Wie geht es eigentlich Hamlet? Über Kulturpolitik und gesellschaftliche Verantwortung

Seit Monaten gibt es eine intensive Diskussion über die soziale Lage der Künstler. Initiativen wie „art but fair“ oder „Ensemble Netzwerk“ genießen höchste Aufmerksamkeit. Ihre Forderungen müssen in einem kulturpolitischen Zusammenhang gesehen werden. Der Artikel wurde im Mai 2017 in leicht veränderter Fassung im Diskussionsforum „kreuz und quer“ veröffentlicht.

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„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit,“ hat Karl Valentin einmal gesagt. Dieser Satz wird gern zitiert, leider jedoch ohne sich über seine Schattenseite allzu viele Gedanken zu machen. Die Lust an der sinnlichen Wahrnehmung steht für uns, die sich mit Kunst befassen und auseinandersetzen, im Vordergrund. Und wenn wir uns doch einmal interessieren für den Menschen hinter dem Kunstwerk, dann sehen wir am liebsten den Bonvivant, den Lebenskünstler wie Picasso, oder dass eher verrückte Genie wie Salvatore Dali. Allenfalls das abgeschnittene Ohr eines van Gogh gibt uns zu denken. Dass am ehesten die Assoziation des arme Poeten à la Spitzweg nahe läge, wird gerne verdrängt, im Zweifelsfall noch romantisch verklärt. In der täglichen kulturpolitischen Rezeption des künstlerischen Schaffens trifft man sogar auf die wohl mehr als gewagte These, erst ein armer Künstler sei ein guter Künstler.

Nun mag man sagen, der Maler, der Bildhauer und der Schriftsteller hätten es ja noch leicht. Schließlich arbeiten sie alleine, brauchen nur ihr Material oder den die klassische Schreibmaschine heute ersetzenden Computer. Ganz so einfach ist es nicht. Nicht nur, dass auch dies Geld kostet. Es geht zudem um Platz für Ateliers, um Ausstellungs- und Ankaufetats von Museen, um Künstlerförderung im weitesten Sinne. Und schon wird deutlich, dass Kulturpolitik, gleichgültig ob die es Bundes, der Länder oder der Kommunen, eben doch ganz oft die mal mehr, mal weniger gescheite Verteilung von öffentlichen Mitteln bedeutet. Erst recht gilt das, wenn wir uns vom künstlerischen Schaffen im Sinne eines Schöpfungsaktes des Einzelnen hinwenden zur überwiegend im Kollektiv entstehenden darstellenden Kunst einschließlich der Musik. Man könnte es auch so sagen: Weder hat Wagner beim Komponieren des „Lohengrin“ noch Mussorgskij bei seinem „Boris Godunow“ darüber nachgedacht, was die Aufführung einer großen Choroper im 21. Jahrhundert kostet, und es ist hinzuzufügen, Gott sei Dank haben sie das nicht. Selbst Shakespeares „Sommernachtstraum“ fordert die Besetzung von fast 20 Rollen und eine halbwegs gut ausgestattete Tanzkompanie verfügt über Tänzer in gleicher Anzahl.

In den letzten 20 Jahren bekam man zuweilen den Eindruck, dass Kulturpolitik weniger in der Verteilung, denn in der Kürzung von öffentlichen Mitteln für die Kunst bestand. Schon lange müssen sich viele städtische und staatliche Museen ihren Ankaufsetat auf dem Markt der privaten Geldgeber selbst besorgen oder eine auf den ersten Blick großzügige Schenkung einer privaten Sammlung akzeptieren, an deren Gestaltung sie keinen Anteil hatten. Künstler erhalten kaum noch eine Ausstellungsvergütung, obwohl das Ausstellungsrecht ein Urheberrecht ist, für dessen Verwertung das maßgebende Urheberechtsgesetz einen unabdingbaren Anspruch auf angemessene Vergütung vorsieht. Und wie geht es eigentlich Hamlet? Nun, wenn der ihn darstellende Schauspieler an einem der vielen kleinen Stadttheater tätig ist, dann verdient er etwa 2.000 Euro im Monat, brutto versteht sich, und Hamlet ist eine seiner sechs Rollen, mit denen er zurzeit auf der Bühne steht, zusätzliche Proben natürlich ausgenommen. Dass er Künstler ist, ja sogar ein Freiheitsrecht für sich in Anspruch nehmen darf, ist ehrenvoll und stärkt sein Selbstbewusstsein, nützt aber wenig.

