta und die Freiheit der Kunst

Anlässlich der documenta fifteen wurde in jüngster Zeit so viel wie schon lange nicht mehr öffentlich über das Thema Kunstfreiheit debattiert. So sehr es dabei auch um Politisches ging, zunächst ist diese Thema wohl ein juristisches. Denn die Freiheit der Kunst ist in Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz verankert und hat in der Geschichte dieser unserer deutschen Verfassung zahlreiche, meist sehr kunstfreundliche Gerichtsurteile des Bundesverfassungsgerichts hervorgebracht. Nicht jedem, der sich an der öffentlichen Debatte über die documenta fifteen und das dort gezeigte Bild People´s Justice von Taring Padi sowie dessen antisemitische Elemente beteiligte, schien sich dessen bewusst zu sein. Viel zu leichtfertig wurden Statements zu den Grenzen der Kunstfreiheit geäußert. Statt aus politischen Gründen das Abhängen des Bildes zu verlangen, leuchteten Politiker und Medien die Grenzen der Kunstfreiheit schlagwortartig aus, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Damit wurde der Versuch gemacht, für die Grenzen der Kunstfreiheit öffentlich Maßstäbe zu setzen, was schon deswegen scheitern musste, weil es wie so oft in solchen öffentlichen Diskursen an der notwendigen Differenzierung fehlte.

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Wann geht es um die Kunstfreiheit?

Die Frage der Kunstfreiheit stellt sich vor allem, wenn eine natürliche oder juristische Person die Kunstfreiheit für sich in Anspruch nimmt und die staatliche Gewalt, insbesondere die Exekutive oder die Judikative, diese Person an der Verwirklichung der Kunstfreiheit hindert. Das aber hat im Zusammenhang mit dem Kunstwerk von Taring Padi bisher nicht stattgefunden. Keine staatliche Behörde, etwa das Ordnungsamt Kassel, hat das Abhängen des Kunstwerks angeordnet. Vielmehr hat die künstlerische Leitung der Documentaruangrupawenn auch unter gewissem politischen Druck, selbst entschieden, das Bild zunächst zu verhüllen und später ganz aus der Ausstellung zu entfernen. Sie wurde also in ihrer durch die Kunstfreiheit geschützten Entscheidungsbefugnis nicht beeinträchtigt. Die einzigen, die ihr Recht auf die Kunstfreiheit verletzt sehen könnten, wären die Künstlerinnen und Künstler des Kollektivs Taring Padi, weil ihr Bild auf der Documenta nicht mehr zu sehen ist. Das würde jedoch bedeuten, dass es einen Anspruch gegen die künstlerisch Verantwortlichen eines Museums oder einer Ausstellung auf das Ausstellen eines Kunstwerks gäbe, was natürlich nicht der Fall ist und was auch aus Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz nicht hergeleitet werden kann. 

Gibt es eine eindeutige Rechtslage?

Erst soeben hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wozu sie bei Eingang entsprechender Strafanzeigen ohnehin verpflichtet ist und dessen Ausgang abzuwarten bleibt. Unter anderem wird es um den § 130 Strafgesetzbuch (Volksverhetzung) gehen. Deshalb wird jetzt genau zu prüfen sein, ob das Zeigen des Kunstwerkes People´s Justice auf der Documenta von der Kunstfreiheit gedeckt ist oder nicht. Das ist juristisch nicht so leicht zu beantworten, zumindest wenn man versucht, sich an den allgemeinen Maßstäben zu orientieren, die nun einmal für die Kunstfreiheit gelten. Schließlich ist die Kunstfreiheit nicht irgendein unbedeutendes Rechtsgut und durch die Verfassung dadurch besonders geschützt, dass sie, anders als andere Grundrechte, nicht unter einem sogenannten Gesetzesvorbehalt steht, in sie also nicht einfach durch Gesetz eingegriffen werden darf. 

Es besteht kein Zweifel daran, dass Antisemitismus menschenfeindlich ist und gegen die Menschenwürde verstößt. Deshalb die Menschenwürde jedoch als selbstverständliche Grenze der Kunstfreiheit zu definieren, wie es in der öffentlichen Debatte geschehen ist, greift bei weitem zu kurz. Denn Verstöße gegen die Menschenwürde in der Welt gibt es reichlich, sie aufzugreifen, zu artikulieren, darzustellen, anzuprangern, war schon immer gerade die Aufgabe der Kunst. Und an entsprechenden Kunstwerken jeglicher Art, die das tun, mangelt es bekanntlich nicht.  

