Was tun? Über Corona und die Möglichkeit, Theater und Konzertsäle wieder zu öffnen

Es geht voran. Die Geschäfte sind wieder geöffnet, die Museen wieder zugänglich, wenn auch mit Einschränkungen. Anfang Mai haben sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten auf weitere Lockerungen des Corona bedingten Lockdowns verständigt. Zum ersten Mal war auch von der Öffnung der Theater und Konzerthäuser die Rede. Das ist erfreulich, gehören sie doch zu den am stärksten betroffenen Einrichtungen. Aber die Frage ist: Wie könnte eine solche Öffnung aussehen?

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Um es gleich vorweg zu sagen: Ein Proben- und Vorstellungsbetrieb von Theatern und Konzerthäusern wird nur sinnvoll sein, wenn – bezogen auf die Mitwirkenden – zwischen der künstlerischen Gestaltung einer Veranstaltung und dem Gesundheitsschutz eine Abwägung erfolgt und keiner der beiden Aspekte absolut in den Vordergrund gestellt wird. Das entspricht auch der gesetzlichen Vorgabe des Arbeitsschutzgesetzes, dessen § 4 Nr. 1 fordert, dass Gefährdungen für Leben und Gesundheit der Mitarbeiter eines Betriebs „möglichst“ zu vermeiden sind, jedoch nicht davon ausgeht, dass die Arbeit in einer bestimmten, sachlich gebotenen Ausprägung zur Vermeidung einer solchen Gefährdung gar nicht stattfinden darf. Bezogen auf die Zuschauer ist zu bedenken, dass es sich bei einer Theater- oder Konzertveranstaltung um eine kollektive Veranstaltung handelt, deren Sinn das gemeinsame Erleben dessen, was auf der Bühne passiert, aber auch die persönliche Begegnung und der gedankliche Austausch sind. Das Theater ist und bleibt ein Diskursraum. Dies durch Auflagen komplett zu negieren, führt ein Konzert oder eine Theatervorstellung ad absurdum.

Die Verwaltungsberufsgenossenschaft und andere Empfehlungen

Mittlerweile gibt es einige Veröffentlichungen über eine Theater- oder Konzertarbeit in Corona-Zeiten, sie sind eher erschreckend und ernüchternd und führen praktisch dazu, dass Proben und Vorstellungen in Theatern und Konzerthäusern weiterhin kaum sinnvoll stattfinden können. Zu diesen Veröffentlichungen gehören etwa die Empfehlungen der Verwaltungsberufsgenossenschaft für die Branche Bühnen und Studios. Es wird darin undifferenziert gefordert, Inszenierungen so anzulegen oder gar zu überarbeiten, dass ein Abstand der Darsteller untereinander von 1,5 Metern, in bestimmten Fällen, etwa beim Singen, von 6 Metern eingehalten wird. Bläser sollen in Blasrichtung 12 Meter Abstand zur nächsten Person, in anderen Richtungen bis zu 3 Metern Abstand halten, hieß es zunächst. Jetzt ist nur noch von 2 bis 3 Metern die Rede. Pro an einer Probe beteiligter Person sollen mindestens 20 Quadratmeter Probenfläche zur Verfügung stehen. Für Regisseure werden 10 Quadratmeter gefordert, eine kaum sachkundige Vorgabe. Denn entweder befindet sich der Regisseur am Regiepult in einer der mittleren Reihen des leeren Parketts und die Frage ist allenfalls, wie viele Plätze beispielsweise der Regieassistent rechts und links neben ihm frei lassen soll. Oder der Regisseur ist mit auf der Bühne und probt dort mit den Darstellern, ohne in einer anderen Situation zu sein als die Darsteller selbst. 

In eine ähnliche stereotype Richtung gehen die Empfehlungen der Musikergewerkschaft DOV, die diese auf Ihrer Internet-Plattform orchesterland.wordpress.com veröffentlicht hat. Sie enthalten zwar einige detaillierte Vorschläge, die realisierbar und sinnvoll sind, bringen aber auch zahlreiche Einschränkungen für die Mitwirkenden und das Publikum mit sich, die den Theater- und Konzertbetrieb eher infrage stellen statt zu seiner Realisierung beizutragen. 