An dieser Stelle begegnet der kulturpolitisch aktive Zeitgenosse dann dem unausweichlichen Einwand, der öffentlichen Hand fehle es an Geld, Kultur sei außerdem eine freiwillige Aufgabe. Man kann diesem Einwand bereits begegnen mit in ihm selbst liegenden Gegenargumenten: Wofür wird nicht alles viel Geld ausgegeben und wieso kann man bei den Pflichtaufgaben nicht sparen? Schließlich fließt nur etwa ein Prozent der öffentlichen Ausgaben in Kunst und Kultur. Entscheidend sind aber wohl die gesellschaftspolitischen Fragen, die sich stellen, etwa was die Zukunft der Stadt ist. … Begriffe wie Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt , Kreativität, Erhalt des kulturellen Erbes, Gestaltung des öffentlichen Raums und Inklusion stehen im Mittelpunkt des Diskurses. Wann war das alles je wichtiger als heute in den Zeiten eines unerträglichen Rechtspopulismus? Es geht darum, die Diskursfähigkeit der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, ja auch ihre Demokratiefähigkeit. Es geht darum, der Isolation des Einzelnen entgegenzuwirken, ihn in den öffentlichen Raum zurückzuholen. Und es geht darum, die Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenzuführen. Dass das alles Aufgabe der öffentlichen Kultureinrichtungen ist, das haben diese schon lange verstanden, wenngleich das nicht bedeuten kann, dass sie ihre ureigenste Aufgabe, die der Kunstvermittlung, aus den Augen verlieren dürfen. Jedenfalls aber verlassen sie ihren zentralen Raum und öffnen sich in die Stadt, gestalten künstlerisch-soziale, auch pädagogische Projekte, veranstalten Bürgertheater. Das alles zu fördern und zu pflegen ist Kulturpolitik in gesellschaftlicher Verantwortung

Doch Kulturpolitik in gesellschaftlicher Verantwortung heißt auch, der schon gestellten Frage nach den sozialen Rahmenbedingungen für die Kunst nachzugehen. Bei den Kürzungen öffentlicher Zuwendungen etwa für ein Stadttheater gerät gerne aus dem Blick, dass jede dieser Kürzungen auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen wird. Weniger Geld für ein Theater heißt für die dort beschäftigten Schauspieler, Sänger, Tänzer und anderen künstlerisch Beschäftigten weniger Arbeitsplätze, mehr arbeiten und weniger verdienen. Das ist anderswo zwar nicht anders, aber, soweit es um öffentliche Einrichtungen, also den Staat im weitesten Sinne geht, auf einem bei weitem höheren und stabileren Gehaltsniveau, zumindest aber meist mit unbefristeten Arbeitsverhältnissen, über die kein darstellender Bühnenkünstler verfügt. Denn er oder sie werden wegen der Freiheit der Kunst ausschließlich befristet beschäftigt. Gerade das sollte Stadt und Staat veranlassen, sie vor allzu großen finanziellen Einbußen zu schützen.

Die Frage ist, was hilft? Nun, zunächst die ausreichende Finanzausstattung vor allem für die Kommunen, die den größten Anteil der öffentlichen Kulturförderung tragen. Sie brauchen ausreichende finanzielle Mittel, um ihre soziale und kulturelle Infrastruktur zu finanzieren, auch im Bereich der freiwilligen Aufgaben. Denn die Stadt lebt nicht allein von ihrem gut funktionierenden Einwohnermeldeamt, sondern insbesondere von den Dingen, die ihre Lebensqualität ausmachen. Das sind Kultureinrichtungen, Sportanlagen, Freizeitangebote jeder Art, aber auch gute und gut ausgestattete Schulen und Kindergärten. Dafür brauchen wir in der Politik eine neue Debatte über die Prioritäten politischen Handelns. „Zuletzt: Kultur“, wie einmal unter Anspielung auf die Tagesordnung von Berliner Kabinettssitzungen das Buch eines früheren dortigen Kultursenators hieß, ist die falsche Priorität. Ebenso wenig nutzt es etwas, wenn politische Parteien auf Bundesebene die Bedeutung von Kultur und Bildung hervorheben, um dann auf Landesebene oder in der Kommune scharfe Sparbeschlüsse für diese Bereiche zu fassen. Nein, wollen wir unsere Position in der Welt behaupten, bedarf es der Investition in das Denken, in die Phantasie und die Kreativität. Deutschland ist heute ein rohstoffarmes Land, es hat vor allem eine Ressource, das ist der Kopf der Menschen. In ihn zu investieren lohnt sich. In jeder Hinsicht.

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