Um es anhand eines weiteren Beispiels etwas deutlicher zu machen, worum es zumindest juristisch geht: Das öffentliche Zeigen des Hakenkreuzes erfüllt den Tatbestand des § 86 a Strafgesetzbuch (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen). Dennoch findet es in zahlreichen Filmen, Theaterstücken oder Werken der bildenden Kunst statt. Verwendet man das Hakenkreuz in solchen Kunstwerken, um sich etwa mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ist das öffentliche Zeigen zulässig. Gestaltet jemand mit künstlerisch-grafischem Anspruch ein Plakat und wird dieses Plakat genutzt, um für eine national-sozialistische Bewegung zu werben, tritt die Kunstfreiheit hinter den Schutzgütern des § 86a Strafgesetzbuch zurück. Diese Differenzierung wird in § 86a Strafgesetzbuch sogar durch Verweis auf § 86 Abs. 4 Strafgesetzbuch deutlich. Nach dieser Regelung ist die Verwendung von Nazisymbolen ausdrücklich erlaubt, wenn die Verwendung „der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“ Der Künstler Jonathan Meese wurde deshalb freigesprochen, als er im Vorfeld einer Documenta als künstlerische Protestaktion den Arm zum Hitlergruß gehoben hatte.

Der Berliner Anwalt Peter Raue hat in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe vom 24. Juni) die These aufgestellt, die antisemitischen Darstellungen im Bild von Taring Padi erfüllten den Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Strafgesetzbuch. Das ist auch nach meiner Auffassung zutreffend. Nicht zutreffend ist es, dass diese Darstellung sich schon wegen der Erfüllung des Tatbestands nicht auf die Kunstfreiheit berufen könne, wie Raue ausführt. Das entspricht insofern nicht der herrschenden Rechtslage, als bei Erfüllung des Tatbestandes erst im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung die Frage aufzuwerfen ist, ob die Tat durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt ist oder nicht. Ein Beispiel: Als Christoph Schlingensief im Rahmen einer künstlerischen Aktion am Wolfgangsee den Satz ausrief „Tötet Helmut Kohl“, erfüllte das eindeutig den Tatbestand des § 111 Strafgesetzbuch (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten). Die Tat war aber durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt und deshalb weder rechtswidrig noch strafbar. Nicht anders geht es einem Schauspieler, der in einem Spielfilm einen Nazi spielt und eine volksverhetzende Äußerung macht; der Tatbestand des § 130 Strafgesetzbuch ist erfüllt, die Tat ist aber wegen der Kunstfreiheit in der Regel (Ausnahme etwa Propagandafilm) nicht rechtswidrig. Außerdem fehlte es dem Schauspieler für eine strafbare Volksverhetzung am Vorsatz, der neben dem Erfüllen des Tatbestands und neben der Rechtswidrigkeit als drittes Element einer Straftat hinzukommen muss.

Auf einen anderen wichtigen Aspekt hat der Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede aufmerksam gemacht. Er hat nämlich eine in der öffentlichen Debatte weitgehend übersehene Differenzierung vorgenommen. Diese Differenzierung liegt in dem Satz: „Wer als Künstlerin oder Künstler in das Forum der Politik eintritt, muss sich nicht nur der ästhetischen, sondern auch der politischen Debatte und Kritik stellen.“, um dann zu ergänzen „Und dort gibt es Grenzen.“. Das heißt: Je mehr sich die Kunst auf das politische Statement reduziert, je mehr tritt die Frage nach der Kunstfreiheit in den Hintergrund. Gerade im Zusammenhang mit der konzeptionellen Ausrichtung der documenta fifteen als eine stark politische gestaltete Veranstaltung gewinnt dieser Satz eine nicht unerhebliche Bedeutung.

Die künstlerische Verantwortung trägt ruangrupa.

