Das Theatermodell Karlsruhe

Über Transformation in Kultureinrichtungen wird augenblicklich viel gesprochen und geschrieben. Was ihr Ergebnis sein soll, steht dabei eher theoretisch fest: Mehr Partizipation, mehr Transparenz, kollektivere Entscheidungsprozesse, Einschränkung von Machtbefugnissen. Wie dieses Ergebnis aber konkret zu gestalten ist, war bisher kaum Gegenstand der Debatte. Jedenfalls sei die herrschende Klasse in den Theatern, Orchestern oder Museen dagegen, heißt es, denn sie wolle von ihren Machtansprüchen angeblich nicht lassen. Die Führungskräfte versuchten Strukturanpassungen zu vermeiden, „um ihre eigene Stelle im System nicht zu gefährden“ (so in einem Beitrag auf der Internet-Seite des Deutschen Kulturrats). Eine ganz andere Sprache sprechen nun die neusten Umstrukturierungen am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Dort hat kürzlich der Verwaltungsrat des Theaters nach einem langen und aufwendigen Entscheidungsprozess das „Theatermodell Karlsruhe“ im Einvernehmen mit der dortigen Theaterleitung verabschiedet. Beschlossen wurden keine großen Worte, beschlossen wurde das Ende der Generalintendanz zugunsten eines kollektiven Leitungsmodells.

weiterlesen …

Das Verfahren

Eines war nach der Beendigung der Intendanz von Peter Spuhler klar: Was immer es an Fehlern in der Leitung und innerhalb des Theaters gegeben haben mag, strukturell konnte es wie bisher nicht mehr weitergehen. Das Badische Staatstheater war ein klassischer Generalintendanten-Betrieb, wie es ihn hierzulande kaum noch gibt. Der Generalintendant war mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, die mangels ausgleichendem Gegengewicht die Gefahr der Machtballung in einer Person befördert hatten, auch wenn es in einem solchen Theaterbetrieb verschiedene Kontrollmechanismen wie etwa den Personalrat, die Vorstände der Ensembles oder den Verwaltungsrat gab. Man hätte schnell den Betrieb in eine weitgehend übliche Doppelspitze bestehend aus einem Intendanten und einem Kaufmännischen Direktor umwandeln können. Doch das war angesichts der erheblichen Führungskrise, in der sich das Theater befand, den politisch Verantwortlichen am Ende zu einfach.

Also wurde kulturpolitisch insbesondere vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst ein aufwendiger Prozess in Gang gesetzt, um herauszufinden, was das beste Leitungsmodell für das Badische Staatstheater sein könnte. Zuvor hatte man seitens des Veraltungsrats einen neuen Übergangsintendanten für drei Jahre (bis Ende der Spielzeit 2023/24) bestellt und entschieden, dass in der Übergangsphase eine Dreier-Spitze bestehend aus dem neuen Intendanten (künstlerische Leitung), dem Geschäftsführenden Direktor (wirtschaftliche und administrative Leitung) und der künstlerischen Betriebsdirektorin (Umsetzung des Spielplans und Koordination der Sparten) das Theater leiten sollte. Das geltende Betriebsstatut wurde durch ein Übergangsstatut entsprechend umgestaltet, was die erste Weichenstellung für die endgültige Abschaffung der Generalintendanz war.

Doch damit war nur ein Anfang gemacht. Die Frage blieb, ob die Dreierspitze auch die dauerhafte Struktur sein sollte, wenn ja, wie diese konkret zu gestalten sei und ob die aus dem Betrieb geforderte große kollektive Lösung mit einem Direktorium unter Einbeziehung aller Spartenleiter und – leiterinnen sowie anderer Führungspersonen der bisher zweiten Ebene das bessere Modell sein könnte. Die Doppelspitze blieb ebenfalls als Zukunftsoption auf dem Tisch.

Um diese Frage zu beantworten, wurde eine Strukturkommission unter Beteiligung der Rechtsträger und des Verwaltungsrats gebildet. Auch ich habe beratend in dieser Kommission mitgewirkt. Diese Strukturkommission führte umfangreiche, mehrere Monate dauernde Beratungen und Anhörungen durch. Daran waren zahlreiche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Hause und die im Theater ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft Struktur ebenso beteiligt wie Experten anderer Theater, die Agentin des Badischen Staatstheaters für Diversität sowie der Personalrat des Badischen Staatstheaters. Schon dieser Diskurs ist besonders hervorzuheben. In alle den Jahren habe ich kaum erlebt, dass sich die Verantwortlichen der Kulturpolitik derartig eingehend um die strukturellen Problem eines Theaters gekümmert haben.

Worum es in den Anhörungen ging

So vielfältig wie die Gesprächspartner waren, so vielseitig waren die vertretenen Positionen. Forderten die einen klare Entscheidungsstrukturen und eine eindeutige Zuweisung von Befugnissen an einzelne Führungspersonen, konnte anderen die Anzahl von Gremien, die innerhalb des Hauses zu bilden und zu beteiligen seien, nicht groß genug sein. Kontrollieren statt Vertrauen war einerseits die Devise, anderseits wurde klargemacht, dass jeden Abend „der Lappen hochgehen“ müsse. Man könne sich nicht ergebnislos zu Tode diskutieren. Die Rolle des Intendanten war bei den einen die eines Moderators, Entscheidungen seien auf der zweiten Ebenen zu treffen, andere wünschten sich ihn oder sie als festen Ansprechpartner mit definitiven, wenn auch in den Betrieb stärker als bisher eingebundenen Entscheidungsbefugnissen. Ein Modell wie in Stuttgart oder Mannheim wurde eher nicht für übertragbar gehalten. Es stellte sich schnell heraus, dass die Strukturen eines integrierten Mehrspartenbetriebs wie der des Badischen Staatstheaters anders zu gestalten sind als die eines Theaters, das wie das Staatstheater Stuttgart über selbstständige Häuser für die zwei großen Sparten (Musiktheater und Schauspiel) verfügt. Im Karlsruher Mehrspartenbetrieb mit gemeinsamen Ressourcen sei es wichtig, dass nur Personen mit spartenübergreifenden Funktionen an der Theaterleitung beteiligt sind. Die im Hause weit verbreitete Vorstellung eines großen Leitungskollektivs wurde zudem dadurch in Frage gestellt, dass große Kollektive nur durch Mehrheitsentscheidungen handlungsfähig sind; solche Entscheidungen sind dem Prinzip der zufällig entstehenden Mehrheit unterworfen und damit für alle Beteiligten kaum kalkulierbar.

