Die Verunsicherung ist groß: Über den Umgang mit der Kunstfreiheit

Man kann über den Gastbeitrag, den der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer kürzlich in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat, und die darin zur Kunstfreiheit gemachten Äußerungen denken, was man will, ein Gutes hat dieser Text. Das Feuilleton diskutierte einmal mehr über die Freiheit der Kunst. Wie dringend notwendig das ist, war kaum irgendwo besser zu spüren als in einem kleinen Workshop, den der Deutsche Bühnenverein anlässlich seiner Hauptversammlung in Chemnitz Anfang Juni zum Thema Kunstfreiheit veranstaltet hat. Denn die dort spürbare Stimmung lässt sich kurzerhand mit nur einer Feststellung zusammenfassen: Die Verunsicherung ist groß und das dient alles anderem als der Freiheit künstlerischen Schaffens.

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Es ist zweifelsohne richtig, bis heute gibt es hierzulande auf deutschen Bühnen, in Film und Fernsehen, in den Medien, in Ausstellungsräumen, den Universitäten und Verlagen eine Freiheit ohnegleichen. Nur dort, wo der Rechtspopulismus sich zunehmend den Weg zur Macht ebnet, steigt der politische Druck vor allem auf die Institutionen, die weitgehend öffentlich finanziert werden. Bisher haben jedoch die immer noch starken demokratischen Kräfte auch hier das Schlimmste verhindert. Und noch so heftige aus dem linken Milieu geäußerte Kritik an einem Text, einem Film, einer Ausstellung oder einer Theateraufführung ist nicht mehr als ein teils für die Kultureinrichtungen unangenehmer Diskurs, aber kein Eingriff in die Kunstfreiheit. Niemand muss dem nachgeben. Woher also kommt diese dennoch erhebliche Unsicherheit auf Seiten der für das Entstehen und Präsentieren von Kunst Verantwortlichen, also etwa von Intendanten, Museumsdirektorinnen und Regisseuren?

Zunächst hat das juristische Gründe. Zwar geht der Schutz der Kunstfreiheit in Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz relativ weit. Sie unterliegt keinen Gesetzen. Nicht einmal das Strafgesetzbuch ist hier eine sichere Bank. So ist etwa die Verwendung von nationalsozialistischen Symbolen nach § 86 a StGB strafbar, kann aber im Kunstbetrieb, also zum Beispiel in Theaterstücken oder in Filmen durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt sein. Die Kunstfreiheit findet ihre Grenzen nämlich nur an stärker ins Gewicht fallenden durch die Kunstausübung tangierten Grundrechten oder an anderen verfassungsrechtlich geschützten Werten. Notwendig ist eine Abwägung im Einzelfall, die nicht immer leicht ist.

Beispiele können weiterhelfen

Nehmen wir das durch die Nichtraucherschutzgesetze verfügte Rauchverbot in öffentlichen Räumen. Einer der Sätze in der Personenbeschreibung, die dem Stück von Roland Schimmelpfennig „Ambrosia“ vorausgeht, lautet „Es wird ununterbrochen getrunken und geraucht“. Aber auch Stücke aus dem beginnenden 20. Jahrhundert erfordern oft, vor allem zur Darstellung der Rolle der Frau, das öffentliche Rauchen einer Zigarette, damals wichtiges Symbol der Emanzipationsbewegung. All das ist selbstverständlich gedeckt von der Kunstfreiheit, in die durch das Nichtraucherschutzgesetz gar nicht eingegriffen werden kann. Doch wie steht es um das durch Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz geschützte Recht der Zuschauer auf körperliche Unversehrtheit. Diese beiden Rechte müssen gegeneinander abgewogen werden. Da die gesundheitliche Beeinträchtigung der Zuschauer in dem großen Theaterraum beim Rauchen auf der Bühne eher gering ist, wird man dabei in der Regel dazu kommen, dass die Kunstfreiheit hier den Vorrang hat. So wird auch regelmäßig in der Praxis verfahren.

Nehmen wir hingegen an, ein Regisseur käme auf den Gedanken, im Rahmen seiner Inszenierung auf der Bühne in jeder Vorstellung ein Kaninchen zu schlachten, um so den Zuschauer wegen des rücksichtslosen Umgangs der Menschen mit der Natur wachzurütteln. Könnte er sich auch in diesem Fall auf die Kunstfreiheit berufen? Zu den verfassungsrechtlich seit geraumer Zeit geschützten Werten gehört nach Artikel 20 a Grundgesetz der Tierschutz. Da die Tötung eines Tieres ein gravierender Eingriff in diesen Schutz ist, wird hier die Kunstfreiheit zurückstehen müssen.

2006 erregte ein Vorfall in der Deutschen Oper Berlin die Gemüter. Der Regisseur Hans Neuenfels präsentierte in seiner Inszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“ abgeschlagene Köpfe von Jesus, Mohammed und Buddha. Auch das war natürlich gedeckt von der Kunstfreiheit. Aus religiösen Kreisen gab es gegen diesen Teil der Inszenierung erheblichen Widerstand. Ins Feld geführt wurde zur Untermauerung des Widerstands die durch Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz geschützte Glaubensfreiheit. Diese Argumentation brach schnell in sich zusammen und zwar schon, bevor man überhaupt zu einer Abwägung der Grundrechte gegeneinander kam. Denn weder die Freiheit des Glaubens noch die durch Absatz 2 des Artikels 4 Grundgesetz geschützte Religionsausübung wurden durch die Inszenierung überhaupt verletzt. Sie hinderte eben niemanden an seinem Glauben und erst recht nicht an dessen Praktizierung.

