Zu diesen Herausforderungen zählen der soziale Schutz der künstlerischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Gendergerechtigkeit, Identität und Rollenbesetzung, Nachhaltigkeit, neue Leitungsstrukturen, Cancel Culture sowie die Digitalisierung. Die meisten dieser Themen waren oder sind in dem einen oder anderen Zusammenhang Gegenstand dieser Website (https://stadtpunkt-kultur.de/archiv/). Sie sind zunehmend Maßstäbe für den Kulturbetrieb, leider oft ohne den durch Kunstfreiheit, Geld und Rechtslage gesetzten Grenzen die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Welcher Regisseur einer Großbühne verzichtet schon aus Nachhaltigkeitsgründen ohne weiteres auf eine neues Bühnen- und Kostümbild und greift gerne auf den Fundus zurück? Wie sichert man künstlerisch notwendige tägliche Entscheidungen in einem kollektiven Leitungsmodell? Welche Grenzen setzt das Urheberrecht bei Rollenbesetzungen? Wie finanzieren die Theater die immer mehr geforderten Gagensteigerungen? Darf eine Sängerin, die sich nicht von Putin distanziert, die Donna Anna singen oder nicht? Wer will eigentlich die vielen digitalen Angebote, die weltweit miteinander konkurrieren, alle sehen? Der Vorhang zu und alle Fragen offen.
Wo bleibt die Kunst?
Denn eigentlich geht es bei der Kultur vor allem um die Besucher, die Zuschauer und Zuhörer. Die größte Herausforderung für den Kulturbetrieb, vor allem für den Veranstaltungsbetrieb ist und bleibt also das Publikum. Christine Dössel hat für die Süddeutschen Zeitung dazu kürzlich einen interessanten und bemerkenswerten Text veröffentlicht (https://www.sueddeutsche.de/kultur/berliner-theatertreffen-besucherschwund-schauspielhaus-bochum-christopher-rueping-claudia-roth-1.5582166). In diesem Text wird unmissverständlich das artikuliert, was allen Theatern zurzeit unter den Nägeln brennt: Die Zuschauer kommen nicht so selbstverständlich zurück, wie alle das erwartet, zumindest sich erhofft haben. Und sie hat beschrieben, woran das liegen könnte: An den nicht mehr auszublendenden Corona-Ängsten, an veränderten Gewohnheiten der Zuschauerinnen und Zuschauer, an der Konkurrenz in Netflix, Amazon Prime, Apple-TV und ähnlichen Anbietern. Zuweilen auch, zumindest im Schauspiel, vielleicht am allzu selbstreferentiellen Programm? „Wo bleibt die Kunst?“ fragt Christine Dössel am Ende ihres Artikels, um dann mit folgendem Satz den Stand der Dinge zuzuspitzen: „Denn stell dir vor, das Theater löst alle Probleme – und keiner geht hin“.
Wie geht es eigentlich dem Zuschauer und der Zuschauerin?
Ob es legitim ist, als bis zu einem gewissen Grad sachverständiger Zuschauer den Schauspielhäusern programmatische Ratschläge zu geben, da habe ich vorsorglich meine Zweifel. Zumal, wer etwas weiter fortgeschrittenen Alters ist, muss sich da in Zurückhaltung üben. Aber es könnte doch hilfreich sein, dass der geschulte Kulturinteressent zur Förderung des Dialogs mit dem Publikum ohne Anspruch auf Verallgemeinerung die eigene Befindlichkeit beschreibt. Eigene Befindlichkeit ist ja gerade „in“ auf deutschen Bühnen und im öffentlichen Dialog ohnehin sehr gefragt.
