Die Aufgaben der Kunst
Es ist keine Frage: Zu debattieren gibt es anlässlich der documenta fifteen eine Menge. Aber wieso auch nicht? Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, ihre Zuschauer affirmativ in Sicherheit zu wiegen. Nein, die Kunst ist immer dann am besten, wenn sie das Gehirn und die Sinne ihrer Betrachter in Gang setzt. Wenn sie unseren Widerspruch herausfordert. Wenn sie uns wachrüttelt. Wenn sie uns zumindest mal ein paar Fragen stellt. In diesem Sinne ist man bei der documenta fifteen bestens aufgeboben. Und vielleicht ist sie schon deshalb ein Erfolg, weil sie deutlich hat werden lassen, wie wenig wir mittlerweile hierzulande in der Lage sind, noch eine halbwegs sachliche Diskussion zu führen.
Nachdem alledem, was in den letzten Wochen die Feuilletons einiger deutscher Zeitungen in Sachen Documenta verbreitet haben, war ich in meinen zwei Tagen des Besuchs doch eher überrascht. Bei weit über 30 Grad bewegen sich Hunderte von hochgradig interessierten Besuchern durch den Parcours der zahlreichen Ausstellungsorte, sitzen in teils völlig überhitzen Videoräumen, lesen lange erläuternde Texte und lauschen aufmerksam den die Rundgänge anbietenden Kunstvermittlern. Nirgendwo Protest, nirgendwo Kopfschütteln, allenfalls mal ein wissbegieriges Nachfragen. Die Reaktionen des Publikums auf manche Opernaufführung sind dagegen die reine Revolte. Irgendwie klafft offenkundig eine gewaltige Lücke zwischen der von den sozialen Medien angeheizten Debatte des deutschen Feuilletons und der deutschen Politik über die Documenta einerseits sowie den die Kunst betrachtenden, gelassenen Besuchern andererseits. Schon das könnte einem reichlich zu denken geben. Wahrscheinlich hätten die meisten Besucher auch die zwei antisemitischen Bildelemente von hundert anderen nicht antisemitischen in „People´s Justice“, wäre das Werk hängen geblieben, unaufgeregt zur Kenntnis genommen und damit unter Beweis gestellt, dass Antisemitismus bei ihnen keine Chance hat. Dies gilt umso mehr, als sich die Bildelemente erklären lassen. Ihr Ursprung liegt im angespannten Verhältnis Indonesiens oder Algeriens zu Israel und sie sind eine subjektiv zuspitzende, sicher hochproblematische Darstellungen seitens der „People´s Justice“ schaffenden Künstlerinnen und Künstler. So intelligent, das einschätzen zu können, sind die Besucher in der Regel schon.
Das Hallenbad Ost und Taring Padi
Da nun Taring Padis „People´s Justice“ abgehängt wurde, war der diesem Künstlerkollektiv gewidmete Ausstellungsraum besonders gut besucht. Das im Bauhausstil erbaute und zum Veranstaltungsraum renovierte Hallenbad Ost ließ mit einem großen am Eingang angebrachten Banner sowie den für die Gruppe üblichen, farbigen Pappkarton-Puppen und -Plakaten gleich draußen erkennen, worum es geht: Um Provokation, Information und künstlerische Aktion oder, wie es auf der Website der documenta fifteen heißt, um organisieren, bilden und agitieren. Und so befasst sich beispielsweise die im Inneren des Hallenbads aufgebaute Installation „Stand On the Power of Food Self Sufficiency“ mit der Agrarstruktur und der angespannten Lebensmittelsituation in Indonesien, mit der Vielfalt der Natur, mit den sie zerstörenden Kräften und der Armut und dem Kampf gegen sie. Schon dieses Bild auch nur annähernd zu entschlüsseln, bräuchte man Stunden.
