An wen wendet sich das Programm einer städtischen Kultureinrichtung?
Hätte jemand die Frage vor Corona gestellt, wäre die selbstverständliche Antwort gewesen: An die Bürger und Besucher der Stadt. Schließlich werden die Stadttheater und Museen, die Konzertsäle und Orchester weitgehend aus kommunalen Mitteln, allenfalls noch aus Mitteln der Länder bezahlt. Politisches Ziel dieser Finanzierung war immer, Land und Städte attraktiv, interessant und lebenswert zu gestalten, Menschen zu veranlassen, in diese oder jene Stadt zu ziehen oder mindestens zu reisen. Auch wirtschaftliche Ziele wurden verfolgt, die Kultur sollte Unternehmen veranlassen, hier oder dort ihren Sitz zu nehmen. Man wollte zudem eine offene städtische Gesellschaft, die diskursfähig ist, sich mit wichtigen Fragen, sich mit Kunst beschäftigt. Darüberhinaus fielen Begriffe wie Bildung und kulturelle Vielfalt. Aber wie man es dreht und wendet, es ging immer um die Stadt.
Jetzt aber ist es anders. Es ist nun einmal die Eigenschaft des Internets, dass in der Regel das, was in eben dieses eingespeist wird, auch am hintersten Ende der Welt wahrgenommen werden kann. Das ist schön. Das Problem dabei ist jedoch, dass die Kultur im Netz so, wie sie sich zurzeit präsentiert, den städtischen Raum offenkundig gar nicht mehr so recht im Auge hat. Die Online-Programme der Kulturinstitutionen wenden sich vielmehr gezielt an die gesamte Öffentlichkeit. So treten die Angebote überregional in Konkurrenz. Da ist es nicht überraschend, dass derjenige am stärksten ist, der sich am meisten leisten kann. Für kleinere Stadttheater, für Museen in den weniger großen Städten, für Orchester, die keine 100 oder sogar mehr Musikerinnen und Musiker haben, wird dieser Wettbewerb ruinös, vor allem solange die Angebote kostenlos bereitgestellt werden. Denn die Konkurrenz der Großen ist nicht mehr 500 Kilometer, sondern nur einen Mausklick entfernt. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn der Zuschauer statt gestreamt in „seinem Theater“ den „Hamlet“ oder „Die Zauberflöte“ live sehen könnte. Kann er aber (zumindest zurzeit ) nicht. Ob es darüberhinaus Sinn macht, dass sich die Theater in München und Berlin, die Orchester in Leipzig und Hamburg, die Museen in Köln und Dresden, also die Großstädte untereinander nicht mit ihrem jeweiligen Standort, sondern im Netz Konkurrenz machen, steht ebenfalls mehr als in Frage.
Wer sind die Zuschauer und was machen sie eigentlich?
Wird etwa eine Theateraufführung gestreamt, kann man zuweilen nachlesen: „Wir hatten mit einem Stream 5.000 Zuschauer und mehr, hätten wir mit einer Aufführung nie erreicht.“ Nun, das bleibt nicht aus, wenn man sich im Internet an die ganze Welt wendet, mag da mancher schulterzuckend denken. Doch die interessante Frage ist, wer diese Zuschauer sind. Überprüft wird das ja zurzeit kaum. Sind es wirklich die, die das Theater, das Museum, der Konzertsaal üblicherweise erreichen? Die, die für Abonnements, für die Eintrittskarten gutes Geld bezahlen? Oder sind es die Leute, die im Theater, im Museum oder als Musiker arbeiten, auch die, die sich anderweitig professionell um die Künste kümmern, die Rezensenten, Agenten, Galerien, Wissenschaftler oder gar die Politiker und Politikerinnen. Die, die sich vor allem dafür interessieren, was die anderen so treiben. Die Kultur-Profis eben. Sicher, das mag von Sparte zu Sparte unterschiedlich sein. Die Musik, die Oper finden gemeinhin eher allgemeines Interesse als das zuweilen etwas sperrige Programm im Schauspiel. Der Tanz hat seine eigene besondere Klientel. Werke der bildenden Kunst kann man auch im Netz bewundern. Dennoch ist die Gefahr, dass die Kultur sich im Digitalen um sich selber dreht, sich vor allem mit sich beschäftigt, weit größer als in dem jederzeit kontrollierbaren öffentlichen Raum, in dem die Kunst live stattfindet.
