Schluss mit dem Hin und Her! Theater und Konzertsäle brauchen mehr Rechtssicherheit im öffentlichen Raum!

Immer mehr frage ich mich, welche Rolle eigentlich Verwaltungsjuristen beim Erlass so mancher Corona-Verordnung spielen. Fühlen sie sich ausschließlich als Vollzugsorgan der politischen Vorgaben und haben sämtliches kritische Denken eingestellt? Nur so lassen sich die zahlreichen Entscheidungen, mit denen Gerichte zunehmend die Verordnungen oder Teile davon kippen, noch erklären. Auch das politische Bewusstsein für das richtige Maß zwischen Gesundheitsschutz und Wahrung der Rechtsordnung scheint mit den steigenden Infektionszahlen offenkundig auf dem Sinkflug. Es ist daher, auch angesichts des neusten Lockdown, an der Zeit, noch einmal einigen juristischen Corona-Problemen nachzugehen.

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In der Veranstaltungsbranche steigen Hektik und Unübersichtlichkeit. Zunächst verfügte die Landesregierung von NRW, dass mehr als 20 Prozent der in einer Veranstaltungsstätte zur Verfügung stehenden Plätze nicht mehr besetzt werden dürfen, nahm diese Regelung aber nach Protesten der Betroffenen wieder zurück. In Baden-Württemberg wurde öffentlich bekannt gegeben, es seien bei Veranstaltungen nicht mehr als 100 Teilnehmer zugelassen. Bei genauem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass es für kulturelle Veranstaltungen die Teilnahme von 500 Personen erlaubt waren. NRW hingegen ließ nur 250 Personen in den Saal, hierzulande ist der Virus offenkundig aktiver. In der Bevölkerung entstand so schon vor dem neusten Lockdown der Eindruck, es sei hochgradig gefährlich, ein Theater oder einen Konzertsaal aufzusuchen. Den Rest besorgte die Bundeskanzlerin persönlich, indem sie die Menschen aufforderte, möglichst zu Hause zu bleiben, oder der NRW-Ministerpräsident mit seiner Feststellung, Kultur sei ein „Privatvergnügen“. Das Durcheinander war gar nicht mehr zu überbieten. Jetzt wieder eine komplette Schließung, angeblich bis Ende November. Ob Theater und Konzertsäle dagegen klagen oder nicht, es stellt sich zunehmend die Frage nach der Rechtslage.

In seinem Beschluss vom 15. Oktober 2020 (AZ: 1 S 3156/20) hat der Verwaltungsgerichtshof (VGH) von Baden-Württemberg das dortige coronabedingte Beherbergungsverbot vorläufig außer Vollzug gesetzt. Das ganze sei nicht verhältnismäßig und deshalb rechtswidrig. In anderen Bundesländern haben andere Gerichte ähnlich entschieden. Schaut man sich an, womit sich der VGH in dieser und weiteren Entscheidungen befasst hat, dann stellen sich vier interessante Fragen:

1. Darf man gegen sogenannte Nichtstörer vorgehen?

Prinzipiell befinden wir uns mit dem Infektionsschutzgesetz im Polizei- und Ordnungsrecht. Dort gibt es einen sehr einfachen Grundsatz: Ist die öffentliche Ordnung gestört oder besteht die Gefahr, dass sie gestört wird, darf der Staat gegen denjenigen, der die Störung verursacht oder verursachen könnte, den sogenannten Störer, vorgehen. Beim Infektionsschutz ist der Störer der an Corona erkrankte Mensch, der jemand anderen anstecken kann. Ihn können die staatlichen Behörden aus dem Verkehr ziehen, also etwa in Quarantäne schicken. Da das aber nicht ausreichen wird, um die Pandemie einzudämmen, stellt sich die Frage, ob der Staat auch gegen den Nichtstörer vorgehen darf. Die Frage beantwortet der VGH eindeutig mit ja und beruft sich dabei auf frühere Entscheidungen des VGH und eine Masern-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus 2012 (AZ: 3 C 16/11). So kann der Staat anordnen, dass wir alle, auch wenn wir gesund sind, also keine Störer, in der Öffentlichkeit einen Mund- und Nasenschutz tragen müssen und Abstand zueinander zu halten haben.