Damit ist man letztlich beim Kern des Problems angelangt, nämlich der Frage: Mit welcher Intention, warum also wurde das Kunstwerk von Taring Padi eigentlich durch die künstlerische Leitung der documenta fifteenausgestellt? Wusste die künstlerische Leitung von den antisemitischen Elementen des Kunstwerks? Hat man es aufgestellt, um genau die Diskussion zu  provozieren, die jetzt stattfindet? Dass das Bild versehentlich gezeigt wurde, glaube ich nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres. Öffentlich geäußert hat sich ruangrupa, soweit ich sehe, bis dato dazu nicht, es gibt nur die allseits bekannte Entschuldigung. Das reicht nicht. Gefragt sind Erklärungen, denen allerdings auch die Kritiker zuhören müssten, um sich mit den von ruangrupa vertretenen Positionen sachlich auseinanderzusetzen. Eine inhaltliche Erklärung von ruangrupa wäre zudem im Zusammenhang mit dem Thema Kunstfreiheit von großem Belang. Das gilt umso mehr, wenn es um Straftatbestände geht, die wie etwa die Volksverhetzung (s.o.) einer vorsätzlichen Begehung bedürfen. Sie, die Volksverhetzung, müsste also von ruangrupa gewollt gewesen sein, was bisher ja noch nicht einmal ernsthaft behauptet wurde. Jedenfalls trägt ruangrupa alleine die künstlerische Verantwortung für die documenta fifteen und deren Inhalt, selbst wenn im Rahmen des Lumbung-Konzeptes eine Delegation der Entscheidung über das Austeilen des Bildes People´s Justicestattgefunden haben sollte. Das zeigt: All das Gerede, es gebe in der documenta fifteenkeinen künstlerisch Verantwortlichen, ist gelinde gesagt unzutreffend.

Die politische Verantwortung liegt im Aufsichtsrat.

Um so mehr erstaunt es, wenn jetzt gefordert wird, dass der Documenta oder anderen vergleichbaren Veranstaltungen Beiräte oder ähnliche Kontrollgremien zur Seite gestellt werden. Das ist aus meiner Sicht gerade im Sinne der Kunstfreiheit hochgradig gefährlich. Nein, jede künstlerische Leitung einer Kulturinstitution (und niemand anderes) hat in all den täglichen Grenzfällen zu entscheiden, was sie veröffentlicht. Einer Überwachung welcher Art auch immer bedarf es nicht, schon gar nicht einer solchen mit Letztentscheidungskompetenz. Hingegen stellt sich die Frage, wer wen mit welchem Konzept zur künstlerischen Leitung von Institutionen beruft. Es bestehen Zweifel, dass darüber bei der Entscheidung für ruangrupa auch nur annähernd ausreichend nachgedacht wurde. Zu sehr war man geneigt, einer politischen Intention (Stichwort: Globaler Süden) zu folgen. Was das für die Präsentation von künstlerischen, vor allem politischen Positionen zur Folge haben würde und inwieweit das Politische das Künstlerische überlagern würde, hat offenkundig kaum einer bedacht. Leider ist dazu von den Verantwortlichen im Aufsichtsrat, vor allem denen der Stadt Kassel und des Landes Hessen wenig zu hören. 

Mehr Sachlichkeit täte der Debatte gut.

Im Übrigen hätte es der Debatte gut getan, wenn sie, trotz aller berechtigten Erregung, zuweilen mit etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit geführt worden wäre. Nicht nur die eingangs beschriebenen etwas fragwürdigen Formulierungen der Grenzen der Kunstfreiheit hat eine sachliche Diskussion, die so dingend notwendig wäre, erschwert. Zudem liegt in der  öffentlichen, meist auf die zwei antisemitischen Darstellungen beschränkten Verbreitung des Bildes People´s Justice eine gewisse, urheberrechtlich nicht unproblematische, Verkürzung des Kunstwerks. Was sonst warum auf dem Bild war, wurde kaum diskutiert. Am Ende (Süddeutsche Zeitung vom 28. Juni 2022) wurde es sogar als ein „monströses Panorama des Judenhasses“ bezeichnet. Da war es angenehm, dass sich Barrie Kosky, der scheidende Intendant der Komischen Oper Berlin, selbst Jude, in einem Interview aus Gründen der Kunstfreiheit uneingeschränkt auf die Seite von ruangrupa stellte, auch wenn er damit sicher nicht alles gutheißen will, was auf der Documenta zu sehen ist. Ebenso äußerte der an der Alice Salomon Hochschule in Berlin tätige Philosoph Arnd Pollmann am 2. Juli 2022 in der WDR 3-Sendung Mosaik gegenüber der Verhüllung und dem Abbaus von People´s Justice seine deutliche Skepsis. Erst durch solche Statements eröffnen wir die offene Debatte, die jetzt überall eingefordert wird und die bisher kaum stattfand. Die am 29. Juni 2022 von der Bildungsstätte Anne Frank, der Documenta und Museum Fridericianum veranstaltete Diskussion war immerhin in diesem Sinne ein erster Lichtblick. Sie kann im Netz nachgehört werden. Doch kaum war diese vorbei, flogen schon wieder öffentlich die Fetzen. Mit solchen Erregungszuständen werden wir in der Sache kaum voran kommen.

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