Aber unterstellen wir durchaus einmal, das Publikum brennt darauf, die Theateraufführungen, die Ausstellungen, die Konzerte en masse im Netz anzusehen und zu -hören. Wie trifft eigentlich der Zuschauer seine Entscheidung. Bisher ergab sich die Begrenztheit des Angebots aus der Lokalität, man ging vor Ort in die Kunstveranstaltungen, in Ausstellungen und Aufführungen. Die Zahl, die Auswahl waren überschaubar, es gab etwa im Konzert oder im Theater Abonnements mit acht oder zehn Aufführungen im Jahr. Hatte Oma Geburtstag und man „hatte Theater“, konnte man den Abend tauschen. Und nun? Man stelle sich nur mal vor, die rund 140 deutschen Stadt- und Staatstheater stellten jeweils nur fünf Produktionen im Jahr ins Netz. Schon dann hat jeder Zuschauer die Auswahl zwischen 700 Produktionen, dass sind fast zwei am Tag. Wie soll sich denn der normale Zuschauer da entscheiden? Und wie koordiniert die hoch interessierte Zuschauerin das mit ihren ansonsten vor dem Computer mit Zoom-Konferenz, Büroarbeit und dem Bestellen eines neuen Haartrockners zugebrachten Stunden.
Last but not least! Machen wir uns nichts vor, ins Theater, ins Museum und in den Konzertsaal gehen die Menschen selbstverständlich wegen der Kunst, aber nicht nur! Sie besuchen die Kultureinrichtungen auch wegen der Kommunikation. Zwei Freundinnen verabreden sich zum Besuch der neusten Beuys-Ausstellung, um danach darüber aber auch über dies und das zu sprechen. Andere freuen sich auf das Glas Sekt mit denen, die man ansonsten selten, aber immer im Theater oder im Konzertsaal antrifft. Ein Besuch in einer Kunstveranstaltung heißt auch immer fremde Menschen um sich zu haben, zu schauen, wen es in der Stadt so alles gibt und wer kulturinteressiert ist, Bekanntschaft mit Gleichgesinnten zu machen. Mit ihnen sitzt man ja Schulter an Schulter oder flaniert im öffentlichen Raum, hat die gleichen oder andere Gedanken, lässt sich im besten Fall durch die Kunst gemeinsam in eine andere Welt entführen. Der Bildschirm kann das alles nicht ersetzen. Wer glaubt, die Kunst alleine sei so interessant, dass sich alle mal eben ein paar weitere Stunden vor den Bildschirm klemmen, und zwar regelmäßig, der ist aus meiner Sicht ein wenig auf dem berühmten Holzweg.
Was sind die Inhalte und wie setzt man sie durch?
Es ist zudem doch nicht so, dass es in den elektronischen Medien an Angeboten fehlt. Wir können auswählen zwischen einer großen Zahl von Radio- und Fernsehprogrammen. Das gilt erst recht, wenn der Konsument die für den Rundfunk typischen Verbreitungswege (Kabel, terrestrisch) verlässt. Über Apps wie radio.de kann jeder auf zahllose Musikprogramme unterschiedlicher Art zurückgreifen. Hinzu kommen Streaming-Dienste wie spotify oder im audiovisuellen Bereich Netflix und Amazon Prime. Aber auch im klassischen Fernsehprogramm sind Konzerte und Opernübertragungen in hoher Qualität zu sehen. Erst recht herrscht dort kein Mangel an (mehr oder weniger guten) Fernseh- und Kinofilmen. Das alles wird genutzt. Jugendliche, aber auch Erwachsene vergnügen sich darüberhinaus bei Instagram oder Tik Tok. Nun kommen das Theater, das Museum, der Konzertsaal und alle Akteure glauben, der geschätzte Zuschauer beschäftige sich deshalb vorrangig mit der Frage, welches ihrer Streaming-Angebote er denn unbedingt sehen muss. Oder Besser: Mit welchem Streaming-Angebot er denn den Abend verbringen möchte. So einfach wird es nicht sein. Vielmehr wäre zu klären, wie sich die Kultureinrichtungen gegen die vorhandenen Angebote durchsetzen möchten, zumal diese sehr professionell und oft mit Millionen-Summen gestaltet werden. Bisher war es eben so, dass der Reiz im Liveereignis lag. Der Zuschauer und die Zuschauerin sahen das Original, nicht einen gefilmten Abklatsch der Wirklichkeit. Mit live lässt sich aber im Netzt nicht wuchern, selbst wenn das Konzert live gespielt wird, im Museum die Originale ausgestellt sind und die Performance tatsächlich im Moment der Übertragung auf der Bühne abläuft. Gut, einige lassen sich wirklich etwas einfallen, etwa das Theater Augsburg mit der VR-Brille. Gerade kam sie bei mir mit der Post, aufgespielt „14 Vorhänge“ von Heiner Müller. Wirklich Sehenswert! Aber ist dieses Hermetische, einsame Schauen die Zukunft? Ich habe Zweifel, dass das dauerhaft funktioniert, wenn die erste Faszination der virtual reality verflogen ist?