Das Risiko

„Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen wir als Gesellschaft einen Weg finden, mit dem vergrößerten Risiko zu leben“, hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann kürzlich in einem bemerkenswerten Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt. Das bedeutet nicht, einem fahrlässigen Umgang mit der Ansteckungsgefahr, die vom Corona-Virus ausgeht, das Wort zu reden. Aber am Anfang jeglicher Wiedereröffnung von Theatern und Konzertsälen muss eine sachgerechte Risikoeinschätzung stehen. Sie muss dann in Bezug gesetzt werden zur künstlerischen Gestaltung einer Veranstaltung. Am Ende wird man dabei feststellen, dass man zumindest bezogen auf die Mitwirkenden zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommt. 

Die Gefahr, dass jemand einem Infizierten begegnet, ist zurzeit eher gering, sie liegt angesichts von rund 10.000 Infizierten, die sich im öffentlichen Raum bewegen, weil sie noch nicht als an Corona Erkrankte identifiziert sind, bei etwa 1:8.000; d.h. statistisch gesehen ist jede 8.000. Person, der man begegnet, infiziert. Interessant wäre es zu wissen, wo denn die Ansteckungen regelmäßig erfolgen. Zurzeit sind Schlachthöfe der Hotspot. Dennoch halten sich nach wie vor alle Menschen bei der alltäglichen Begegnung in nie dagewesener Weise zurück, tragen Masken und sind weitgehend überaus vorsichtig, was richtig ist. Aber ist das eine Situation, in der eine den Kunstbetrieb lahmlegende Vorsicht bis hin zur ernsthaften Einschränkung der Kunstfreiheit geboten ist? Es ist ja gerade nicht das Ziel von staatlicherseits verordneten Einschränkungen, jegliche theoretisch mögliche Einzelinfektion mit dem Corona-Virus zu vermeiden, genauso wenig wie der Staat jeden Verkehrsunfall verhindern kann. Ziel des staatlichen Handelns ist es vielmehr, Masseninfektionen zu vermeiden. Das bedeutet konkret, je mehr Menschen sich wo auch immer näher kommen, je stärker wächst die Gefahr einer Ansteckungswelle und desto eher dürfen die staatlichen Behörden eingreifen, auch wenn keine konkret nachweisbare Gefahr besteht. 

Die Mitwirkenden

Zum Leichtsinn gibt es keinen Anlass. Aber wenn man die allgemeine Risiko-Lage zugrunde legt, dann muss man bezogen auf die Mitwirkenden zunächst einmal feststellen: Je geringer die Zahl der Mitwirkenden ist, desto geringer ist das Risiko der Ansteckung und desto weniger sind Einschränkungen staatlicherseits geboten. Das gilt umso mehr, wenn sich das Theater und die Mitwirkenden selbst mit der Frage des konkreten Risikos vor der Probe oder den Aufführungen beschäftigen; wenn außerhalb des Theaterbetriebs alle Mitwirkenden dafür Sorge tragen, dass sie sich möglichst nicht anstecken, um so ihre Kollegen und Kolleginnen nicht zu gefährden; wenn regelmäßig Corona-Tests bei den Mitwirkenden durchgeführt werden.  Konkret heißt das: Spielen beispielsweise Sandra Hüller und Jens Harzer in Bochum „Penthesilea“ als Zwei-Personen-Stück, dann hat sich der Staat oder eine Unfallversicherung mit irgendwelchen Corona-Auflagen herauszuhalten und nicht etwas über zu beachtende Abstände festzulegen. Erst recht nicht haben sie vorzuschreiben, ob bei einer Probe in der zwanzigsten Reihe des leeren Zuschauerraums ein Dramaturg sitzen darf, um der Probe beizuwohnen (, was die Verwaltungsberufsgenossenschaft meint untersagen zu müssen). 

Schwieriger wird die Situation, wenn die Anzahl der Mitwirkenden zunimmt. Auch da muss jedenfalls im Normalfall die Einschätzung des Risikos – zumindest in der augenblicklichen oben beschriebenen Risikolage – beim Theater selbst und bei den an der Produktion beteiligten Künstlern liegen und nicht bei irgendwelchen Fachbeamten, die sich ums Theater oder die Musik noch nie gekümmert haben. Sicherlich, die Situation wird schwieriger, wenn Chor und Orchester beteiligt sind. Da wird man nachdenken müssen über kleinere Besetzungen, besondere Schutzmaßnahmen (z. B. aufgestellte Plexiglasscheiben vor den Bläsern) oder auch mal über die Zuspielung des Chors aus dem Off unter Einspielung einer auf die Szene Bezug nehmenden Video-Installation. Auch sonst wird es die eine oder andere Rücksicht der Inszenierung auf die bestehende Situation geben müssen, ohne dass der Zuschauer unbedingt etwas davon merkt. Die Quintessenz aber ist: Es verbietet sich bei der Wiedereröffnung eines Theaters oder eines Konzertsaals mit Rücksicht auf die Freiheit der Kunst jede stereotype Vorgabe für den künstlerischen Betrieb. Das schließt natürlich nicht aus, dass bestimmte Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen dort, wo sie sinnvoll sind, ergriffen werden.