Die Überforderung
Womit eine der Schwierigkeiten der documenta fifteen benannt ist. Die Ausstellung ist eine gewisse Überforderung. Diese aber hat ihre Ursache bei den Besuchern, denn eindeutig wird einem schnell klar: Über den globalen Süden, erst recht über das künstlerische Leben dort, wissen viele (auch ich) viel zu wenig, um der Ausstellung problemlos folgen zu können. So kommt man in Räume und braucht erst einmal einige Zeit, um festzustellen, um welches Land es gerade geht. Denn das kunsttrainierte europäische Auge versagt dann doch häufig bei der Betrachtung der kulturellen Andersartigkeit seinen Dienst. Erst recht, da es hier und da doch an einer gewissen Systematik fehlt. So befinden sich im großen Saal des Hübner Areals nicht nur die beindruckenden, geschnitzten Handpuppen der Fondation Festival sur le Niger neben Tonziegel-Installationen der indonesischen Jatiwangi art Factory. Direkt in einem kleinen Nachbarraum stößt man im Rahmen des Projekt „“Art Works auf Pappflugzeuge des deutschen Außenseiterkünstlers Hans-Jörg Georgi. Am Ende des Saals wird dann darauf hingewiesen, dass die Ausstellung noch weitergeht. Einige Schritte um die Ecke gelangt der Besucher in einen großen Kinoraum, in dem das Filmprojekt „Subversive Films Tokyo Reels“ zu sehen ist. Eine solche Ausstellungskonzeption, ein derartiger Zusammenschnitt von unterschiedlichen Welten vermittelt sich kaum. Das gilt umso mehr, als das Filmprojekt „Subversive Films Tokyo Reels“ zurecht einiger Kritik ausgesetzt ist.
Wegsperren oder ans Licht zerren?
Ich sehe in einem Ausschnitt diese Filmprojekts nur ein Interview mit einem offenkundig palästinensischen Arzt, der einen gemeinsamen Staat für Israel und Palästina fordert, was Israel sicher nicht akzeptieren kann und wird. Allein diese Aussage ist also in der Tat einseitig, genauso wie die im WH 22 anzuschauenden Bilder „Guernica Gaza“. Doch objektiv kann doch Kunst kaum sein. Hier wirkt sie doppelt provokativ, einmal wegen der Bezugnahme auf das in Madrids Museo Reina Sofia anzuschauende Picasso-Gemälde „Guernica“, zum anderen wegen der Zitate von Motiven berühmter europäische Maler wie Chagall, Delacroix und van Gogh als Gegensatz zu den martialisch auftretenden israelischen Soldaten. Das alles fordert zum Widerspruch heraus, ohne Frage. Aber ist das ein Grund, die Kunst wegzusperren, sie nicht auszustellen? Muss man sie nicht ausstellen, zumal in einer Ausstellung, die von deutscher Seite gewollt so konzipiert ist, wie diese documenta fifteen? Ausstellen, um das alles ans Licht zu zerren, statt es zu verstecken und im Untergrund weiter vor sich hin gären zu lassen? Es gibt doch nach wie vor viel zu besprechen, wie gerade wieder zu sehen ist, über das Vorgehen beider Seiten des uns nun seit Jahrzehnten politisch begleitenden Nahostkonflikt. Im Freispruch eines der Beteiligten wird das Gespräch nicht enden, daran ändert auch „Guernica Gaza“ nichts.
Die andere Sprache der documenta fifteen
Wendet man sich mal ein wenig ab von alledem, was die Gemüter erregte und erregt, spricht die documenta fifteen noch eine ganz andere Sprache. Es ist die Sprache von Armut, Verfolgung und Unterdrückung, von (nach wie vor kaum gezähmter) Ausbeutung der Dritten Welt. Es ist die Sprache von anderen Lebensweisen, anderen Ritualen von anderer Kunst als die, die wir gewöhnt sind. Es ist die Sprache der Gemeinsamkeit, der Solidarität und des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen. Das künstlerische Schaffen im Kollektiv ist als Gegensatz zum ungezähmten westlichen Individualismus zu erleben, als Gegensatz zur einsamen Auseinandersetzung des Künstlers hierzulande mit der Welt. Und es ist die Sprache von Minderheiten, sei es die der Aborigines dargestellt in den eindrucksvollen Werken von Richard Bell (Fridericianum 2. Stock) oder die der Roma in den Textil-Kollagen der polnischen Roma Malgorzata Migra-Tas (Fridericianum 1. Stock). Auch an ausgefallenen Ideen fehlt es nicht, etwa die Videoinstallation „Flashing Monuments“, in der Mitglieder von ruangrupa mit Monumenten in Jarkarta sprechen. Das wäre doch vielleicht auch etwas für die historischen und umstrittenen Monumente hierzulande, statt sie abzureißen führen junge Künstler einen Dialog mit ihnen.
Das Fazit aus alledem? Es gäbe so, wie es sich die Initiatoren der Einladung von ruangrupa wohl gedacht haben, für den reichen Westen Grund genug, sehr sorgfältig in den Spiegel zu schauen, den die documenta fifteen uns vorhält, und mehr zu besprechen, als das bisher geschehen ist. Noch ist Zeit, das nachzuholen.