Umso mehr stellt sich die Frage nach den Inhalten, vor allem im Schauspiel. Wie besteht die Bühne im Netz, und zwar regelmäßig, gegen den „Tatort“, den „Bozenkrimi“ oder den „Bergdoktor“? Gegen „Crown, sowie täglich neue Serien? Immer wieder soll sich doch der Zuschauer für die Theateraufführung entscheiden statt für die irgendeine Netflix-Serie. Was setzt das Schauspiel der nach wie vor ungebrochenen Faszination der Zuschauer für die erzählte Geschichte entgegen? Erzählt es die besseren Geschichten? Oder wie zuletzt viel zu oft gar keine mehr? Kann das Theater mit künstlerischen Experimenten im Netz tatsächlich den Konkurrenzkampf bestehen? Oder greift der gebildete Zuschauer am Ende vom Netzangebot enttäuscht doch lieber zum Buch? Alles das darf niemand auf die leichte Schulter nehmen, der jetzt euphorisch die Zukunft der Kultureinrichtungen im Digitalen sieht.
Niemand redet im Übrigen über die Privattheater, über private Kabaretts oder die vielen kleinen Kulturveranstalter. Sie verfügen nicht wie etwa die Stadttheater oder die städtischen Museen und Orchester über mehrere Millionen Euro öffentliche Mittel, mit denen sie Hunderte von Mitarbeitern, unterstützt durch Kurzarbeitergeld, erst einmal weiterbezahlen können und sich, statt Bühnenbilder zu bauen, ein ausreichendes Video-Equipment zulegen. Haben wir eine Idee, wie diese privaten Kultureinrichtungen im Digitalen das Ganze überstehen sollen?
Was ist zu tun?
Versuchen wir es zunächst politisch zu greifen, welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Die digitalen Angebote müssen gebündelt und regionalisiert werden. Ziel dieser Angebote muss das städtische Publikum bleiben. Und es gilt das, was die Digitalbeauftragte des Staatstheater Augsburg, Tina Lorenz, in ihrem FAZ-Interview gesagt hat: „Wir wollen die Begegnung echter Menschen im realen Raum des Theaters verbinden mit dem Eintauchen in die virtuelle Welt….Aber zurzeit wollen wir die Möglichkeiten der VR nutzen, um überhaupt mit unserem Publikum in Verbindung zu bleiben.“ In diesen beiden Sätzen liegen zwei Kernaussagen: Erstens geht es für jede Kultureinrichtung um ihr Publikum, also das echte vor Ort, und zweitens ist das digitale künstlerische Produkt eine Ergänzung des realen. Aus alle dem ergeben sich folgende zu diskutierende Optionen:
- Alle Kultureinrichtungen einer Stadt (einschließlich der privaten Anbieter) sollten für ihre Stadt ein gemeinsames digitales Kulturangebot im Sinne eines lokalen Internet-Kulturkanals schaffen. Dass die Landesmedienanstalten auf der Grundlage des kürzlich in Kraft getretenen Medienstaatsvertrages neuen elektronischen Informationsangeboten mit public value höhere Prioritäten einräumen wollen, ist dafür ein ermutigendes Signal.
- Diese lokalen Kulturkanäle werden aus öffentlichen Mittel (teilweise auch aus den öffentlichen Zuschüssen der Kultureinrichtungen) finanziert und stehen den Bewohnern der Stadt, aber auch Hotels und ähnlichen Einrichtungen in der Stadt gegen eine festzulegende Nutzungsgebühr zur Verfügung.
- Jeder lokale Kulturkanal hat eine eigene Redaktion, die das Programm in Kooperation mit den Kultureinrichtungen selbstständig gestaltet. Die beteiligten Kultureinrichtungen bilden einen Beirat mit rotierender Mitgliedschaft.
- Darüberhinaus kann jede Kultureinrichtung im Zusammenhang mit dem Kauf eines Ticket für eine Liveveranstaltung oder den Museumsbesuch sowie den Abonnenten das Programm ergänzende digitale Angebote anbieten (z.B. Interviews, VR, ergänzende Videos).
- Neben der üblichen, der Information dienenden Internetseite der einzelnen Kultureinrichtung werden überregional nur vereinzelte digitale Angebote gemacht, die immer kostenpflichtig sind.
Digitalisierung der Kulturangebote ist eben mehr als Präsenz im Netz. Es ist wie alles andere auch ein Anliegen, das der politischen Gestaltung bedarf und zusätzliche Mittel erfordert. Das anzugehen ist das Gebot der Stunde, wenn man es mit dem digitalen Aufbruch ernst meint.
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