Beginnen wir mit Corona. Die Epidemie ist brüllenden Menschenmengen in gefüllten Fußballstadien zum Trotz nicht vorbei. Viele spüren deshalb immer noch eine gewisse Scheu, sich maskenlos in eine Menschenmenge zu begeben. Andererseits ist und bleibt die Maske unangenehm und beim Glas Weißburgunder in der Pause im Übrigen eher hinderlich. Nun ist der Wein in den Theatern selten ein Anreiz für einen Theaterbesuch, hingegen der Pausenplausch mit diesem oder jedem für die kommunikativ veranlagte Mitbürgerin oder ihre Begleitung (m/w/d) schon. Auch wenn das in Theaterkreisen vielleicht kaum für möglich gehalten wird: Es soll Leute gegeben haben, die gingen ins Theater, um andere zu treffen. Ich schreibe das in der Vergangenheit, weil der an Kultur interessierte, vielleicht etwas aufgeklärtere Teil der Menschheit ein wenig auf dem Rückzug ins Private ist. Man ist nach zwei Jahren Pandemie ein wenig kommunikationsentwöhnt und sehnt sich nicht unbedingt nach jedem small talk zurück.
Verbrennungsmotor, Stau und verspätete Züge
In die Schieflage geraten sind zudem Reisen zum Zwecke der kulturellen Ertüchtigung. Galt es früher als Tugend, zu Bildungszwecken durch die Gegend zu fahren, hat sich auch hier die Beurteilungsscala deutlich verschoben. Die Fahrt mit dem verbrennungsmotorausgestatteten PKW gilt in gebildeten Kreisen mittlerweile eher als unangebracht, von der stauanfälligen Verkehrssituation auf deutschen Autobahnen mal ganz abgesehen. Der Zug ist oft keine Alternative, nicht nur wegen der Corona-Gefahr, sondern auch weil er gar nicht oder zumindest deutlich zu spät kommt. Und nachts auf deutschen Bahnhöfen herumzustehen, ist auch nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig. Ebenso hält sich mittlerweile die Neigung, Gesangstars durch die halbe Welt hinterherzujetten (Stichwort Flugscham) in Grenzen. Natürlich wird das alle gerne wieder über Bord geworfen, spielt schließlich doch keine Rolle, aber der Anlass dazu muss sich lohnen. Jeder und Jede überlegt einmal mehr als früher, was er bzw. sie denn zu sehen bekommt und ob es den Aufwand und das Risiko des Theater- oder Museumsbesuchs tatsächlich rechtfertigt.
Zudem hat sich die Erkenntnis breit gemacht, dass das Leben ohne Theater ein paar interessante Momente hat, die bei Bedarf der Intensivierung harren. Lesen ist eine relativ angenehme Beschäftigung, Flanieren ebenso, ein bisschen wie Theater, zudem coronamäßig weitgehend völlig gefahrlos und umweltfreundlich. Allerdings sind die schauspielerischen Leistungen, die einem in einer deutschen Fußgängerzone geboten werden, eher begrenzt. Deswegen regt sich irgendwann das Bedürfnis, doch mal wieder etwas live vorgespeilt zu bekommen, vorzugsweise ein ordentliches Stück Literatur. Das muss um Himmels willen nicht Shakespeare, Schiller, Goethe, Molière oder Tschechow sein, obwohl das meist gute Stücke sind, nein, gerne etwas Neues. Bei der Auswahl für den Spielplan sollte allerdings nicht unterschätzt werden, dass es ein gesundes Interesse der Menschen am Dramatischen gibt. Das ist ja im Leben auch so. Wie oft sitzt der Zuschauer im Theater und denkt sich, Spannung wäre eine prima Alternative. Und ein paar mitreißende Emotionen wie Empathie, Leidenschaft, Liebe und echter Weltschmerz können ebenfalls nicht schaden, der Alltag ist ja trostlos genug. An dieser Stelle gelangt die Theaterdebatte regelmäßig in die Zone ihres größten Totschlagarguments: Man rede der seichten Unterhaltung das Wort. Doch das ist erstens schlichter Unsinn, und man muss zweitens bei Erwähnung des Begriffs Unterhaltung, wie das in bestimmten Kreisen üblich ist, nicht immer gleich intellektuell zusammenzucken.