Das Publikum

Angesichts des beschriebenen Risikos wird man auch hinsichtlich des Publikums gelassener sein können. Überhaupt wäre es beruhigend, wenn der Staat ein wenig mehr auf die Vernunft des mündigen Bürgers setzen würde. Es treffen ja in Theater und Konzertsaal nicht wie im Fußballstadion jubelnde, schreiende und feiernde Menschenmassen aufeinander. Sicher gebietet sich das Tragen von Masken auf dem Weg vom Eingang des Theaters oder des Konzertsaals zum Sitzplatz und zurück. Ob ein Pausenbuffet stattfinden kann, wird letztlich von der Anzahl der Menschen im Saal und der Größe der Foyers abhängen. Schon bei den letzten beiden Opernpremieren in Frankfurt und Bonn, die ich unmittelbar vor dem Lockdown besucht habe, haben nahezu alle bei der Premierenfeier Abstand gehalten, obwohl der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war. Und die Besetzung des Saals: Da wird es interessant sein, was sich der Staat bei der Nutzung von Zügen und Flugzeugen einfallen lassen wird. Nach meinem Eindruck empfiehlt es sich, bis dahin nur jede zweite Reihe zu besetzen, dafür aber in der besetzten Reihe einen Platz, allenfalls zwei Plätze Abstand zwischen den einzelnen Zuschauern zu belassen. Und wer sich zusätzlich schützen will, kann ja auch während der Vorstellung eine Maske tragen. Man kann dann zu Erleichterung des Platzzugangs jede zweite Reihe ausbauen. Wenn das nicht geht oder zu viel Aufwand ist, muss man die jeweilige zu besetzende Reihe nicht mit festen Plätzen verkaufen, sondern nur mit Festlegung der Reihe. Der erste Zuschauer, der dann die von ihm gebuchte Reihe betritt, geht bis zur Mitte durch, die nachfolgenden setzen sich mit einem Platz oder zwei Plätzen Abstand dann auf die folgenden Plätze, wer zuletzt kommt, sitzt am Gang. 

Die Aussichten

Wer angesichts solcher Umstände und teilweise noch extremerer Hygiene-Bedingungen von einer Öffnung der Theater und Konzertsäle spricht, wie es leichtfertig der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in der vergangenen Woche für notwendig befunden hat, ist entweder naiv oder macht sich und anderen etwas vor.  Das, was zurzeit in diesen Einrichtungen möglich ist, sind allenfalls Notlösungen, die einzelne Vorstellungen vor je nach Größe des Saals einer mehr oder weniger geringen Zahl von Zuschauern erlauben. Solche Vorstellungen kann jedes Theater dann einige Male anbieten, jedoch ohne auch nur annähernd die Produktionskosten gedeckt zu bekommen, vor allem in der Oper. Sie müssen nämlich, soweit es nicht um das angestellte Personal geht, sondern um das Regieteam, die Bühnen- und Kostümbildner, die Urheberabgaben und vieles mehr von den Theatern selbst durch Kasseneinnahmen erwirtschaftet werden. Da reicht ein zu 20 Prozent gefüllter Saal keineswegs. Das gilt erst recht für Privattheater, die weit höhere Einnahmen erzielen müssen. Und überhaupt: Was immer gespielt wird, letztlich ist ein volles Theater ein gutes Theater. Theater und Konzertsäle öffnen im echten Sinne, das wird es erst geben, wenn die Corona-Krise so oder so gelöst ist. Deshalb ist es kein Zufall, dass das Theater in Ulm bereits entschieden hat, das Abonnement der Zuschauer auch in der Spielzeit 2020/21 (ja 2020/21!) komplett zum Ruhen zu bringen. Es gibt also doch noch Realisten, selbst in der Kunst. Schön wäre es, wenn es sie in der Kulturpolitik des Bundes auch gäbe und man endlich ein spezielles Hilfsprogramm für die Künstlerinnen und Künstler, die durch die Corona-Krise beschäftigungslos geworden sind, auflegte, das seinen Namen verdient. Bisher erschöpft sich die Initiative beim Bund vor allem in guten Worten und Ankündigungen.

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