Schwieriger wird die Frage des Vorgehens gegen den Nichtstörer, wenn es sich dabei gar nicht um einen gefährdenden oder gefährdeten Menschen handelt, sondern um eine Institution, in der sich Menschen treffen. Beim Beherbergungsverbot muss man sich allerdings fragen, wer denn als Nichtstörer überhaupt von diesem Verbot betroffen ist, das Hotel und die Pension oder der zu Beherbergende. Interessant ist, dass gegen das Beherbergungsverbot in Baden-Württemberg ein potentieller Gast geklagt und den Prozess gewonnen hat. Letztlich geht der VGH aber wohl richtigerweise davon aus, dass beide als Nichtstörer Adressaten des Beherbergungsverbots sind.

Das Gericht hat jedoch schon einige Mühe, dieses Verbot aus dem einschlägigen Infektionsschutzgesetz herzuleiten. Denn § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) erlaubt es den staatlichen Behörden eigentlich nur im Falle der Erkrankung oder eines konkreten Verdachts der Erkrankung ausschließlich dem Betroffenen zu verbieten, einen bestimmten Ort zu betreten. Zudem können Veranstaltungen verboten oder eingeschränkt werden, um den Zugang von Erkrankten oder Krankheitsverdächtigen zu verhindern. Eine präventive Zugangsbeschränkung für öffentliche Räume durch nicht Erkrankte oder nicht Krankheitsverdächtige ist dort ebenso wenig vorgesehen wie gar die präventive Schließung etwa eines Hotels bzw. eines Theaters oder eines Konzertsaals. Der VGH leitet diese Berechtigung zu solchen Maßnahmen deshalb aus dem in den §§ 16 und 28 IfSG niedergelegten Willen des Gesetzgebers ab, den staatlichen Organen die zur Eindämmung der Pandemie notwendigen Schritte zu ermöglichen, was aber angesichts der klaren Regelung des § 28 Abs. 1 IfSG nicht der juristischen Kühnheit entbehrt. Denn man entnimmt dem Gesetz etwas ab, was so gar nicht dort geregelt ist.

2. Darf durch Maßnahmen der Pandemieprävention in Grundrechte eingegriffen werden?

Auch diese Frage bejaht der VGH und zwar auch für Grundrechte, die nicht ausdrücklich als einschränkbar in § 32 IfSG genannt werden. Für diese Rechtsauffassung muss sich das Gericht gleichfalls ein wenig nach der Decke strecken. Bei der Beherbergungsverbotsentscheidung hatte das Gericht es allerdings leicht. Der Gast hatte gegen das Beherbergungsverbot geklagt, weil er sich in seinem durch Art. 11 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierte Recht der Freizügigkeit (irgendwo hinzureisen und zu übernachten) eingeschränkt sah. Das Grundrecht wird als einschränkbar in § 32 IfSG ausdrücklich genannt und steht nach Art 11 Abs. 2 GG ebenso ausdrücklich unter dem Gesetzesvorbehalt; man darf nach diesem Absatz 2 etwa zur „Abwendung einer Seuchengefahr“ mit einem Gesetz in das Grundrecht der Freizügigkeit eingreifen. Bei der Einschränkung der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG tat sich der VGH in seiner Entscheidung vom 9. April 2020 (AZ: 1 S 925/20) schon schwerer. Bedenkt man nun, dass die Auflagen für Theater und Konzertsäle teilweise auf komplette Berufsverbote von Künstlern hinauslaufen, die sich zudem auf die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG berufen können, dann wird ersichtlich, wie sorgfältig die den Kunstbetrieb einschränkenden Corona-Maßnahmen geprüft werden müssen. Dies gilt umso mehr, als die Einschränkung von Art. 5 GG weder in § 32 IfSG vorgesehen ist noch die Kunstfreiheit unter irgendeinem grundgesetzlich vorgesehenen Gesetzesvorbehalt steht. In sie darf nur unter sehr speziellen Bedingungen etwa der Verletzung anderer und höherrangiger Grundrechte oder von wichtigen verfassungsrechtlich geschützten Werten eingegriffen werden. Die Hürden für solche Eingriffe sind also hoch, um nicht zu sagen sehr hoch.

