Über die Kritik und ihr Publikum

Die Aufregung war zurecht groß, als kürzlich der Hannoveraner Ballettdirektor Marco Goecke die Ballettkritikerin der Frankfurter Allgemeine mit Hundekot körperlich attackierte. Eindeutig handelte es sich bei dieser Attacke um eine schwere Verletzung seiner gegenüber dem Staatstheater Hannover bestehenden Verpflichtungen. An der Auflösung des Arbeitsvertrags, ob einvernehmlich oder durch außerordentliche Kündigung mag dahinstehen, führte kein Weg vorbei. Daran ändert keine der Kritiken etwas, die Goecke in der FAZ über seine Arbeit hat lesen müssen. Sie sind, wie immer sie formuliert wurden, als Entschuldigung der Tat ungeeignet. Nun aber der Staatsoper Hannover vorzuwerfen, man versuche mit der Kritik an der Theaterkritik eine Rechtfertigung für Goeckes Attacke aus dem Hut zu zaubern, ist abwegig. Da greift die öffentliche Debatte doch etwas kurz.

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Es trifft zweifelsohne zu, dass, wie es in den letzten Tagen nachzulesen war, alle, die sich in die Öffentlichkeit begeben, Kritik an ihrer Arbeit und an ihrem Handeln hinnehmen müssen. Die Pressefreiheit steht nicht auf dem Prüfstand. Sie ist wie die Freiheit der Kunst ein in unserer Verfassung geschütztes Rechtsgut. Künstlerinnen und Journalisten dürfen in den Grenzen der Rechtsordnung bei Ausübung ihrer Profession alles tun und schreiben, was ihnen beliebt. Aber auch die Autoren und Kommentatorinnen von Presse und Rundfunk begeben sich in die Öffentlichkeit und müssen selbstverständlich mit der Kritik an ihrer Arbeit leben. Sakrosankt ist da niemand. Und deshalb müssen sich die Damen und Herren Journalisten schon die eine oder andere Bemerkung gefallen lassen, ohne dass das gleich unter den Generalverdacht unlauterer Absichten (etwa der Rechtfertigung Goeckes) gestellt wird.

Der Kampf um die Meinungshoheit

Es ist nämlich im öffentlichen Diskurs eine zunehmende, oft kaum noch zu ertragende Einseitigkeit oder gar Zuspitzung zu registrieren. Viel zu oft wird zudem die saubere Trennung zwischen Berichterstattung und Kommentierung verlassen. Die Theaterkritik muss man für diese Feststellungen gar nicht erst bemühen, zumal es dort schon immer etwas heftiger zugegangen ist. Es reicht ein Blick in den alltäglichen Kampf um die Meinungshoheit in Presse und Rundfunk, sei es zur Corona-Pandemie, zur documenta oder zur Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine. So wurde tagelang behauptet, der Bundeskanzler sei in der Europäischen Union angesichts seiner besonnenen Zurückhaltung beim Thema Panzerlieferung „völlig isoliert“, obwohl nur wenige Nato-Länder zu einer solchen Lieferung bereit waren. Nun, nachdem seine Entscheidung pro Leopard gefallen ist, wird erkennbar, dass die Neigung oder auch nur Möglichkeit zur Lieferung von schwerem Gerät innerhalb Europas tatsächlich sehr begrenzt, wenn überhaupt vorhanden ist. Doch ist von denen, die in dieser Angelegenheit die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben, eine späte Einsicht zu hören? Keineswegs! Vielmehr wird dem Kanzler plötzlich vorgeworfen, er habe seine Leopard-Entscheidung nicht ausreichend mit seinen Nato-Partnern abgestimmt. Mit sachlicher Berichterstattung hat das alles wenig zu tun.

