Die Theateraufführung und ihre Rezeption am Beispiel von Verdis „Otello“ in der Bayerischen Staatsoper München

Kunst und Kultur haben zweifelsohne viel Gutes. Dass man sich über beides heftig streiten kann, gehört dazu. Was wäre manches Abendessen, gäbe es in der Stadt nicht die letzte Theateraufführung, das Konzert kürzlich, die neuste Ausstellung im städtischen Museum. Oder auch nur das Buch, das die Bestsellerlisten zurzeit anführt. Besonders interessant ist es, nach der Theaterpremiere mit Freunden den Abend Revue passieren zu lassen und den Versuch zu machen, all den Bildern auf der Bühne auf die Spur zu kommen, zuweilen mit Hilfe des hoffentlich gut gestalteten Programmheftes. Und dann am Tag danach die Rezensionen. Leider oft ein Tag der Ernüchterung. Auch bei diesem Otello.

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Kaum etwas ist für das Theater im öffentlichen Diskurs so wichtig wie die Rezension der Aufführung, sei es in der Tageszeitung, im Netz, im Rundfunk oder wo auch immer. Das Theater lebt von der Öffentlichkeit. Nichtbeachtung gehört zum Schlimmsten, was einer Aufführung passieren kann. Dann besser ein Verriss, der die Zuschauer neugierig macht, getreu dem Motto: Doch mal schauen, ob es wirklich so schlimm ist. Aber, ein Verriss in der einzigen lokalen Tageszeitung kann einem Theater auch schwer zu schaffen machen. Nur die Kommunikation der Besucher kann dann noch helfen, den Saal bei späteren Aufführungen voll zu bekommen, ein Umstand, der vielen lokalen Medienmachern kaum so richtig bewusst ist. Da haben es die großen Häuser leichter. Ihre Produktionen werden meist in verschiedenen, auch überregionalen Medien besprochen, und oft sind sich die Damen und Herren Kritiker dann doch nicht einig.

Es war die zweite Aufführung vom neuen „Otello“ in der Bayerischen Staatsoper, in der ich kürzlich war. Gelesen hatte ich absichtlich über die Aufführung zuvor nichts, um mir den eigenen Blick nicht zu verstellen. Ich habe dann einen Otello gesehen, der nicht zu Anfang der strahlende Held ist, sondern ein vom Krieg erschütterter Mensch. Ja vielleicht sogar einer, der von Zweifeln getrieben immer zu neuen Taten aufbricht, um genau diese Zweifel zu zerstreuen, was aber nicht gelingen kann. Im Inneren bleibt immer nur Unsicherheit, die mit Macht und vermeintlicher Größe verdeckt wird. Genau deshalb zweifelt Otello vielleicht von vorneherein auch an der Liebe zu Desdemona, ist anfällig für die schreckliche Intrige des Jago. Gesehen habe ich eine Desdemona, die um ihren Mann ringt, die ihn liebt, ihn aber nicht mehr versteht. Großartig und anrührend der Moment im letzten Akt, wo sie ihn schon in den Armen hält und trotzdem fragt:  „Wer ist es?“. Auch seine Selbstzweifel vermag sie nicht zu zerstreuen. Am Ende zerbricht sie an ihm, noch bevor er sie umbringt, ihr Leben im Wahn des von ihr gar nicht begangenen Vergehens auslöscht. Gesehen habe ich einen Jago, der allein aus Rache und empfundener Erniedrigung sein grausames Spiel treibt in einer von Männern bestimmten Welt. Gesehen habe ich schließlich eine Mahnung gegen den Krieg und gegen die zerstörerischen Kräfte der menschlichen Existenz. Es war großartiges, mitreißendes, sehenswertes Theater. Und nun zu den Rezensionen:

Reinhard J. Brembeck in der Süddeutschen Zeitung sieht in der Inszenierung von Amélie Niermeyer Otello und Desdemona als seit Jahren verheiratetes älteres Ehepaar, „sie eine Upper-Class-Lady ohne Aufgaben im Leben, er ein vom Job frustrierter weißer Militärstratege“. Es sei hier eine „gediegene goldene Hochzeit“ zu sehen, es fehle „die Fallhöhe zwischen Liebesparadies und Beziehungsmord (leben wir noch im 19.Jahrhundert?). Verhandelt werde ein „belangloses Ehedrama“, „das Gerichte, nicht Opernhäuser beschäftigen sollte“. Mal ist Desdemona aus seiner Sicht eine „wunderschöne, stolze Frau“, mal singt sie „wie eine Vierzehnjährige“. Geht´s noch, fragt man sich. Wie wenig Menschenkenntnis muss man haben, um sich derart an Äußerlichkeiten aufzuhalten. Sie verstellen den Blick auf das Wesentliche. So auch hinsichtlich der Szene, in der sich Jago des Taschentuchs bemächtigt, mit dem er seine Intrige weiterspinnt. Brembecks Rezension hält die Szene für eine „Slapsticknummer“ ohne offenkundig zu merken, wie sehr es gerade Jagos Frau Emilia ist, die in einer Mischung aus (auch im letzten Akt noch einmal aufflammender) Frauensolidarität und Einfühlsamkeit das unerträgliche Intrigenspiele der machtversessenen Kerle zu durchkreuzen sucht. Wer das alles als „zahnlos“ bezeichnet, hat es wohl doch ein wenig verlernt, genauer hinzusehen. Vielleicht einfach mal das interessante Interview mit der Regisseurin und ihrer Dramaturgin im Programmheft lesen, mag man da empfehlen.