Das wirkt sich nicht nur bezogen auf die nicht mehr oder nur in geringem Umfang zum Einsatz kommenden Künstler aus. Es wirkt sich auch auf das Theater und den Konzertbetrieb selbst aus. Deren künstlerische Aktivitäten werden erheblich eingeschränkt. Es kann nicht gespielt werden, was gespielt werden sollte. Spielpläne werden geändert, die Spielweise muss Coronabedingungen angepasst werden. Zudem wird das Publikum durch die Zugangsbeschränkung eines Theaters oder eines Konzertsaals an der Kunstwahrnehmung gehindert, was zwar keine Einschränkung der Kunstfreiheit zur Folge hat – der Zuschauer ist bezogen auf die Kunstfreiheit kein Grundrechtsträger –, aber eine Einschränkung der genauso durch das Grundgesetz geschützten (Art. 2 Abs. 1 GG) freien Entfaltung der Persönlichkeit darstellt. Da gibt es ebenfalls keinen Gesetzesvorbehalt, sondern nur die (höherwertigen) Rechte anderer, das allgemeine Sittengesetz (was immer das genau ist?) oder die verfassungsgemäße Ordnung als Schranke.

Im Zusammenhang mit der Einschränkung von Grundrechten wird als anderweitiges zu schützendes Recht in der Regel die in Art. 2 Abs. 2 körperliche Unversehrtheit dem jeweiligen Grundrecht (Freizügigkeit, Kunstfreiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit ) entgegengesetzt. Das geschieht mit der Annahme, die körperliche Unversehrtheit habe gegenüber den anderen Grundrechten den absoluten Vorrang. Dies ist aber weder rechtlich noch tatsächlich der Fall. Als rechtliches Beispiel lässt sich das Rauchen auf der Bühne im Rahmen der künstlerischen Gestaltung einer Bühnenrolle nennen. Hier gebührt der Kunstfreiheit eindeutig der Vorrang, die geringfügige Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einzelner Zuschauer muss dahinter eindeutig zurückstehen. Als praktisches Beispiel ist das Autofahren zu nennen. Hier gibt die Rechtsordnung der Freizügigkeit (sich mit dem PKW zu einem anderen Ort zu begeben) den absoluten Vorrang vor der Gefahr für die körperliche Unversehrtheit, die mit dem Autofahren verbunden ist.

3. Sind die vom Staat getroffene Corona-Maßnahme verhältnismäßig?

Hier sagt der VGH Baden-Württemberg bezogen auf das Beherbergungsverbot eindeutig nein. Dies gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass es dem Land Baden-Württemberg nicht gelungen ist, nachzuweisen, dass mit der Beherbergung von Menschen aus einem Krisengebiet grundsätzlich eine besondere Ansteckungsgefahr verbunden ist. Dabei geht es nicht um die Frage, ob ein Hotel die Beherbergung eines Erkrankten oder einer Person, die sich in Corona-Quarantäne befindet, ablehnen kann und sogar muss. Es geht vielmehr darum, dass präventiv die Beherbergung von Menschen aus Risikogebieten untersagt wird, solange sie nicht nachweisen, dass sie nicht infiziert sind, was sie im Übrigen auch durch einen bis zu zwei Tage alten Corona-Test nicht eindeutig können. Es ist letztlich dieses präventive Denken des Verordnungsgebers im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung das Problem. 