Das Gute am Verriss

Dagegen ist eine FAZ-Kritik an einem Goecke-Abend harmlos. Angesichts der dort nachzulesenden verallgemeinernden Feststellung, das Publikum werde bei seinem neuen Ballettabend mit dem Nederlands Dans Theater in Den Haag „abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht“ hätte den Leser oder die Leserin natürlich interessiert, wie das irre oder tote Publikum nun am Ende der Veranstaltung reagiert hat. Mit müdem Beifall oder enthusiastischer Begeisterung?  Nichts dergleichen wird berichtet. Ist ja offenkundig nicht wichtig, um die Zuschauer scheint es nicht zu gehen, sondern nur um die verallgemeinernde Übertragung des eigenen Eindrucks der Rezensentin auf den ganzen Saal. Solche Übertreibungen werden offenkundig für angemessen gehalten im deutschen Großfeuilleton. Macht nichts! Denn der einzige echte Reflex, den sie zumindest bei mir und vielleicht nicht nur bei mir auslösen, ist der dringende Anreiz, sich die Sache anzusehen, frei nach dem Motto: Ist es wirklich so schlimm? So habe ich, als seinerzeit Reich-Ranicki den Grass Roman „Ein weites Feld“ im Spiegel auseinandernahm, das Buch sofort gekauft, gelesen und als äußerst lesenswert empfunden. Es gab Zeiten, da war es im Schauspiel ein Qualitätsbeweis, im Feuilleton der FAZ verrissen worden zu sein. Für Selbstmitleid der Kulturbranche, gar Larmoyanz wegen irgendwelcher Verrisse besteht also kein Anlass, auch wenn man manches an Veröffentlichungen zuweilen verletzend findet; man kann ja heute leicht widersprechen, wenn es unbedingt notwendig ist. Es haben deshalb alle die recht, die betonen, dass ein Verriss immer noch besser ist als gar keine Presse, weil er zumindest Aufmerksamkeit erzeugt. Und man darf hinzufügen: Eine sachlich argumentativ die mal nicht gelungene Theaterproduktion negativ beschreibende Darstellung in der Zeitung zu lesen, ist ein viel größeres Problem. Denn sie wird vom Publikum respektiert und führt tatsächlich zu der Entscheidung, nicht hinzugehen.

Doch eines müssen sich alle Rezensenten und Berichterstatterinnen, Kommentatorinnen und Meinungsmacher in Presse und Rundfunk klar machen: Weder das Theaterpublikum noch die Radiohörer und Fernsehzuschauerinnen, noch die Leserschaft von Zeitungen haben ein Brett vor dem Kopf. Früher oder später wird schon deutlich, wer in seinem veröffentlichten Urteil eher neben der Sache liegt, vor allem im Bereich der Kultur, wo sich große Teile des Publikums ziemlich gut auskennen. Auch die schreibende und sendende Zunft hat also einen Ruf zu verlieren. Wer ständig Ansichten von sich gibt, die von mehr oder weniger aufmerksamen und aufgeklärten Zeitgenossen nicht geteilt werden, wird langfristig nicht mehr ernst genommen. Ob das dauerhaft der Auflage oder der Zuschauerquote dient, darf einmal mehr infrage gestellt werden.

Über die Medien muss es eine Debatte geben

So bleibt am Schluss die Frage, warum Tag für Tag in den hergebrachten Medien so viel zu lesen, zu hören und zu sehen ist, an dem Zweifel und Kritik angebracht sind. Ist es der Druck der Auflage oder der Quote? Ist es die Konkurrenz zu den sozialen Medien? Oder haben die immer größer werdenden Zentrifugalkräfte in dieser Gesellschaft mittlerweile Teile des Journalismus derart erreicht, dass er nur noch im Für und Wider denken kann? Vielleicht geht es nur schlicht um Machtansprüche der veröffentlichten Meinung, das übliche Rauf- und Runterschreiben? Oder droht dem Feuilleton bei mangelnder Zuspitzung tatsächlich die Abschaffung? Das wäre ungeheuerlich! Wie dem auch sei, über den Umgang der Medien mit der Welt darf es, muss es im Sinne der Demokratie eine Debatte geben. Wenn die Medien versuchen sollten, sie zu unterdrücken, schaden sie sich langfristig selbst. Da ginge es ihnen nicht anders als Theatern, falls sie den Diskurs über ihre Arbeit nicht auszuhalten vermögen oder nur noch Affirmatives über sich lesen wollen. Dass das der Fall ist, ist deshalb eher auszuschließen.

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