Mehrfach ging es in den Sitzungen darum, dass Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse ein untrennbares Paar sind. Die Notwendigkeit von Führungsqualifikation, Integrität und Fortbildung in der Leitungskompetenz wurden immer wieder betont. Begriffe wie Kommunikation, innere Führung, Transparenz, Information, Offenheit durchzogen die Debatte. Die künstlerische (und technische) Überforderung des Theaterbetriebs und die dadurch entstehenden Belastungen waren und bleiben ein Thema. Sie entstehe aus den teils durch die Öffentlichkeit formulierten, teils aber auch in der empfundenen Selbstverpflichtung liegenden immer größeren und differenzierteren Anforderungen, wurde hervorgehoben. Diese Anforderungen hätten durch die digitale Herausforderung noch erheblich zugenommen. Man könne dem Theaterbetrieb nicht laufend neue Aufgaben abverlangen, ohne die Kapazitätsfrage zu stellen.

Umstrukturierung und neue innere Verfassung des Theaters

Parallel zu diesem Anhörungsverfahren und unter Berücksichtigung der dort vertretenen Standpunkte wurde dann auf der Grundlage des bereits existierenden Übergangstatuts eine Übergangsgeschäftsordnung erarbeitet und schließlich von der bestehenden Theaterleitung beschlossen. Diese Übergangsgeschäftsordnung, die auf dem zuvor verabschiedeten Übergangsstatut aufbaut und der Zustimmung der beiden Theaterträger bedarf, ist praktisch der Kern des „Theatermodells Karlsruhe“. Denn sie legt für die aus den drei Personen bestehende Theaterleitung ein Beschlussverfahren fest und bindet sie im Sinne von check and balances mit rechtlich verbindlichen Vorgaben in den Betrieb ein.

So haben nun regelmäßige Sitzungen der dreiköpfigen Theaterleitung mit Abstimmungen in wesentlichen Fragen stattzufinden. Die Entscheidungen sind zwar einerseits Mehrheitsentscheidungen. In künstlerischen Fragen gibt es andererseits ein Vetorecht des Intendanten, in wirtschaftlichen Fragen ein solches des Geschäftsführenden Direktors. Es werden feste Zuständigkeiten für die einzelnen Geschäftsbereiche sowie Personalbefugnisse verbindlich bestimmten Personen zugewiesen. In regelmäßigen erweiterten Sitzungen der Theaterleitung findet ein Austausch mit den in der Verantwortung stehenden Personen der zweiten Ebene (Spartenleiter/innen, GMD/in, Technische/r Direktor/in, Leiter/innen von Maske und Kostüm, Chefdramaturg/in) statt. Getroffen werden in der Übergangsgeschäftsordnung konkrete Regelungen über die Einberufung von Sitzungen und deren Abwicklung sowie das Verfahren der Beschlussfassung und über die Stimmrechte der Theaterleitung. Die Spielplangestaltung wird durch den Intendanten an die Spartenleiter und -leiterinnen verbindlich delegiert, sie ist in den erweiterten Sitzungen der Theaterleitung zu erörtern, abweichende Entscheidungen durch die Theaterleitung unterliegen dem Begründungszwang. Auch im Bereich des Geschäftsführenden Direktors werden Aufgaben auf Personen der zweiten Ebene der Verwaltung delegiert. Die Vertretungs- und Zeichnungsbefugnisse werden detailliert geregelt.

Erstmalig wurde mit dem Übergangsstatut und der Übergangsgeschäftsordnung die innere Verfassung eines großen Dreispartenbetriebs im Sinne einer Corporate Gouvernance strukturiert, und zwar, das ist noch einmal hervorzuheben, rechtsverbindlich. Die Theaterleitung muss sich also an diese Vorschriften halten. Die Änderung der Vorschriften ist nicht ohne weiteres, sondern nur mit Zustimmung der Träger möglich. Unkontrollierte Einzelentscheidungen sind in wesentlichen Fragen durch die Übergangsgeschäftsordnung so weit wie möglich ausgeschlossen. Dies beschränkt die Machtbefugnisse aller an der Theaterleitung beteiligten Personen.

Wie es 2024 weitergeht

Übergangsstatut und Übergangsgeschäftsordnung werden durch die jetzige Theaterleitung einem mehr als zweijährigen Evaluierungsprozess unterzogen. Zugleich wird nun auf der Grundlage dieser neuen inneren Verfassung für die Zeit ab der Spielzeit 2024/25 der neue Intendant oder die neue Intendantin gesucht. Für diese Zeit sind unter Einbeziehung der bis dahin gewonnenen Erfahrungen sowie unter Berücksichtigung der Ansichten der neuen Intendanz die endgültigen Statuten für das Badische Staatstheater zu entwickeln. Wie immer diese dann aussehen wird, eines ist dabei sicherlich ausgeschlossen: Die Rückkehr zu einer Generalintendanz.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.