Bedenkt man nun, dass es im Theater und im Konzertsaal um das viel deutlicher durch das Grundgesetz geschützte Grundrecht der Kunstfreiheit geht, sind Corona-Maßnahmen, die sich gegen einen Kunstbetrieb richten, viel stärker auf die Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen. In der Quintessenz heißt das, dass die Einschränkungen für ein Theater oder einen Konzertsaal eher schwieriger sind als ein Beherbergungsverbot, zumal auch von diesen Kultinstitutionen bisher ebenfalls kein besonderes Infektionsrisiko für das Publikum ausgeht.

4. Was ist zu tun?

Grundsätzlich ist bei den Corona-Maßnahmen ein rechtliches Umdenken erforderlich, will man weitere gerichtliche Niederlagen vermeiden. Ein solches Umdenken zeichnet sich in den vergangenen Wochen auch durchaus ab und liegt in einem vollständig anderen Ansatz. Der Schutz der Menschen vor der Ansteckung muss zunächst im Steuern des individuellen Verhaltens liegen. Um es wieder an einem Alltagsbeispiel deutlich zu machen: Wenn eine Straße oder eine Kreuzung besonders gefährlich ist, dann sperre ich nicht die Straße oder die Kreuzung, sondern stelle Verkehrsregeln auf, an die sich die Verkehrsteilnehmer halten müssen, um Unfälle zu vermeiden. So etwa ist es auch bei Corona. Das heißt: 

  • Absolute Maskenpflicht im öffentlichen Raum, sobald der dortige Aufenthalt mit der Begegnung von Menschen verbunden ist.
  • Jedenfalls im öffentlichen Raum Einhaltung einer angemessenen Entfernung zu anderen (mit Maske mindestens ein Meter). 
  • Verzicht auf die Maskenpflicht im öffentlichen Raum nur, wenn man sitzt, und zwar in angemessener Distanz (nach dem jetzigen Stand der Erkenntnisse eineinhalb Meter) zu anderen.
  • Alle Unternehmen und Institutionen, die ihre Räume der Öffentlichkeit zugänglich machen, sind verpflichtet, mit Hygienekonzepten dafür Sorge zu tragen, dass die genannten Auflagen eingehalten werden.

Diese Auflagen werden kaum an der Rechtsprechung scheitern, jedenfalls nicht, wenn sie eindeutig formuliert werden, sind aber dennoch effektiv. Den Theatern und Konzertsälen ermöglichten sie, enger besetzte Bereiche mit Maskenpflicht, abstandsintensivere Bereiche ohne Maskenpflicht anzubieten, auch während einer Vorstellung (z.B. Parkett mit Maske und kleinerem Abstand, erster Rang ohne Maske und größerem Abstand). Gastronomie (z.B. Pausenbuffet) und Premierenfeiern würden ohnehin entfallen, da sie mit Maske keinen Sinn machen. Kabarette könnten an Tischen (unter Abstandswahrung) während der Vorstellung gastronomische Angebote machen. Höchstgrenzen für Veranstaltungen wären nicht erforderlich. Auch private Stehpartys im öffentlichen Raum wären schon stark eingeschränkt, denn wer Maske trägt, kann ja nichts trinken., auch kein Alkohol. Gegebenenfalls wäre hier vorsorglich noch eine zahlenmäßige Beschränkung von privaten Treffen im öffentlichen Raum erforderlich, wenn regional die Infektionszahlenahlen stark steigen. Im schlimmsten Fall kämen noch Ausgangssperren ab 23 Uhr in Betracht, das würde Gaststätten und Restaurants nicht völlig lahmlegen und Theateraufführungen und Konzerte in einem gewissen Umfang ermöglichen. 

Ob das alles reicht, kann keiner sagen. Es wäre aber rechtlich ein angemessener Ausgleich zwischen dem Gesundheitsschutz und anderen schützenswerten Rechten. Vielleicht sollte man einfach mal so verfahren und es bundesweit konsequent ein paar Monate durchhalten. Dazu gehört auch, die getroffenen Maßnahmen strenger als bisher zu kontrollieren und Verstöße dagegen zu ahnden. Dann kämen wir vielleicht weiter als mit dem hektischen Hin und Her, das zurzeit die Bekämpfung des Infektionsgeschehens beherrscht.

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