Und Manuel Brug in der Welt? „Paralysierter Staubsaugervertreter“ heißt es dort über den Münchener Otello. „Nicht schwarz, nicht weiß, nicht grau. Nur mau“, endet die Rezension, nicht ohne zuvor von der Schauspielaufführung 2003 an den Münchener Kammerspielen unter Frank Baumbauer zu schwärmen. Da habe noch „Thomas Thieme einen verschmierten ‚Schoko’ auf die Bühne gewuchtet“, erinnert sich Brug, so als habe es inzwischen keine Blackfacing-Debatte gegeben und als gehe es Niermeyer nicht um etwas ganz anderes. „Sauber, clean, aseptisch“ sei hingegen die Opern-Aufführung, obwohl am Anfang der Kritik festgestellt wird, Jonas Kaufmann spiele den Otello „grandios“ als „einen ausgebrannten Typen, in ihm ist Leere statt Liebe, Verkrampfung statt Nonchalance, Unsicherheit statt Souveränität“. Psychologisch sei das vielleicht stimmig, „aber glüht so ein Tenor-Feldherr?“, fragt Brug. Liebe Leute, muss man auch hier ausrufen, wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Da sind Schlächter aus einem Krieg vielleicht und hoffentlich keine Helden mehr. Jedenfalls ist es legitim, sie nicht als solche darzustellen, wenn man dem Zuschauer etwas zum Nachdenken mit auf den Weg geben möchte. Mit der in der Rezension eingeforderten „italienischen Eifersuchtsoperntragödie“ ist das wohl kaum zu machen. Und Jagos unglaubliche Intrige vor allem als Zündstoff für eben diese zu sehen, ist wohl auch ein wenig kurzgegriffen.

Schließlich Stephan Mösch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Er befasst sich vor allem mit Verdi und dem Stück („hat „Verdi … größer gedacht“ als die Regisseurin) und dem Gesang von Jonas Kaufmann („ehrlich in seinem Kunstbemühen“, „Platzhalter für Otello“), bei dem auch mal eben das Äußere hervorgekehrt wird („niedergegelte Locken“), was immer das zu bedeuten hat. Ansonsten kurze Beschreibungen des Auftritts von Desdemona („zuckt … mit weitgeöffnetem Mund“) und Otello („an seiner Kravatte nestelnd“) und am Ende dann der Holzhammer gegen die Inszenierung, die als „teils rührend“, teils als „bieder ausgespielte Szenen einer Ehe“ tituliert wird. „Schon lange vor ihrem finalen Verröcheln wünscht“ Mösch „den Protagonisten, sie mögen sich einen guten Therapeuten leisten – und den Rest der Welt in Ruhe lassen“. Wer von einer Opern-Kritik erwartet, dass dem Leser etwas vermittelt wird, von dem was der Abend will und was er leistet (oder auch nicht leistet), der blickt in der FAZ in ein großes schwarzes Loch. Wo Reflexion gefragt ist, herrscht weitgehend Leere.

Bevor nun der interessierte Zuschauer und Leser in einen Zustand völliger Verzweiflung über den Stand deutscher Opernkritik gerät, lohnt bereits ein Blick in die Münchener Abendzeitung. Dort ist  ganz anders die Rede von „Niermeyers klarer Inszenierung“. Die Aufführung beweise, so heißt es immerhin, „wie viel mit den Mitteln des guten alten psychologisch-realistischen Theaters erreicht werden kann, wenn sich Sänger als Sängerdarsteller begreifen“. Deutlicher wird dann die Wochenzeitung „Die Zeit“, in der Georg-Albrecht Eckle genau hingesehen hat und mit Amélie Niermeyer „durch das Auge der Frau von innen nach außen (blickt), eine Lesart, die mit Otellos erstem Auftritt überzeugt“.  Otello ist „glanzlos, klein, am Ende.“ Da wird gesprochen von „Erschütterung. Über den Krieg. Die Nähe des Todes. Die Unegalität ihrer (Otellos und Desdemonas) Liebe“. Der von Krug kritisierte Gesang des Jonas Kaufmann ist hier „gesangkulinarisches Risiko“, das „bewegt“. Im großen Racheduett dominiere nicht „der Trieb, sondern die schiere Verzweiflung“. Kaufmann entlocke „seinem strahlenden Tenorspektrum regelrecht bestürzende Töne“. Und weiter: „Für männliche Heroen ist kein Platz in Niermeyers hellsichtigem Blick auf diesen Otello, der dem Heute ganz nahe ist, hier, dort, überall im Leben.“ Desdemona sei dabei eine „Dame von Stand, die mit ihrer Gefühlswahrheit die Leiden ihres Mannes … durchlebt“. Es verfliege rasch die Angst, „hier werde eine Konzeption über das Werk gestülpt und die Musik illustriert, statt sie arbeiten und denken zu lassen.“ Bei Mösch in der FAZ hört sich das so an: „Das mag von der Regisseurin … als psychologisierendes Konzept schön gedacht sein, reibt sich aber permanent an der Musik, durch die Verdi den stufenweisen Verfall der Titelfigur mit diagnostischer Genauigkeit ausformuliert hat.“

Selbst wenn das so wäre, wenn hier in der Münchener Operninszenierung von eine solchen Verfall nichts zu spüren wäre, denkt man nach diesem Abend: Na und. Reiben der Inszenierung an der Musik heißt doch erst einmal, dass sich jemand mit dem Werk auseinandergesetzt hat. Und das ist eine ganze Menge in Zeiten, in denen zuweilen das Werk gar nicht mehr ernst genommen wird. Genau das aber ist hier nicht geschehen und zwar mit großem Gewinn für den nachdenklichen Teil der Zuschauer. Und der scheint in München deutlich zu überwiegen. Sowohl in der Premiere als auch in der zweiten Vorstellung gab es das, was Eckle als einziger erwähnt: „Enormer Beifall, Beifall fürs Ganze.“

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