Die Konkurrenz: Filme, Filme, Filme
Zweimal in meinem beruflichen Leben war ich Mitglied der Jury beim Fernsehfilm-Festival der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Man sieht als Jury-Mitglied dort eine Woche lang vier Fernsehfilme am Tag und muss unmittelbar nach der jeweiligen Sichtung des Films vor einem Fachpublikum eine Beurteilung zu jedem Film abgegeben. Schon in vielen Diskussionen habe ich später meinen Respekt darüber zum Ausdruck gebracht, wie oft es Fernsehfilmen gelingt, Probleme dieser Gesellschaft in einer spannend, zuweilen auch heiter erzählten Geschichte bewusst zu machen. Da könne sich mancher Theaterabend mal eine Scheibe von abschneiden. Weil das so ist, landeten viele von uns Schauspielhungrigen nun in den Corona-Zeiten bei den Streaming-Diensten und erlebten angenehme Überraschungen.
Worin diese positiven Überraschungen liegen, will ich aber nicht beschreiben an Hand dort verbreiteter Serien (was ich könnte, etwa mit der türkischen Serie „Der Club“), sondern an Hand eines Spielfilms, den ich in den letzten Wochen gesehen habe. Es geht um Kenneth Branaghs „Belfast“, die kleine Geschichte einer Arbeiterfamilie in der Zeit des Nordirlandkonfliktes. Der Film ist schwarz-weiß gedreht, hervorragend gespielt mit einem Drehbuch, das gerade mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Er ist ein Schauspieler(natürlich auch -innen)film im besten Sinne. Geschockt von den Bildern des Bürgerkriegs, nachdenklich über die Härte des inhaltlichen, fundamentalistisch- religiösen Identitätskonflikts(!), überzeugt von der aufklärerischen Haltung, die diesem vom Vater entgegengesetzt wird, angerührt von Liebe und Zuneigung, die den ganzen Film über miterzählt wird (großartig Judy Dench und Ciarán Hinds als Großeltern), verlassen wir alle, die diesen Film gesehen haben, das Kino. Das Herz schlägt höher, der Verstand rotiert und die Überzeugung, dass Gewalt nie eine Lösung von Problemen sein kann, hat einmal mehr ihre Bestätigung gefunden. Großartiges Kino! Das muss man im Theater erst einmal hinkriegen.
Die digitalen Angebote der Theater
Jedes Theater muss sich also bewusst sein: Die Konkurrenz schläft nicht und das Bewusstsein der Zuschauerinnen und Zuschauer für sie ist größer geworden. Und doch habe ich mir in Corona-Zeiten das eine oder andere digitale Angebot der Theater angesehen. Die Male, die ich das getan habe, hielten sich zugestandenermaßen in Grenzen. Es hat mich nicht animiert. Ich nenne keine konkreten Beispiele, weil ich niemandem zu nahe treten möchte, aber manches hat mich in seiner künstlerischen Abgehobenheit erschrocken zurückgelassen. Neulich wurde ich gefragt, was von diesen Angeboten eigentlich in der Lage wäre, so wie eine Opernaufführung von welcher Großbühne auch immer einen ganzen Kinosaal auch nur halbwegs zu füllen, ohne dass dem Publikum gewisse Ambitionen zum Märtyrertum nachgesagt werden könnten. Spontan ist meine Antwort nicht gerade ausgefallen.
Zurück zum EMAA-Workshop an der Universität. Im Laufe der Debatte sagt ein Teilnehmer, alle diese Gender- und Rollenbesetzungfragen, die Themen Nachhaltigkeit, Cancel Culture und Digitalisierung, das seien doch Sekundärprobleme. Es gehe letztlich um Existenzfragen, vor allem um die Finanzierung der Kultureinrichtungen. Und eine andere Teilnehmerin fügt hinzu, vielleicht fehle es denn Theater durch die öffentliche Finanzierung an der notwendigen Herausforderung. Richtig, Not macht erfinderisch. Aber sie wird die Probleme eher vergrößern, vor allem in der sozialen Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern. Und Veränderungen kosten immer Geld. Vielleicht machte es jedoch Sinn, wenn sich die Schauspieltheater einmal fragten, ob sie alles das, was sie machen, auch machen würden, wenn von ihrem Programm ihre Existenz abhinge, wenn alles Geld am Boxoffice eingenommen werden müsste. Schaden könnte das nicht. Danach kann man dann künstlerisch machen, was man für richtig hält oder was die Zuschauer fasziniert oder am besten beides. Gerade für Letzteres gibt es ja auch gute Beispiele, vor allem im Musiktheater.
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