Die Einzelfallentscheidung ist und bleibt schwierig

Die Beispiele zeigen, wie schwierig es ist, im Einzelfall zu einem richtigen Ergebnis zu gelangen. Eine Juristin, die helfen könnte, ist im Alltag der Kultureinrichtungen nicht jederzeit verfügbar. Oft kann auch sie den Sachverhalt nur beurteilen, wenn sie die Kunstdarbietung gesehen hat. So bekommt der Text eines Mordaufrufs (etwa des mittlerweile verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief in einem Happening am Wolfgangsee „Tötet Helmut Kohl!“) erst durch die künstlerische Darstellung einen fiktiven und damit erkennbar nicht ernst gemeinten Charakter.

Aber auch Themen wie Antisemitismus oder Blackfacing werfen schwierige Fragen auf.  Antisemitische oder rassistische Ansichten sind zweifelsohne völlig unakzeptabel und haben vor allem in einer öffentlich finanzierten Kultureinrichtung nichts zu suchen. Entsprechende Inhalte können aber gerade dort etwa aus Gründen der Provokation einer Debatte, der Aufklärung oder der Dokumentation, in bestimmten Einzelfällen auch aus dem Gesamtzusammenhang des Kunstwerks künstlerisch gerechtfertigt sein. Hier hat die Diskussion über die documenta 15 bis heute kaum etwas dazu beigetragen, die Grenzen des nicht mehr Hinnehmbaren auch nur annähernd deutlich werden zu lassen. Dazu ist sie viel zu sehr aus dem Ruder gelaufen, was seinen Höhepunkt erreichte, als ein namhafter Berliner Anwalt in der Süddeutschen Zeitung der für documenta 15 verantwortlichen Künstlergruppe ruangrupa tatsächlich Volksverhetzung vorwarf (s.https://stadtpunkt-kultur.de/2022/07/die-documenta-und-die-freiheit-der-kunst/). Bis heute wurde der damalige Vorwurf nicht zurückgenommen, nicht einmal als die Staatsanwaltschaft beschloss, sogar von der Einleitung eines Ermittlungsverfahren abzusehen. Und die damaligen Einlassungen, etwa der seinerzeitigen Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die Kunstfreiheit finde ihre Grenze in der Menschenwürde, besagten letztlich gar nichts. Die Kunst und die Literatur sind voll von Verletzungen der Menschenwürde. Jeder Kriminalfilm, der einen brutalen Mord darstellt, beginnt so mit einem Verstoß gegen dieses hohe, auch durch Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz geschützte, also am Anfang der Verfassung stehende Gut. Anstoß wird daran nicht genommen.

Es besteht ein Bedürfnis nach Korrektheit

Man darf in dieser Debatte sicher davon ausgehen, dass das Bedürfnis nach Korrektheit in den künstlerischen Leitungen der Kulturbetriebe groß ist. Niemand will sich unnötig einer an einen Shitstorm auch nur heranreichenden Debatte ausgesetzt sehen. Zu groß ist das Risiko der Gefährdung öffentlicher Zuschüsse, vor allem dort, wo es um eine projektbezogene Förderung geht. Oft, siehe oben, werden strafrechtliche Vorwürfe laut. Schnell spitzt sich außerdem die öffentliche Diskussion derart zu, dass personelle Konsequenzen vor Ort auf der Tagesordnung stehen, der seinerzeitige Rücktritt der Documenta-Geschäftsführerin hat das gezeigt. Nun gehen auch noch die Rechtsträger von Kultureinrichtungen, also Städte und Länder, zunehmend dazu über, in Satzungen von Kultureinrichtungen vorzusehen, dass deren Leiter oder Leiterin ohne Grund abberufen werden können. Das leistet in diesen stark ideologisch bestimmten Zeiten einen zusätzlichen Beitrag zur Verunsicherung, auch wenn die hinter der Berufung stehenden Verträge dann ausbezahlt werden müssen. Von solchen Klauseln sollte eindeutig Abstand genommen werden, erst recht in Zeiten steigenden Rechtspopulismus.

Alles das fördert die Kunstfreiheit nicht. Das lässt sich auch nicht schönreden mit dem Hinweis, man müsse solche Debatten aushalten. Dazu sind die aufgeworfenen Fragen zu schwerwiegend. Vielmehr ist es dringend erforderlich, dass wir wieder zu einer möglichst sachlichen Auseinandersetzung über dieses Thema, frei von jeglichen unnötigen Zuspitzungen, zurückkehren. Nur sie ermöglicht es, dass sich die für Kultur verantwortlichen Politiker und Politikerinnen vor ihre Kultureinrichtungen stellen, wenn diese in Grenzfragen eine auch kritikwürdige Entscheidung treffen. Von den sozialen Medien wird man das kaum erwarten dürfen. Aber die seriöse Presse und der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollten vielleicht doch in manchen Fällen eher davon absehen, Öl ins Feuer zu gießen, um so ihrem demokratischen Auftrag besser gerecht zu werden. Denn wie wir es auch wenden: Der Grad der Kunstfreiheit ist ein Seismograf für das Funktionieren einer freiheitlichen Grundordnung, wie sie unsere Verfassung vorschreibt. Die Freiheit künstlerischen Schaffens sollte uns schon deshalb etwas wert sein. Klar ist aber auch: Nicht von jedem Recht, was uns die Verfassung einräumt, muss man immer Gebrauch machen.

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